VGH Bayern

Merkliste
Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 28.02.2014 - 10 ZB 13.2410 - asyl.net: M22023
https://www.asyl.net/rsdb/M22023
Leitsatz:

Die nach Art. 17 RL 2003/86/EG bei der Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung wegen der fehlenden Sicherung des Lebensunterhalts erforderliche Berücksichtigung der dort genannten Belange der Familienangehörigen ist von der Ausländerbehörde im Rahmen der Prüfung eines Ausnahmefalls von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorzunehmen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Sicherung des Lebensunterhalts, atypischer Ausnahmefall, Familienangehörige, Einzelfallprüfung, Familienzusammenführung, Ehegattennachzug, deutsches Kind,
Normen: RL 2003/86/EG Art. 17, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung, die Klage der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zu ihrem Ehemann abzuweisen, selbständig tragend darauf gestützt, dass der Lebensunterhalt der Klägerin nicht gesichert sei (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) und die nach der RL 2003/86/EG erforderliche Einzelfallprüfung nicht ergebe, dass vom Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts vorliegend abzusehen sei. Die Klägerin halte sich erst seit kurzer Zeit im Bundesgebiet auf. Sie habe, obwohl sie bereits seit 2001 nach islamischem Recht mit ihrem im Bundesgebiet lebenden Ehemann verheiratet sei, bei der Familie des Ehemanns in Pakistan gelebt. Der Ehemann der Klägerin habe keine nennenswerten Bindungen zu seinen deutschen Kindern aus der Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen.

Die Klägerin macht insoweit geltend, das Erstgericht habe sich nicht damit auseinandergesetzt, dass die Klägerin und ihr Ehemann tatsächlich keine Sozialleistungen in Anspruch nähmen, und mit welchem Gewicht die fehlende Sicherung des Lebensunterhalts in die (Abwägungs-) Entscheidung einzustellen sei. Zudem habe es verkannt, dass Art. 17 RL 2003/86/EG bei der Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung eine Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde fordere. Die Prüfung, ob eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorliege, stelle keine Ermessensentscheidung dar.

Diese Ausführungen stellen aber die Gründe, aus denen das Verwaltungsgericht die Entscheidung des Beklagten bestätigt, nicht mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass es auch die unionsrechtlichen Vorgaben der RL 2003/86/EG zulassen, die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung von der Sicherung des Lebensunterhalts für den jeweiligen Antragsteller durch den Zusammenführenden abhängig zu machen. Gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG kann der Mitgliedstaat vom Antragsteller den Nachweis verlangen, dass der Zusammenführende über feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaates für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen. Ebenso zutreffend hat das Verwaltungsgericht erkannt, dass es bei diesem Nachweis nicht darauf ankommt, ob der Zusammenführende tatsächlich Sozialhilfeleistungen in Anspruch nimmt, sondern anhand abstrakter Kriterien, wie vorliegend den Sozialhilferegelsätzen, zu prüfen ist, ob der Zusammenführende nach der Einreise des Antragstellers Anspruch auf Sozialhilfeleistungen hätte. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die RL 2003/86/EG vorsieht, dass der Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen und zu prüfen ist, wenn sich die Familienangehörigen noch außerhalb des Mitgliedstaats aufhalten, in dem sich der Zusammenführende aufhält (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 RL 2003/86/EG). Entgegen dem Vorbringen der Klägerin im Zulassungsverfahren hat das Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen dargelegt, dass die Einkommensverhältnisse des Ehemanns der Klägerin die Prognose rechtfertigten, die Klägerin und ihr Ehemann könnten künftig nicht ohne die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen den notwendigen Lebensunterhalt sichern, und dass die fehlende Lebensunterhaltssicherung das Interesse der Klägerin an der Aufnahme der ehelichen Lebensgemeinschaft überwiege. Bezüglich der Lebensunterhaltssicherung hat es darauf abgestellt, dass das nach Abzug der Krankenversicherung und der Wohnkosten verbleibende Einkommen des Ehemanns deutlich unter dem nach § 20 Abs. 4 SGB II erforderlichen Mindestmaß dessen, was zur Sicherung des Lebensunterhalts erforderlich ist, bleibe, die Klägerin keinen Beitrag zur Sicherung des Lebensunterhalts leisten werde, die Einkünfte des Ehemanns saisonabhängig und etwaige Krankheits- oder Urlaubszeiten nicht berücksichtigt seien. Im Rahmen der einzelfallbezogenen Prüfung anhand der in Art. 17 RL 2003/86/EG vorgegebenen Kriterien hat das Erstgericht zu Lasten der Klägerin berücksichtigt, dass sie sich erst seit kurzem in der Bundesrepublik aufhalte, sie trotz der seit 2001 bestehenden Ehe in Pakistan bei der Familie ihres Ehemanns verblieben sei und keine Bindungen in der Bundesrepublik aufgebaut habe. Auch die Beziehung des Ehemanns zu seinen deutschen Kindern hat das Erstgericht gewürdigt. Weder die Prognoseentscheidung zur Lebensunterhaltssicherung noch die Ausführungen zur Einzelfallprüfung nach Art. 17 RL 2003/86/EG hat die Klägerin mit ihrem Vorbringen im Zulassungsantrag mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt.

