AG Bersenbrück

Merkliste
Zitieren als:
AG Bersenbrück, Beschluss vom 05.06.2014 - 6 Cs - 940 Js 50521/13 (602/13) - asyl.net: M21990
https://www.asyl.net/rsdb/M21990
Leitsatz:

§ 95 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG i.V.m. § 11 Abs. 1 AufenthG ist europarechtskonform einschränkend dahingehend auszulegen, dass eine Strafverfolgung allenfalls dann in Betracht kommt, wenn im konkreten Fall die Anwendung des § 11 Abs. 1 AufenthG europarechtskonform erfolgt ist und eine Befristung des Einreiseverbots bereits von der Verwaltungsbehörde von Amts wegen vorgenommen wurde.

Schlagwörter: Ausländerstrafrecht, EuGH, Filev/Osmani, Rückführungsrichtlinie, Befristung, Einreisesperre, Einreiseverbot, Unionsrecht, europarechtskonforme Auslegung, Wiedereinreise, unerlaubte Einreise, Strafverfolgung, Strafverfahren,
Normen: AufenthG § 95 Abs. 2 Nr. 1, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Der EuGH hat in dem Urteil vom 19. September 2013 in der Rechtssache C-297/12 (Filev/Osmani) entschieden, dass Artikel 11 Absatz 2 der Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungsrichtlinie) dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Vorschrift wie § 11 Absatz 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG) entgegensteht, die die Befristung eines Einreiseverbots davon abhängig macht, dass der betreffende Drittstaatsangehörige einen Antrag auf eine derartige Befristung stellt.

§ 11 Absatz 2 AufenthG sieht derzeit keine Befristung des Einreiseverbots von Amts wegen vor. Nach der europarechtswidrigen Regelung des § 11 Absatz 1 Satz 3 AufenthG erfolgt eine Befristung daher derzeit in der Regel nur auf Antrag. Der Grundsatz des europarechtsfreundlichen Verhaltens verlangt daher jedenfalls eine europarechtskonforme Auslegung.

Die Strafnorm des § 95 Absatz 2 Nummer 1 setzt tatbestandlich einen Verstoß gegen § 11 Absatz 1 Satz 1 AufenthG voraus. Da insoweit an einen Verstoß gegen eine europarechtswidrige Norm eine Strafnorm geknüpft wird, gilt der Grundsatz des europarechtsfreundlichen Verhaltens für die Anwendung der Strafnorm erst Recht.

In dem genannten Urteil heißt es hierzu: "... Insbesondere dürfen sie (die Mitgliedstaaten) keine strafrechtliche Regelung anwenden, die die Verwirklichung der mit dieser Richtlinie verfolgen Ziele gefährden und die Richtlinie damit ihrer praktischen Wirksamkeit berauben könnte ... Daraus folgt, dass ein Mitgliedstaat einen Verstoß gegen ein Einreiseverbot, das in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 fällt, nicht strafrechtlich ahnden darf, wenn die Aufrechterhaltung der Wirkung dieses Verbotes nicht mit Artikel 11 Absatz 2 dieser Richtlinie im Einklang steht."

§ 95 Absatz 2 Nummer 1 AufenthG i.V.m. § 11 Absatz 1 AufenthG ist daher europarechtskonform einschränkend dahingehend auszulegen, dass eine Strafverfolgung allenfalls dann in Betracht kommt, wenn im konkreten Fall die Anwendung des § 11 Absatz 1 AufenthG ausnahmsweise europarechtskonform erfolgt ist und eine Befristung des Einreiseverbots bereits von der Verwaltungsbehörde von Amts wegen vorgenommen wurde.

Dies ist in diesem Fall nicht erfolgt.

Der Umstand, dass die deutsche Rechtslage im Hinblick auf § 11 Absatz 1 AufenthG europarechtswidrig ist, darf nicht zu Lasten des Angeschuldigten gehen.

Hätte die Verwaltungsbehörde § 11 Absatz 1 AufenhG europarechtskonform angewendet und das Einreiseverbot befristet, so hätte die Verwaltungsbehörde eine Ermessensentscheidung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit treffen müssen. Welche Dauer des Einreiseverbots die Verwaltungsbehörde gewählt hätte, wenn sie sich europarechtskonform verhalten hätte, ist für den Angeschuldigten nicht ersichtlich. Er kann diese Dauer auch nicht erahnen. Gleiches gilt für die Staatsanwaltschaft und die Strafgerichtsbarkeit. Gut denkbar ist es jedenfalls, dass die Frist, die bei europarechtskonformer Auslegung des § 11 Absatz 1 AufenthG für das Einreiseverbot bestimmt worden wäre, zum Zeitpunkt der dem Angeschuldigten vorgeworfenen Einreise bereits abgelaufen wäre.

Derartige Unsicherheiten verbieten sich im Strafrecht. Eine Strafnorm muss stets hinreichend bestimmt sein. Hinreichend bestimmt ist § 95 Absatz 2 Nummer 1 AufenthG i.V.m. § 11 Absatz 1 AufenthG nach dem Gesagten aber allenfalls in den Fällen, in denen bereits die Verwaltungsbehörde eine Befristung des Einreiseverbots von Amts wegen vorgenommen hat.

Dass es die Verwaltungsbehörde in Anwendung der europarechtswidrigen Norm des § 11 Absatz 1 AufenthG unterlassen hat, das Einreiseverbot zu befristen, darf ebenfalls nicht zum Nachteil des Angeschuldigten gereichen.

Daher gebietet es die europarechtskonforme Auslegung des § 95 Absatz 2 Nummer 1 AufenthG i.V.m. § 11 Absatz 1 AufenthG, einen Verstoß gegen ein Einreiseverbot nach § 11 Absatz 1 AufenthG allenfalls dann strafrechtlich zu sanktionieren, wenn das Einreiseverbot von der Verwaltungsbehörde bereits von Amts wegen befristet wurde. Da eine Befristung vorliegend nicht erfolgt ist, kommt eine strafrechtliche Sanktionierung des Verhaltens des Angeschuldigten nicht in Betracht. Der Erlass des beantragten Strafbefehls war daher abzulehnen.

Das Urteil in der Rechtssache C-297/12 betrifft nicht nur Fallkonstellationen, in denen eine Wiedereinreise nach Ablauf von fünf Jahren nach erfolgter Zurückschiebung erfolgt ist. Dies ergibt sich aus den Urteilsgründen. Dort heißt es zu der dritten Vorlagefrage: "Es ist festzustellen, dass aus den Worten "(d)ie Dauer des Einreiseverbots wird ... festgesetzt" klar hervorgeht, dass eine Verpflichtung für die Mitgliedstaaten besteht, alle Einreiseverbote - grundsätzlich auf höchstens fünf Jahre - zu befristen, unabhängig von einem hierauf gerichteten Antrag des betroffenen Drittstaatsangehörigen. Diese Auslegung ergibt sich auch aus Satz 2 des 14. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2008/115, der ebenfalls vorsieht, dass die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt werden und im Regelfall fünf Jahre nicht überschreiten sollte." Die jeweiligen Umstände des Einzelfalls sind danach bei der individuell zu treffenden Befristungsentscheidung zu berücksichtigen. Eine solche Einzelfallentscheidung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gebietet die Rückführungsrichtlinie von Amts wegen. Dies stellt das Urteil klar. Mit dem Ziel der Richtlinie, grundsätzlich verhältnismäßige und einzelfallbezogene Entscheidungen zu erreichen, ist eine einschränkende Auslegung der Richtlinie nicht in Einklang zu bringen.