OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 29.04.2014 - A 4 A 104/14 - asyl.net: M21963
https://www.asyl.net/rsdb/M21963
Leitsatz:

1. Es ist nicht ersichtlich, dass Bedrohungen wegen des Betreibens eines Geschäfts zum Verkauf von alkoholischen Getränken auf einem für die Flüchtlingsanerkennung relevanten Grund beruhen könnten.

2. Im Bezirk Sindjar, Provinz Ninive sind Jesiden nicht wegen ihrer Religionszugehörigkeit von einer Gruppenverfolgung bedroht.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Alkoholverkäufer, Alkohol, alkoholische Getränke, soziale Gruppe, Yesiden, Irak, Sindjar, Sinjar, Scheikan, Dohuk, Nordirak, Gruppenverfolgung, Ninive, Religionszugehörigkeit,
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AsylVfG § 3b Abs. 1 Nr. 4 b, AsylVfG § 3a Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Zudem ist nicht ersichtlich, dass die von ihm geltend gemachten Bedrohungen wegen des Betreibens eines Geschäfts zum Verkauf von alkoholischen Getränken auf einem für die Flüchtlingsanerkennung relevanten Grund beruhen könnten. Diese Tätigkeit stellt keinen Ausdruck der religiösen Überzeugung des Klägers dar. Sie ist lediglich eine berufliche Betätigung, die nach dem jesidischen Verständnis - im Unterschied zu dem muslimischen Verständnis - nicht aus religiösen Gründen unzulässig ist. Es ist zugleich auch nichts dafür ersichtlich, dass es sich bei den Verkäufern von alkoholischen Getränken im Irak um eine soziale Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 b) AsylVfG handeln könnte.

Zudem würde ihm im Fall seiner Rückkehr aus diesem Grunde keine Gefahr mehr drohen, da er nach seinen Angaben nur wegen des Betreibens dieses Geschäftes bedroht wurde, hingegen schon vor seiner Ausreise das Geschäft aufgegeben hat.

1.1.3 Der Kläger ist auch nicht in seiner Heimatregion wegen seiner jesidischen Religionszugehörigkeit von einer Gruppenverfolgung bedroht.

Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. Oktober 2013 - Lagebericht - (dort S. 11 f.) bestimmt die irakische Verfassung in ihrem Art. 2 den Islam zur Staatsreligion. Gleichzeitig garantiert sie aber auch Religionsfreiheit einschließlich der Freiheit für Christen, Jesiden, Mandäer u.a. zur Ausübung ihrer Religion. Eine Diskriminierung oder Verfolgung religiöser Minderheiten durch staatliche Akteure findet generell nicht statt. Es gibt auch kein hierauf gerichtetes Verfolgungsprogramm.

Der irakische Staat ist hingegen nicht in der Lage, religiösen Minderheiten Schutz vor Übergriffen und Anschlägen durch nichtstaatliche Akteure zu bieten (Lagebericht, S. 12).

Dies hat nach den vorliegenden Erkenntnismitteln zu Folge, dass die allgemeine Sicherheitslage im Irak - mit Ausnahme der Region Kurdistan-Irak und Teilen des Südirak - nach wie vor als schlecht einzuschätzen ist. Nach dem Lagebericht (S. 5) hatte sich die Sicherheitslage im Irak seit dem Jahr 2007 von Jahr zu Jahr verbessert, hingegen im Zuge der sunnitisch-schiitischen Konflikte seit dem Jahr 2013 wieder deutlich verschlechtert. Die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle hat hiernach (S. 16) zwischen 2007 und 2012 um rund 80% abgenommen. Nach den in Bezug genommenen Feststellungen der NRO "Iraq bodycount" gab es allerdings auch noch im Jahr 2012 rund 4.500 Terroropfer. Seit Ende 2012 hat sich die Sicherheitslage kontinuierlich und in der Summe massiv verschlechtert. Allein im Mai 2013 wurden mehr als 1000 Menschen Opfer von tödlichen Terroranschlägen. Schwerpunkte terroristischer Anschläge waren Bagdad, der Zentralirak sowie Mosul und Kirkuk im Norden. In den außerhalb der Region Kurdistan-Irak liegenden Gebieten des nördlichen Irak bleibt die Zahl der Anschläge und Todesopfer hoch. Besonders prekär ist die Lage in den Provinzen Ninive und Ta´min. Die Lage in den sog. umstrittenen Gebieten der Provinzen Diyalo, Ta´mim, Salahaddin und Ninive ist von starken Spannungen der unterschiedlichen Bevölkerungsteile, insbesondere Araber, Turkmenen und Kurden - zu denen regelmäßig auch die Jesiden gezählt werden - geprägt (Lagebericht, S. 16 f.).

