BlueSky

VG Gießen

Merkliste
Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 25.02.2014 - 1 K 2449/11.GI.A (ASYLMAGAZIN 7-8/2014, S. 254 ff.) - asyl.net: M21954
https://www.asyl.net/rsdb/M21954
Leitsatz:

1. Die konkrete Gefahr einer Retraumatisierung durch zwangsweise Rückkehr in das Heimatland begründet ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

2. Bei einer auf schweren Menschenrechtsverletzungen im Heimatland beruhenden chronischen posttraumatischen Belastungsstörung (hier: Kindersoldat während des Bürgerkriegs in Sierra Leone) kann eine Retraumatisierung allein durch die zwangsweise Rückkehr ins Heimatland ausgelöst werden.

3. Eine chronische posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine Erkrankung, die je nach Schwere der traumatischen Erlebnisse ihre klinische Relevanz für den Betroffenen ein Leben lang behalten kann. Ein Schutz vor den Flashback auslösenden Triggern ist dann lebenslang notwendig, selbst wenn eine Traumatherapie abgeschlossen wurde.

4. Zur Anwendung der Aussageanalyse auf schriftliche Anhörungsprotokolle.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, Sierra Leone, Kindersoldat, Aussageanalyse, Flashback, Traumatherapie, Anhörung, Glaubwürdigkeit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger steht darüber hinaus aus einem weiteren Grund Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu.

Der Kläger leidet nachweislich an einer chronischen posttraumatischen Belastungsstörung. Den hieran durch die Beklagte geäußerten Zweifeln vermag das Gericht nicht zu folgen. Zu Recht weist zwar das Bundesamt darauf hin, in dem Gutachten des Dr. med. H. vom 31.01.2008 sei keine dissoziale Persönlichkeitsstörung bei dem Kläger festgestellt worden (vgl. Gutachten Dr. H. vom 31.08.2008, S. 33). Gleichzeitig diagnostiziert der Gutachter aber eine eindeutige posttraumatische Belastungsstörung (S. 30/31). Bei diesen beiden Störungen handelt es sich schon ursächlich um zwei völlig verschiedene Dinge: Während Erstere in der Persönlichkeit der Person begründet liegt, findet Letztere ihre Ursache im Erleben schwerwiegender Traumata. Letzteres ist beim Kläger der Fall. Das durch den Gutachter festgestellte Fehlen der dissozialen Persönlichkeitsstörung bekräftigt im Grunde nichts Anderes, als dass auch die Straftaten, welche der Kläger in Deutschland begangen hat, auf seine traumatische Kindheit und Jugend, nicht dagegen auf eine "mitgebrachte" Veranlagung zurückzuführen sind. Auch die Gutachterin Frau Diplom-Psychologin N. diagnostiziert eindeutig das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung beim Kläger (vgl. Dipl.-Psych. N., Klinisch-psychologische gutachterliche Stellungnahme vom 18.04.2012, S. 19, 20, 22). Die Beklagte hat keine Gesichtspunkte vorgetragen, die Zweifel an der Richtigkeit dieser Diagnose begründen könnten. Insbesondere sind Bedenken im Hinblick auf die wissenschaftlichen Grundlagen der durchgeführten Anamnese nebst diversen psychologischen Tests nicht geltend gemacht worden und auch nicht ersichtlich. Die Gutachterin beschreibt auf den Seiten 1 bis 3 der schriftlichen Begutachtung nachvollziehbar die angewendeten Methoden, Informationsquellen und den Untersuchungsablauf. Die Beklagte stützt die vorgebrachten Zweifel darauf, dass die Gutachterin die Aussagen des Klägers als glaubhaft eingestuft habe, obwohl sie die abschließende Glaubhaftigkeitsprüfung andererseits (zu Recht) in die Zuständigkeit der juristischen Entscheidungsträger verweise. Dieses Vorbringen überzeugt aus mehreren Gründen nicht: Zum Einen hat die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid vom 16.08.2011 selbst keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Schilderungen des Klägers geäußert, sondern ihnen (lediglich) die rechtliche Relevanz für die Zuerkennung von Asylrecht, Flüchtlingsstatus und Abschiebungsschutz abgesprochen. Bereits aus diesem Grunde dürfte es der Beklagten verwehrt sein, nunmehr die Glaubhaftigkeit der klägerischen Schilderungen infrage zu stellen. Zum Anderen benennt die Gutachterin mit ihrem Hinweis, sie führe keine Glaubhaftigkeitsprüfung im engeren Sinne durch, sondern dies sei Sache der juristischen Entscheidungsträger, lediglich die korrekte Aufgabenverteilung. Dadurch wird das von ihr gefundene Ergebnis aber nicht insgesamt infrage gestellt. Im Gegenteil hat die Gutachterin differenziert dargelegt, aufgrund welcher Umstände die Schilderungen des Klägers dem Grunde nach die gestellte Diagnose tragen. So heißt es auf Seite 18: "Während er über die schlimmen Ereignisse in Sierra Leone sprach, wirkte Herr. A. sehr belastet und zeigte physiologische Reaktionen (..). Außerdem äußerte er intensive Schuldgefühle. Dies sind nach A. Birck (2006) Hinweise für die Erlebnisfundiertheit der berichteten Ereignisse." Weiter auf S. 22: "Wie oben (…) ausführlich diskutiert wurde, ist aus klinischer Sicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Herr A. in Sierra Leone zum Kindersoldaten zwangsrekrutiert wurde und in dieser Zeit Traumatisierungen erlebt hat, welche die bestehenden Symptome der PTBS verursacht haben. Ferner ist davon auszugehen, dass die explorierten Symptome tatsächlich bestehen und nicht simuliert sind."

