VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Beschluss vom 25.06.2014 - 9 L 465/14.A - asyl.net: M22082
https://www.asyl.net/rsdb/M22082
Leitsatz:

Die Verlängerung der Überstellungsfrist in Dublinverfahren tritt nicht automatisch ein, sondern setzt eine aktenkundig zu machende Entscheidung des Bundesamtes und die Unterrichtung des zuständigen Mitgliedstaates hierüber voraus.

Schlagwörter: Überstellungsfrist, Dublinverfahren, Hemmung der Frist, Eilverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Fristverlängerung, Entscheidung, aktenkundig, Verfahrensfehler, subjektives Recht, Übergang der Zuständigkeit, Unterrichtung,
Normen: VO 343/2003 Art. 20 Abs. 1 Bst. d, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 2 S. 1, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Beachtlich veränderte Umstände folgen jedoch daraus, dass, wie von der Antragstellerin auch vorgetragen worden ist, die Überstellungsfrist nach Art. 20 Abs. 1 Buchst. d), Abs. 2 Satz 1 der hier noch anwendbaren Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (Dublin II-VO) (vgl. gleichgerichtet Art 29 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 Dublin III-VO) inzwischen abgelaufen ist und eine beachtliche Fristverlängerung für die Überstellung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO) vom Gericht nicht festgestellt werden kann. Damit ist mittlerweile nicht mehr die Republik Italien, sondern die Antragsgegnerin für die Prüfung des Asylgesuchs der Antragstellerin zuständig.

Die regelmäßige Überstellungsfrist von sechs Monaten nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO begann - wovon auch die Antragsgegnerin ausgeht - mit Ablauf der zweiwöchigen Frist des Art. 20 Abs. 1 Buchst. b) letzter Satz Dublin II-VO, innerhalb der sich die Republik Italien nicht zu dem auf Treffer im Eurodac-System gestützte Wiederaufnahmegesuch der Antragsgegnerin vom 26. November 2013 geäußert hat, hier mithin am 10. Dezember 2013. Die Überstellungsfrist lief damit am 10. Juni 2014 ab. Das seinerzeit durchgeführte gerichtliche Eilverfahren hat auf den Lauf der Frist keine Auswirkungen gehabt.

Zwar sieht Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO vor, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist unter bestimmten Umständen verlängert werden kann, hier insbesondere auf höchstens achtzehn Monate, wenn der Asylbewerber flüchtig ist. Insoweit unterliegt es bereits Zweifeln, ob im Falle der Antragstellerin von einem solchen Flüchtigsein gesprochen werden kann. Sie hat nach dem Inhalt der beigezogenen Ausländerakte zwar am 25. Mai 2014 (einen Tag vor dem geplanten Überstellungstermin) das Krankenhaus, in das sie sich zuvor begeben hatte, mit unbekanntem Ziel verlassen und will sich danach nach eigenen Angaben in den folgenden Tagen außerhalb des ihr gestatteten Aufenthaltsbereichs aufgehalten haben. Sie war deshalb am 26. Mai 2014 zur Festnahme ausgeschrieben worden. Am 10. Juni 2014 ist sie dann jedoch wieder bei dem Bürgermeister der Stadt Coesfeld wegen der Gewährung von Leistungen vorstellig geworden mit der Angabe, sich vom 26. Mai bis 5. Juni 2014 in Dortmund bei einer ihr unbekannten Person aufgehalten zu haben. Ob dieser Geschehensablauf das Merkmal eines "Flüchtigseins" ausfüllt, mag letztlich offen bleiben. Denn jedenfalls lässt sich weder der Antragserwiderung der Antragsgegnerin noch den dem Gericht vorliegenden umfangreichen Verwaltungsvorgängen einschließlich der Ausländerakte entnehmen, dass eine Verlängerung der Überstellungsfrist über den 10. Juni 2014 hinaus in beachtlicher Weise durch die Antragsgegnerin bewirkt worden ist. Wie auch aus Art. 9 Abs. 2 der VO 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur VO (EG) 343/2003 des Rates in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 zu entnehmen ist (vgl. auch Marx, Änderungen im Dublin-Verfahren nach der Dublin III-Verordnung, ZAR 2014 S. 12 m.w.N.), tritt die Fristverlängerung auch bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen nicht etwa automatisch ein. Sie setzt vielmehr neben einer aktenkundig zu machenden Entscheidung der Antragsgegnerin (eine solche mag in der Mitteilung an das Ausländeramt vom 26. Mai 2014 zu sehen sein) jedenfalls auch voraus, dass die Antragsgegnerin entsprechend ihrer Verpflichtung, innerhalb der noch offenen sechsmonatigen Frist den zuständigen Mitgliedsstaat darüber unterrichtet. Eine solche Unterrichtung der Republik Italien - und zwar bis zum 10. Juni 2014 - kann nicht festgestellt werden. Das Gericht muss dabei für das Eilverfahren von der Vollständigkeit der ihr anforderungsgemäß von der Antragsgegnerin vorgelegten Verwaltungsvorgänge ausgehen. Diese - und die ergänzend angeforderten Akten der Ausländerbehörde - zeigen eine solche Unterrichtung nicht auf. Entsprechende Nachweise beizubringen wäre auch im Hinblick auf die hierauf bezogene Rüge in der Antragsschrift für die Antragsgegnerin veranlasst gewesen. Dies gilt umso mehr, als das Ausländeramt dem Gericht noch unter dem 20. Mai 2014 mitgeteilt hat, dass die Antragstellerin nunmehr so schnell wie möglich aus der Haft heraus nach Italien überstellt werden soll und die Fluganforderung bereits erfolgt sei. Die Antragstellerin kann sich auf diesen Mangel auch berufen. Er führt dazu, dass nunmehr die Zuständigkeit zur Überprüfung ihres Asylgesuchs auf die Antragsgegnerin übergegangen ist. Soweit der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 10. Dezember 2013 ausgeführt hat, in einer Situation, in der der Mitgliedstaat der Aufnahme zustimmt, könne der Asylbewerber der Heranziehung dieses Kriteriums (Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO) nur damit entgegentreten, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen geltend macht (- C-394/12 - Abdullahi, Rdn. 60, juris; vgl. hierzu auch BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 - juris mit Anmerkung Berlit, jurisPR-BVerwG 12/2014 Anm. 3), bezieht sich dies bei der im vorliegenden Verfahren zugrunde zu legenden Überprüfungsdichte entsprechend der vom EuGH beantworteten Vorlagefrage lediglich auf die Anwendung der in Kapitel III der Verordnung genannten Kriterien, nicht jedoch auf den nachfolgenden Ablauf des Überstellungsverfahrens und die dieses - mit Sanktionscharakter - ausfüllenden Normen (so auch VG Münster, Beschluss vom 16. Juni 2014 - 1 L 442/14.A -; die Frage nach der Herleitung subjektiver Rechte aus den Fristbestimmungen der Dublin II-VO offenlassend: VG Berlin, Beschluss vom 13. Januar 2011 - 33 L 530.10.A -, juris. [...]