Die nach Art. 17 RL 2003/86/EG erforderliche Einzelfallprüfung hat das Verwaltungsgericht dadurch vorgenommen, dass es anhand der konkreten Umstände geprüft hat, ob eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zuzulassen ist. Dieses Vorgehen begründet entgegen den Darlegungen der Klägerin keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils. Art. 17 RL 2003/86/EG fordert lediglich eine Berücksichtigung der in der Vorschrift genannten Kriterien in gebührender Weise. Weitere Vorgaben macht die Richtlinie nicht. Auch aus der zitierten Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (U.v. 4.3.2010 – Chakroun, C-578/08 – juris) ergibt sich entgegen dem Vorbringen der Klägerin nicht, dass die individuelle Prüfung als Ermessensentscheidung zu erfolgen habe. Der Europäische Gerichtshof verlangt lediglich "eine konkrete Prüfung der einzelnen Situation des Antragstellers" bzw. "eine individualisierte Prüfung" (EuGH, U.v. 4.3.2010, a.a.O., Rn. 48). Eine Ausnahme i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG kann – wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat – insbesondere aus verfassungs-, völker- oder unionsrechtlichen Aspekten in Betracht kommen (Funke-Kaiser in Gemeinschaftskommentar, AufenthG, Stand Sept. 2013, § 5 Rn. 22; BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 10 C 16.12 – juris Rn. 16). Die Prüfung des Ausnahmefalls bleibt folglich nicht nur auf atypische Umstände des Einzelfalls beschränkt, sondern umfasst gerade auch unionsrechtliche Wertentscheidungen, denen die ausländerrechtliche Entscheidung nicht widersprechen darf (Funke-Kaiser, a.a.O.). Die Einbeziehung der individualisierten Prüfung aus Art. 17 RL 2003/86/EG in die Prüfung des Ausnahmefalls i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG hat daher nicht zur Folge, dass den individuellen Belangen des Antragstellers weniger Gewicht zukäme. Denn ein Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist nicht nur dann anzunehmen, wenn besondere atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, sondern auch wenn dies aus Gründen höherrangigen Rechts, wie etwa Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK, geboten ist (stRspr des BVerwG; U.v. 30.4.2009 – 1 C 3.08 – juris Rn. 13; U.v. 13.6.2013 – 10 C 16.12 juris Rn. 16 ff.). Die Beachtung und im Sinne des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit angemessene Berücksichtigung gerade der (auch) in Art. 17 RL 2003/86/EG genannten familiären Belange des Antragstellers ist damit bei der Prüfung eines Ausnahmefalls ohnehin aufgrund höherrangigen Rechts geboten. Die vom Gerichtshof geforderte ausgewogene und sachgerechte Bewertung der bei der Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung nach Art. 17 RL 2003/86/EG zu berücksichtigenden Interessen (vgl. EuGH, U.v. 6.12.2012 – C-356/11 u.a. – juris Rn. 81) verlangt nichts anderes.

