OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 13.05.2014 - 8 ME 39/14 (= ASYLMAGAZIN 7-8/2014, S. 271 ff.) - asyl.net: M21965
https://www.asyl.net/rsdb/M21965
Leitsatz:

1. Der Erlass einer Regelungsanordnung, die die Hauptsache vorweg nimmt, kommt nicht in Betracht, wenn nicht hinreichend glaubhaft gemacht wird, dass ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.

2. Diese können darin bestehen, dass ein Angewiesen sein auf konkrete Beistands- oder Unterstützungsleistungen erkennbar ist.

3. Der mit der Ausweisung nahezu zwangsläufig verbundenen zeitweisen Aufhebung der ehelichen und familiären Lebensgemeinschaft und den damit einhergehenden Härten für alle betroffenen Familienmitglieder kommt regelmäßig nicht ein solches Gewicht zu, dass es eine Durchbrechung der Sperrwirkung der Ausweisung rechtfertigen könnte.

Schlagwörter: Vorwegnahme der Hauptsache, vorläufiger Rechtsschutz, eheliche Lebensgemeinschaft, familiäre Lebensgemeinschaft, Betretenserlaubnis, Schutz von Ehe und Familie, Achtung des Privatlebens, besonderer Ausweisungsschutz, Sperrwirkung, Wirkung der Ausweisung,
Normen: AufenthG § 53 Nr. 2, AufenthG § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, GG Art. 6, EMRK Art. 8, AufenthG § 11 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Der nach dem eingangs dargestellten Maßstab nur ausnahmsweise mögliche Erlass einer solchen, die Hauptsache vorweg nehmenden Regelungsanordnung kommt hier nicht in Betracht. Denn der Antragsteller hat nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass ihm ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Er hat lediglich auf die mögliche Dauer des Hauptsacheverfahrens verwiesen und geltend gemacht, für diese Dauer sei ihm ein Abwarten unzumutbar. Nachvollziehbare tatsächliche Umstände, aus denen sich eine solche Unzumutbarkeit ergeben könnte, hat der Antragsteller indes nicht dargelegt. Sie sind für den Senat - angesichts der Laufzeiten erstinstanzlicher Hauptsacheverfahren von deutlich weniger als einem Jahr (vgl. Geschäftsbericht 2013 des Präsidenten des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, S. 7, veröffentlicht unter www.oberverwaltungsgericht.niedersachsen.de) - unter Berücksichtigung der sich aus Art. 6 GG ergebenden Schutzwirkungen für die Beziehung des Antragstellers zu seiner im Bundesgebiet lebenden Ehefrau und den gemeinsamen Kindern auch nicht offensichtlich. Abgesehen von dem grundlegenden Interesse, die eheliche und familiäre Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet zu führen, sind diese derzeit nicht ersichtlich auf konkrete Beistands- oder Unterstützungsleistungen des Antragstellers angewiesen, die nur im Bundesgebiet erbracht werden könnten. Die eheliche und familiäre Lebensgemeinschaft war vielmehr auch in den vergangenen Jahren, in denen der Antragsteller seine Strafhaft verbüßte, von wohl regelmäßigen, aber bloßen Besuchs- und Umgangskontakten geprägt. Weitergehende Beistands- oder Erziehungsleistungen konnte der Antragsteller nicht erbringen. Ebenso fehlte es an Beiträgen des Antragstellers zur Sicherung des Lebensunterhalts der Familie. Die damit verbleibende Pflege von Kontakten ist jedenfalls für die Dauer des Hauptsacheverfahrens zumutbar über Post, Telefon und E-Mail sowie Besuche der Ehefrau und Kinder in Montenegro möglich.

2. Der Antragsteller hat auch das Bestehen eines (Anordnungs-)Anspruchs auf Erteilung einer Betretenserlaubnis nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht glaubhaft gemacht.

Nach dieser Bestimmung kann einem ausgewiesenen oder abgeschobenen Ausländer auch während der Dauer eines Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG ausnahmsweise erlaubt werden, das Bundesgebiet kurzfristig zu betreten, wenn zwingende Gründe seine Anwesenheit erfordern oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde.