In diesem Zusammenhang muss allerdings beachtet werden, dass terroristische Anschläge - welche die allgemeine Sicherheitslage prägen - nicht stets als gezielte Verfolgungsmaßnahmen auf Grund der Religionszugehörigkeit der Opfer aufgefasst werden können. Oftmals stellen diese Anschläge eine allgemeine Gefahr für die Bevölkerung dar, welche nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylVfG, sondern bei der Gewährung subsidiären Abschiebungsschutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG (bisher: § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG) und im Rahmen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind.

Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Sicherheitslage im Irak droht dem Kläger wegen seiner jesidischen Religionszugehörigkeit im Irak keine Gefahr einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure. Ausgehend von den vorliegenden Erkenntnismitteln und den oben dargestellten Maßstäben ist weder landesweit noch in Bezug auf die jesidischen Siedlungsgebiete, insbesondere in Sindjar - der Herkunftsregion des Klägers - die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte feststellbar (so auch: BayVGH, Beschl. v. 10. März 2014 - 20 ZB 14.30063 - juris Rn. 6; OVG NRW, Urt. v. 22. Januar 2014 - 9 A 2561/10.A - juris Rn. 61; VGH BW, Urt. v. 19. Juni 2012 - A 2 S 1355/11 - juris Rn. 40; OVG Saarland, Urt. v. 29. März 2012 - 3 A 456/11 - juris Rn. 90 und Urt. v. 16. September 2011 - 3 A 446/09 - juris Rn. 97).

Im Verhältnis zur Gesamtgröße der betroffenen Gruppe der Jesiden ist die Anzahl der Verfolgungsmaßnahmen i.S.v. § 3a Abs. 1 AsylVfG nicht so hoch, dass daraus eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit für jeden Gruppenzugehörigen folgen würde.

Nach dem Lagebericht (S. 20) liegt die Zahl der Jesiden im Irak nach eigenen Angaben bei etwa 450.000 bis 500.000. Die Mehrzahl der ethnisch zu den Kurden gehörenden, aber nicht muslimischen Jesiden siedelt im nördlichen Irak vor allem im Gebiet um die Städte Sindjar, Scheikan und in der Provinz Dohuk. Nach Auffassung des Europäischen Zentrums für kurdische Studien - EZKS - (Auskunft an das VG Düsseldorf vom 20. November 2011) belief sich die Zahl der Jesiden im Irak im Jahre 2011 auf 300.000 bis 400.000 Personen. Diese Werte hat das EZKS nachvollziehbar ausgehend von den einzelnen Siedlungsgebieten der irakischen Jesiden beziffert. In seiner Stellungnahme an das OVG NRW (vom 16. September 2013) hat das EZKS diese Werte nochmal nachgerechnet und hierbei die Angaben von für die Ausgabe von Lebensmitteln zuständigen Verwaltungsangestellten aus dem September 2013 zu Grunde gelegt. Die ins Einzelne gehende Berechnung kommt zu einer Zahl von 290.922 Jesiden im Sindjar. Dies lässt eine jesidische Bevölkerung in Sindjar in der Größenordnung von 300.000 Personen und im Gesamtirak von 400.000 Personen als zutreffend erscheinen.

Für die Feststellung der Gefahr einer Gruppenverfolgung ist dieser Bevölkerungszahl die in Anknüpfung an ihre religiöse Zugehörigkeit gegen die Jesiden gerichteten Verfolgungsmaßnahmen gegenüber zu stellen. Neben Terrorakten und Entführungen können nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG auch an die Religionszugehörigkeit anknüpfende und in ihrer Kumulation gleichgewichtige Maßnahmen zählen.

