LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Beschluss vom 06.06.2014 - L 6 AS 130/14 B ER - asyl.net: M22015
https://www.asyl.net/rsdb/M22015
Leitsatz:

Bei einem EU-Ausländer, bei dem kein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche besteht, sondern vielmehr ein legaler Aufenthalt lediglich vermutet wird, kommt der in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II geregelte Leistungsausschluss im Rahmen der Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht zur Anwendung, so dass ein Leistungsanspruch gegeben ist.

Schlagwörter: gewöhnlicher Aufenthalt, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Unionsrecht, illegaler Aufenthalt, Unionsbürger, Leistungsausschluss, Aufenthaltszweck, Sozialleistungen, SGB II,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen der Rechtsgrundlagen des Anordnungsanspruchs (§§ 7 ff., 19 ff. SGB II) sind nach Überzeugung des Senates dem Grunde nach erfüllt. Die Antragstellerin ist 26 Jahre alt (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II) und erwerbsfähig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 Abs. 2 SGB II). Sie hat auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, nämlich in .... Auch nach dem Beschwerdevorbingen hat die Ausländerbehörde bislang keine aufenthaltsrechtsbeendenden Maßnahmen ergriffen. Weiterhin ist sie hilfebedürftig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II). Der Senat nimmt insoweit Bezug auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Beschluss des Sozialgerichts, denen er sich nach eigener Prüfung anschließt.

Die Antragstellerin ist weiter nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Anspruch ausgeschlossen, da sich ihr Aufenthaltsrecht nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Zwar erfüllte die Antragstellerin im streitgegenständlichen Zeitraum nicht die Voraussetzungen eines anderen Aufenthaltsrechtstatbestandes, indes waren auch die Voraussetzungen des Aufenthaltsrechts zur Arbeitssuche nicht erfüllt. Eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II verbietet es in einem derartigen Fall vor dem Hintergrund der bestehenden Aufenthaltsrechtslage in der Bundesrepublik Deutschland, § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gleichsam als "Auffangausschlusstatbestand" auszulegen. Art. 18 i.V.m. Art. 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und eine hiermit vereinbare Auslegung von Art. 24 RL 2004/38/EG stehen einer erweiternden Auslegung von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für ein nur formal fortbestehendes Aufenthaltsrecht wirtschaftlich inaktiver Unionsbürger entgegen. Dies hat zur Folge, dass ein allein aufgrund der fortbestehenden Vermutung lediglich formal legaler Aufenthalt nicht unter den Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II fällt. Insoweit wird zunächst auf die ausführlichen Darlegungen des Senats im Urteil vom 27. November 2013 (L 6 AS 378/12) Bezug genommen, an denen er festhält.

Die Schlussanträge des Generalanwalts vom 20. Mai 2014 in der Rechtssache Dano (EuGH, Rs. 333/13) stehen dieser Rechtsansicht nicht entgegen. Zum einen ist der Generalanwalt wie der Senat der Auffassung, dass Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG gerade nicht zum Leistungsausschluss bei Personen ohne Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche ermächtigt (Rz. 91 f.): "(…) Art. 24 Abs. 2 dieser Richtlinie [ist] in dem dem vorlegenden Gericht unterbreiteten Rechtsstreit irrelevant (…). Aus den Akten scheint nämlich hervorzugehen, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens nicht nach Deutschland eingereist ist, um Arbeit zu suchen, und dass sie sich nicht darum bemüht, dort eine Beschäftigung zu finden.“ Zum anderen beruhen die Schlussanträge teilweise auf unzutreffenden Vorstellungen über die nationale Rechtslage. So geht der Generalanwalt offenbar in Widerspruch zur oben beschriebenen Reichweite von Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG davon aus, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht allein der Umsetzung von Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG dient, sondern in kombinierter Anwendung mit § 23 SGB XII einen allgemeinen Ausschlusstatbestand für wirtschaftlich inaktive Unionsbürger bereitstellt (Rz. 97): "Die Frage, die in der vorliegenden Rechtssache im Mittelpunkt steht, scheint mir daher die der Rechtmäßigkeit – im Hinblick auf die Richtlinie 2004/38 und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – eines allgemeinen Ausschlusses der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten von der Sozialhilfe zu sein, die, um den Wortlaut von § 23 Abs. 3 SGB XII aufzugreifen, in das Staatsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, 'um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt'". Auch in Rz. 125 und Rz. 137 wird davon ausgegangen, dass bei Personen, die die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllen, ein ergänzender Rückgriff auf § 23 SGB XII möglich sei. Dies ist jedoch nach wohl einhelliger Ansicht der deutschen Rechtsprechung und rechtswissenschaftlichen Literatur aufgrund § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB II nicht der Fall.

Dies vorausgeschickt ist über das Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 1. Var., § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) hinaus ein arbeitsuchender EU-Bürger gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 2. Var. FreizügG/EU in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH solange freizügigkeitsberechtigt, wie er mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht, wobei das Unionsrecht die Länge des angemessenen Zeitraums nicht regelt. Allerdings ist es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, den Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der zum Zweck der Stellensuche in sein Gebiet eingereist ist, auszuweisen, wenn dieser nach sechs Monaten keine Stelle gefunden hat, sofern der Betroffene nicht nachweist, dass er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht (EuGH, Urteil vom 26. Februar 1991, Rs. C-292/89 – Antonissen). Vorliegend hegt der Senat - zumindest im Rahmen summarischer Prüfung - durchgreifende Zweifel an der begründeten Aussicht auf Erlangung einer Arbeitsstelle für die Antragstellerin. Einer entsprechenden positiven Prognose steht entgegen, dass die Antragstellerin Analphabetin ist und zudem über keine deutschen Sprachkenntnisse verfügt. Weiter ist zu berücksichtigen, dass sie sich bereits seit 2012 in Deutschland aufhält, ohne dass eine Integration in den Arbeitsmarkt möglich gewesen ist. Allein der Abschluss der beiden Eingliederungsvereinbarungen vermag die erforderliche positive Prognose nicht zu untermauern, zumal nicht ersichtlich ist, dass die Antragstellerin seit ihrer Einreise nach Deutschland bzw. im streitgegenständlichen Zeitraum hinreichende Eigenbemühungen, eine Arbeitsstelle zu finden, entfaltet hat, wobei auch insoweit der bestehende Analphabetismus sowie die fehlenden Kenntnisse der deutschen Sprache ausschlaggebend gewesen sein dürften.

Da nach alledem bereits eine unionsrechtskonforme Auslegung am Maßstab von Art. 18. i.V.m. 21 AEUV sowie Art. 24 RL 2004/38/EG einer erweiternden Auslegung des Leistungsausschlusses entgegenstehen, ist vorliegend nicht mehr entscheidungserheblich, dass nach Auffassung des Senats § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auch wegen Art. 4 i.V.m. Art. 70 VO (EG) 883/2004 nicht zur Anwendung kommt (vgl. Senatsbeschluss vom 30. September 2013, L 6 AS 433/13 B ER und im Übrigen Vorabentscheidungsersuchen des Bundessozialgerichts vom 12. Dezember 2013, B 4 AS 9/13).

Im Ergebnis bejaht der Senat den erforderlichen Anordnungsanspruch dem Grunde nach für die Zeit vom 16. Januar bis 31. Mai 2014. Soweit das Sozialgericht den Anordnungsanspruch auch aus den beiden zwischen der Antragstellerin und dem Antragsgegner geschlossenen Eingliederungsvereinbarungen abgeleitet hat, kommt es darauf nicht mehr an. [...]