Zwingende Gründe können insbesondere in den persönlichen Verhältnissen des Ausländers selbst begründet sein, etwa wenn er Termine bei Gerichten oder Behörden wahrzunehmen hat; dabei können auch öffentliche Interessen eine Rolle spielen (Nr. 11.2.5 Satz 1 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz - AVwV AufenthG - vom 26.10.2009, GMBl. S. 877; vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 18.3.2010 - 1 B 45/10 -, juris Rn. 5 f.; Bayerischer VGH, Beschl. v. 10.6.2009 - 19 C 09.1178 -, juris Rn. 4 f.; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 20.2.2007 - 11 ME 386/06 -, NVwZ-RR 2007, 417; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Mai 2012, AufenthG § 11 Rn. 57 f. m.w.N.). Eine unbillige Härte kann sich hingegen, ohne dass sie stets klar von einem zwingenden Grund abgegrenzt werden könnte (oder müsste), insbesondere mit Blick auf familiäre, verwandtschaftliche oder humanitäre Verhältnisse ergeben, etwa wenn der Ausländer an einer wichtigen Familienfeier oder Trauerfeier teilnehmen oder einen schwer erkrankten nahen Familienangehöriger besuchen will (Nr. 11.2.5 Satz 2 AVwV AufenthG; vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 22.12.2006 - 11 ME 393/06 -, juris Rn. 12; Hamburgisches OVG, Beschl. v. 27.1.2005 - 3 Bs 458/04 -, juris Rn. 24; OVG Berlin, Beschl. v. 9.1.2001 - 8 SN 234.00 -, InfAuslR 2001, 169, 170; Hailbronner, a.a.O., § 11 Rn. 59 f.). Der zwingende Grund und auch die unbillige Härte müssen dabei so gewichtig sein, dass sie eine zeitlich begrenzte Durchbrechung der Sperrwirkung der Ausweisung oder Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG bei Abwägung der Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt erscheinen lassen (vgl. OVG Berlin, Beschl. v. 9.1.2001, a.a.O.).

Hieran gemessen erfüllt der Antragsteller die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Betretenserlaubnis nicht. Das Vorliegen zwingender Gründe hat er schon nicht geltend gemacht; das Vorliegen einer unbilligen Härte hat er nicht glaubhaft gemacht.

Das private Interesse des Antragstellers, auch während des vierjährigen Einreise- und Aufenthaltsverbotes in regelmäßigen Abständen den unmittelbaren Kontakt zu seiner im Bundesgebiet lebenden Ehefrau und den gemeinsamen Kindern zu pflegen, ist jedenfalls derzeit nicht so gewichtig, dass es eine Durchbrechung der Sperrwirkung der Ausweisung rechtfertigen könnte. Das private Interesse des Antragstellers genießt zwar den Schutz des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG, dieser vermittelt dem Antragsteller aber keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise in das und Aufenthalt im Bundesgebiet. Gefordert ist lediglich eine angemessene Berücksichtigung der familiären Bindungen zu im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 5.6.2013 - 2 BvR 586/13 -, juris Rn. 12 m.w.N.). Diese geforderte angemessene Berücksichtigung ist zunächst bei der bestandskräftigen Entscheidung über die Ausweisung des Antragstellers aus dem Bundesgebiet (Bescheid v. 26.3.2012, dort S. 3 f.) und bei der ebenfalls bestandskräftigen Entscheidung über die Befristung der Wirkungen dieser Ausweisung (Bescheid v. 18.9.2012) erfolgt. Auch unter Berücksichtigung der familiären Bindungen des Antragstellers zu seinen im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen ist die Ausweisung aus dem Bundesgebiet und das damit verbundene, auf die Dauer von vier Jahren befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot verhältnismäßig, ohne dass es zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit des Rückgriffs auf die Betretenserlaubnis als mögliches Remedurmittel (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 13.12.2005 - BVerwG 1 C 36.04 -, juris Rn. 16) bedurft hätte. Gleichsam kommt der mit der Ausweisung nahezu zwangsläufig verbundenen zeitweisen Aufhebung der ehelichen und familiären Lebensgemeinschaft und den damit einhergehenden Härten für alle betroffenen Familienmitglieder regelmäßig nicht ein solches Gewicht zu, dass es eine Durchbrechung der Sperrwirkung der Ausweisung rechtfertigen könnte. Es handelt sich vielmehr um die typischen Folgen, die jeden ausgewiesenen Ausländer mit Bindungen an im Bundesgebiet verbleibende Familienangehörige treffen (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 1.4.2009 - 7 ME 233/08 -, Umdruck S. 3 f. V.n.b.). Etwas anderes mag ausnahmsweise dann gelten, wenn nach der Entscheidung über die Ausweisung und die Befristung von deren Wirkung eine kurzzeitige Änderung der tatsächlichen, insbesondere der persönlichen Umstände eintritt, die dem privaten Interesse, im Bundesgebiet eine eheliche oder familiäre Lebensgemeinschaft zu führen, ein das öffentliche Interesse, den ausgewiesenen Ausländer vom Bundesgebiet fernzuhalten, überwiegendes Gewicht verleiht. Bei einer dauerhaften Änderung der tatsächlichen Umstände dürfte vorrangig eine Anpassung der Befristungsentscheidung in Betracht kommen (vgl. zu dieser Möglichkeit: Senatsurt. v. 14.2.2013 - 8 LC 129/12 -, juris Rn. 57).