Neben der allgemein prekären Sicherheitslage sind Jesiden darüber hinaus gezielten Angriffen durch radikale Islamisten ausgesetzt. Gefahrerhöhend wirkt dabei die geografische Lage des Sindjar. Der Distrikt schließt nicht direkt an die de jure kurdisch verwalteten Gebiete an, sondern liegt zwischen der syrischen Grenze und Regionen, in denen sunnitische Terrorgruppen erheblichen Rückhalt finden. Die jesidischen Zentraldörfer liegen inmitten und unmittelbarer Nähe arabischer Dörfer, in denen unter Saddam Hussein, im Anschluss an die Vertreibung der jesidischen Bevölkerung, loyale arabische Stämme angesiedelt wurden. Zudem hat Al-Qaida in dieser Region einen erheblichen Einfluss (EZKS, Auskunft an VG München, vom 17. Februar 2010, S. 13).

Am 14. August 2007 kam es zu dem bisher schwerwiegendsten Angriff auf jesidische Siedlungen, als vier mit Sprengstoff beladene LKW in den am Rande des Sindjar gelegenen Zentraldörfern Gir Azair und Siba Sheik Khidri zur Explosion gebracht wurde. Über 320 jesidische Dorfbewohner wurden hierbei getötet, zwischen 530 und 700 Bewohner wurden verletzt und 400 Häuser vollständig zerstört (EZKS, Auskunft an VG München, a.a.O., S. 14). Am 14. Dezember 2008 drangen Bewaffnete in ein Haus in der Stadt Sindjar ein und töteten sieben Angehörige einer jesidischen Familie; Am 13. August 2009 sprengten sich zwei Selbstmordattentäter in einem belebten Teehaus in der Stadt Sindjar in die Luft. Hierbei wurden mindestens 21 Menschen getötet und 32 Menschen verletzt. Das Teehaus war ein Treffpunkt für jesidische Jugendliche und junge Männer (EZKS, Auskunft an VG München, a.a.O.).

Als Reaktion auf diese Anschläge sind die Zentraldörfer im Sindjar mit Stacheldraht und wohl neuerdings mit Mauern umgeben (vgl. EZKS, Auskunft an VG München, a.a.O., S. 7 und an OVG NRW, a.a.O., S. 9). Es gibt lediglich einen Ein- und einen Ausgang, die jeweils von Peschmerga der Kurdischen Zentralregierung bewacht werden. Auch ein Teil der größeren von Jesiden bewohnten Dörfer wird von Peschmerga bewacht. Die Straße nach Dohuk, wohin Fahrten zur Erledigung von Verwaltungsangelegenheiten für Jesiden notwendig sind, ist durch insgesamt 127 Kontrollpunkte gesichert, an denen Kontrollen der Reisenden stattfinden (EZKS, Auskunft an VG München und OVG NRW, a.a.O.).

Nach der jüngsten Auskunft des EZKS an das OVG NRW sind im Zeitraum von 2009 bis August 2011 - mindestens - 11 Jesiden bei Anschlägen getötet worden und diverse Entführungen von Jesiden zu verzeichnen. Nach dort angeführten Angaben von Mitarbeitern der Verwaltung und eines im Sindjar lebenden Journalisten ist es auch in den letzten Jahren noch zu einigen Tötungen von Jesiden im Sindjar gekommen. Von 2011 bis September 2013 kamen hiernach 28 Personen durch Erschießen oder Autobomben zu Tode, ganz überwiegend in Mosul. Unter den Getöteten waren 22 jesidische Soldaten und 6 Zivilpersonen. 3 (Zivil-) Personen kamen im Sindjar selbst bzw. in traditionell zum Sindjar zählenden Orten ums Leben. Nach diesem Gutachten greifen Mitglieder terroristischer Gruppen wie der Al-Qaida, in Mosul, auf dem Weg zwischen Sindjar und Mosul, sowie in den arabischen Gebieten, die den Sindjar umgeben, gezielt Jesiden an, wenn sie diese als solche identifizieren können. Die genannten Gebiete stellten für Jesiden letztlich als "No-go-areas" dar.

Im Hinblick auf die Ausübung der jesidischen Religion gibt es keine rechtlichen Beschränkungen und auch die tatsächliche Ausübung der Religion ist gewährleistet. Jesidische religiöse Stätten im Sindjar werden durch extra hierfür eingesetztes Personal geschützt. Während religiöser Zeremonien sind Sicherheitskräfte anwesend (EZKS, Auskunft an OVG NRW, a.a.O., S. 8). Auch eine Pilgerfahrt zu dem traditionellen Pilgerort Lalisch - gelegen im kurdisch verwalteten Gebiet im Nordirak - ist möglich. Anschläge auf diesen Ort sind nicht bekannt.