Die von der Klägerin in diesem Zusammenhang aufgeworfene Frage, "ob die nach Art. 17 RL 2003/86/EG geforderte Einzelfallprüfung mit der Prüfung des Vorliegens einer Atypik i.S.d. § 5 Abs. 1 AufenthG identisch ist", führt nicht zur Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache ist nur dann den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt, wenn der Rechtsmittelführer u.a. erläutert, weshalb die formulierte Rechtsfrage klärungsbedürftig ist (vgl. etwa BayVGH, B.v. 30.10.2013 –10 ZB 11.1390 – juris Rn. 17). Daran fehlt es vorliegend. Das Bundesverwaltungsgericht (U.v. 13.6.2013 – 10 C 16.12 – juris Rn. 20) prüft – wie bereits oben dargelegt – im Rahmen der Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, ob alle nach Art. 17 RL 2003/86/EG zu berücksichtigenden Interessen ausgewogen und sachgerecht bewertet werden. Insoweit ist die von der Klägerin aufgeworfene Frage bereits vom Bundesverwaltungsgericht dahingehend beantwortet, dass die Einzelfallprüfung nach Art. 17 RL 2003/86/EG im Rahmen der Ausnahmefallprüfung erfolgt. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ergibt sich auch nicht mit Blick auf eine erforderliche Auslegung von Unionsrecht. Dann müsste die aufgeworfene Frage die Auslegung von Unionsrecht betreffen und sich für den Verwaltungsgerichtshof voraussichtlich die Notwendigkeit ergeben, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen (Kopp/Schenke, VwGO, 19. Aufl. 2013, § 124 Rn. 10). Die von der Klägerin gestellte Frage betrifft aber letztlich nicht die Auslegung von Unionsrecht, sondern die methodische bzw. verfahrensrechtliche Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben in das bestehende nationale Aufenthaltsrecht. Weder die RL 2003/86/EG noch der Gerichtshof geben vor, wie die ausgewogene und sachgerechte Bewertung der nach Art. 17 RL 2003/86/EG zu berücksichtigenden Interessen methodisch zu erfolgen hat. Dies überlässt der Gerichtshof ausdrücklich den zuständigen nationalen Behörden und Gerichten. Letzteren obliegt es zu prüfen, ob die Entscheidung, mit der ein Aufenthaltstitel zur Familienzusammenführung abgelehnt wurde, unter Beachtung der Art. 7 Abs. 1 Buchst. c RL 2003/86/EG und Art. 7 und 24 Abs. 2 und 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union erfolgt ist (vgl. EuGH, U.v. 6.12.2012 – C-356/11 u.a. – juris Rn. 81 und LS 2).

Führt das Zulassungsvorbringen hinsichtlich eines die Entscheidung des Erstgerichts selbständig tragenden Grundes nicht zur Zulassung der Berufung, so ist der Antrag auf Zulassung der Berufung schon deshalb abzulehnen.

Unabhängig davon würde aber auch das Vorbringen der Klägerin zum weiteren die Entscheidung des Erstgerichts selbständig tragenden Grund der Einreise ohne das erforderliche Visum nicht zur Zulassung der Berufung führen, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache auch insoweit nicht vorliegen.

Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung auch darauf gestützt, dass die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht vorliege, weil die Klägerin nicht mit einem Visum zur Familienzusammenführung in das Bundesgebiet eingereist sei. Es hat die Vereinbarkeit der Regelung in § 5 Abs. 2 AufenthG mit der RL 2003/86/EG bejaht.

Das Verwaltungsgericht ist insoweit zu Recht davon ausgegangen, dass der Antrag auf Familienzusammenführung vor der Einreise in den Aufnahmestaat zu stellen und zu prüfen ist. Dies ergibt sich aus Art. 5 Abs. 3 und Art. 13 RL 2003/86/EG. Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2003/86/EG steht dem nicht entgegen. Der Senat hat bereits in seiner Entscheidung vom 21. Februar 2013 (10 CS 12. 2679) ausgeführt, dass die Gestattung der Einreise und des Aufenthalts nach Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 RL 2003/86/EG nicht nur unter dem Vorbehalt der in Kapitel IV sowie Art. 16 der Richtlinie genannten Bedingungen stehe, sondern dass die Mitgliedstaaten die Einreise und den Aufenthalt ausdrücklich nur "gemäß dieser Richtlinie" gestatten. Folglich gilt insoweit auch Art. 5 Abs. 3 RL 2003/86/EG, wonach der Antrag für die Gestattung der Einreise zu stellen und zu prüfen ist, wenn sich die Familienangehörigen noch außerhalb des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats aufhalten, selbst wenn sich diese Vorschrift im Kapitel III der Richtlinie befindet. Das Vorbringen der Klägerin im Zulassungsverfahren gibt keinen Anlass, von dieser Rechtsauffassung abzuweichen. Wenn die Klägerin zunächst mit einem Schengen-Visum in die Bundesrepublik eingereist ist, hat sie damit die Anforderungen des Art. 5 Abs. 3 RL 2003/86/EG nicht erfüllt. Die Richtlinie trifft ausschließlich Regelungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung (s. Art. 1 RL 2006/86/EG). Die Vorschriften über die Einreise und die Antragstellung vor der Einreise beziehen sich folglich auf die beabsichtigte Familienzusammenführung. Ein lediglich zu touristischen Zwecken erteiltes Visum genügt damit weder den Vorgaben des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG noch des Art. 5 Abs. 3 RL 2003/86/EG. . [...]