Hier hat der Antragsteller eine auch nur kurzzeitige Änderung der tatsächlichen Umstände indes nicht glaubhaft gemacht. Insbesondere ergibt sich aus seinem Vorbringen eine signifikante Reduzierung der Gefahr erneuter strafrechtlicher Verfehlungen nicht. Der Antragsteller beschränkt sich insoweit lediglich darauf zu bestreiten, dass er in der Haft mit Betäubungsmitteln gehandelt habe, dass er seit der Haftentlassung Betäubungsmittelmittel konsumiert habe und dass er betäubungsmittelabhängig sei. Diese Behauptungen erfüllen schon formal nicht die Anforderungen an die Glaubhaftmachung im Sinne des § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO. Sie widersprechen in weiten Teilen auch den Äußerungen des Antragstellers im Verwaltungsverfahren und dem Akteninhalt. Der Antragsteller hat wiederholt angegeben, betäubungsmittelabhängig zu sein. Die Vollstreckung der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe ist im Hinblick auf eine durchzuführende Entwöhnungstherapie ausgesetzt worden. Die Deutsche Rentenversicherung hat mit Bescheid vom 10. Juli 2012 die Durchführung einer stationären Entwöhnungstherapie bewilligt. Diese Entwöhnungstherapie trat der Antragsteller im September 2012 an; sie sollte bis zum Februar 2013 dauern. Er wurde aber bereits im November 2012 aus der Therapie entlassen. Ausweislich des in den Verwaltungsvorgängen des Antragsgegners befindlichen ärztlichen Entlassungsberichts erkannte der Antragsteller die Notwendigkeit einer Entwöhnungstherapie nicht an. Vielmehr bestand der Verdacht, dass er in der Entwöhnungseinrichtung mit Betäubungsmitteln handelt. Der Bezugstherapeut bescheinigte dem Antragsteller eine schwere Drogenabhängigkeit und dringend eine erneute Therapie. Die Durchführung einer solchen hat der Antragsteller indes bisher nicht dargelegt. Aus seinem Vorbringen ergeben sich mithin keine Anhaltspunkte für eine signifikante Änderung der tatsächlichen Umstände, die seinem privaten Interesse, im Bundesgebiet eine eheliche oder familiäre Lebensgemeinschaft zu führen, ein das öffentliche Interesse, den ausgewiesenen Ausländer vom Bundesgebiet fernzuhalten, überwiegendes Gewicht verleihen könnten. [...]