Die Erledigung behördlicher Angelegenheiten hat sich für Jesiden im Sindjar verschlechtert. Bis Mitte 2013 konnten sie sämtliche Verwaltungsangelegenheiten, die nicht im Sindjar selbst geregelt werden konnten, in Dohuk klären. Seit Einführung einer Aufenthaltsbescheinigung für alle Iraker im Jahre 2011 können bestimmte Verwaltungsangelegenheiten nur noch in der für den Aufenthaltsort des Betroffenen zuständigen (Provinz-) Hauptstadt erledigt werden. Hierzu gehören die Ausstellung von Pässen und Staatsangehörigkeitsurkunden, die Registrierung von Kraftfahrzeugen sowie die Ausstellung von Führerscheinen. Während es möglich ist, die Unterlagen für die Ausstellung einer Staatsangehörigkeitsurkunde in der Stadt Sindjar abzugeben und die Ausstellung derselben durch Mittelsmänner erledigen zu lassen, werden ein Pass, ein Führerschein und die Registrierung eines Fahrzeuges nur bei persönlicher Anwesenheit des Antragstellers bei der zuständigen Behörde in Mosul erteilt bzw. vorgenommen. Jesiden müssen sich deshalb seit diesem Zeitpunkt für diese Angelegenheiten auf den für sie gefährlichen Weg nach Mosul begeben (EZKS, Auskunft an OVG NRW, a.a.O., S. 9 f.).

Die ökonomische und infrastrukturelle Lage der Jesiden im Sindjar kann als dürftig bezeichnet werden. In sämtlichen Zentraldörfern muss die Wasserversorgung über Tankwagen erfolgen. Durch die kurdische Zentralregierung ist allerdings ein Anschluss an die zentrale Wasserversorgung bis zum Jahr 2016 geplant. Derzeit beeinträchtigt die schlechte Wasserversorgung auch massiv die Landwirtschaft. Immerhin gibt es in allen Zentraldörfern eine Gesundheitsstation sowie Schulen, die bis hin zum Abitur führen. In der Stadt Sindjar und der Stadt Sinun existiert jeweils ein Krankenhaus. Die Arbeitslosenquote ist hoch. Sie soll im Jahre 2011 bei 70% gelegen haben, wobei eine fast 100-prozentige Frauenarbeitslosigkeit berücksichtigt ist. Viele Männer arbeiten monatelang in den kurdisch verwalteten Gebieten, u.a. im Bau-, Hotel- und Restaurantbereich. Ein dauerhafter Umzug dorthin ist für sie aufgrund der dort höheren Lebenshaltungskosten und der Unmöglichkeit, sich dort für den Erhalt von subventionierten Lebensmittelkarten registrieren zu können, ausgeschlossen (EZKS, Auskunft an VG Düsseldorf und OVG NRW, a.a.O.).

Ausgehend von dieser Erkenntnislage lässt sich eine Gruppenverfolgung von Jesiden nicht feststellen.

Auch unter Berücksichtigung einer Dunkelziffer zu nicht bekannt gewordenen Anschlägen und unter Berücksichtigung einer deutlich unter den Annahmen des Lageberichts liegenden Bevölkerungszahl von 290.000 Jesiden im Sindjar besteht für die Angehörigen dieser Gruppe keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, allein wegen ihrer Religionszugehörigkeit Opfer gewaltsamen Übergriffs zu werden. Selbst bei Berücksichtigung der nach den vorliegenden Auskünften für die letzten Jahre zu verzeichnenden Tötungen von Jesiden, mithin rund 15 Tötungen im Jahr und gleichzeitiger sehr vorsorglicher Berücksichtigung einer Dunkelziffer von 1 zu 3, lag die statistische Wahrscheinlichkeit eines gewaltsamen Todes und Gefahr ernsthafter Verletzung in den vergangenen Jahren bei 1 zu 5.000 oder 0,02%. Auch wenn man im weiteren zu diesen Opferzahlen noch die immer wieder berichteten Entführungen als religiös motiviert zusätzlich mit einbezieht, ließe sich keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung herleiten. [...]