Dieses Ergebnis ist aus der Gesamtschau der Begutachtung nach Überzeugung des Gerichts nachvollziehbar und gut begründet. Allein der Umstand, dass nach therapeutischer Behandlung im Jahre 2008 bereits einmal eine Verbesserung der psychischen Verfassung des Klägers festgestellt wurde, begründet keine Zweifel an der Richtigkeit dieser Diagnose. Denn zum einen macht die Beklagte selbst nicht geltend, dass der Kläger eine gezielte Traumatherapie abgeschlossen hat. Und zum anderen ist die chronische posttraumatische Belastungsstörung eine Erkrankung, die je nach Schwere der traumatischen Erlebnisse ihre klinische Relevanz für den Betroffenen ein Leben lang behalten kann. Besonders gilt diese im Hinblick auf die Gefahr einer Retraumatisierung, wenn das Vermeiden der Flashbacks auslösenden Trigger nicht gelingt (vgl. Anna-Katharina Kreyer, Experimentelle Überprüfung psychophysiologischer Prozesse im EMDR <Eye Movement Desensitization and Reprocessing>, Dissertation 2008, S. 20 ff.; Graessner/Wenk-Ansohn, Die Spuren von Folter, Berlin 2000, S. 75 ff.). Der Schutz vor und Vermeidung von Triggern behält dabei dauerhaft seine Bedeutung (vgl. Klaus Hennicke, Trauma und Geistige Behinderung, Eine Einführung, www.izsr.de/downloads/Klaus_Hennicke.pdf). Alledem zufolge sprechen die Argumente der Beklagten nicht gegen die Richtigkeit der gestellten Diagnose.

Die posttraumatische Belastungsstörung kann in Sierra Leone nur medikamentös, nicht aber angemessen durch einen Traumatherapeuten behandelt werden; so heißt es in der diesbezüglichen Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Conakry an das Verwaltungsgericht Aachen vom 21.02.2007, dass die posttraumatische Belastungsstörung zwar in einem Krankenhaus in Freetown behandelt werden könne, dass diese Behandlung aber in erster Linie in der Verabreichung von Antidepressiva bestehe und nur in sehr geringem Maße stützende Gespräche eingeschlossen werden könnten. Hinzu kommt, dass im Falle der Mittellosigkeit keine Unterstützung erlangt werden kann, sodass in diesem Falle auch die Behandelbarkeit der Krankheit entfällt (Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Accra an Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 04.09.2012). Anhaltspunkte dafür, dass sich diese Situation in der Zwischenzeit geändert haben könnte, sieht das Gericht nicht und die Beklagte macht solche auch nicht geltend.

Hinzu kommt, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Sierra Leone mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Retraumatisierung erfahren würde. Damit würde akute Suizidgefahr, mindestens aber die Gefahr einer massiven Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes des Klägers einhergehen, mit der Folge, dass sein dortiges Überleben über kurz oder lang mehr als infrage gestellt wäre. Eine Abschiebung des Klägers käme damit letztlich seiner Abschiebung in den sicheren Tod gleich, mindestens wäre sie mit einer erheblichen Gefährdung für Leib und Leben verbunden. Dabei spielt die zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob der Kläger tatsächlich aufgrund seiner während der Zeit als Kindersoldat begangenen Gewalttaten mit Racheakten aus der Bevölkerung rechnen müsste, keine entscheidende Rolle. Vielmehr kommt es allein darauf an, dass aus der subjektiven Sicht des Klägers diesbezüglich massive Ängste bestehen und er in Sierra Leone darüber hinaus zahlreichen Trigger-Situationen ausgesetzt wäre. Dies alles würde aus dem Kläger binnen kürzester Zeit ein "psychisches Wrack" machen, ein halbwegs normales Leben, gar Arbeiten gehen, um Geld zu verdienen, wäre praktisch unmöglich.

Hierzu hat die Diplom-Psychologin N. in ihrem Gutachten vom 18.04.2012 ausgeführt: "Aus wissenschaftlichen Untersuchungen geht hervor, dass es im Gehirn von traumatisierten Personen zu neurophysiologischen Veränderungen kommt (z.B. Ledoux 201, Ehlers 1999). Aufgrund dieser Veränderungen ist der erkrankten Person die Unterscheidung zwischen objektiver Bedrohung und subjektiver traumaspezifischer Befürchtung nicht möglich. In der Folge erwarten betroffene Personen ein Wiedererleben der traumatisierenden Erfahrungen, sobald sie mit einem Hinweisreiz konfrontiert sind."

Das Gericht hat dabei keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussagen des Klägers über die Erlebnisse in seiner Kindheit und Jugend in Sierra Leone, welche der Diagnose einer chronischen posttraumatischen Belastungsstörung zugrunde liegen. Über die dortigen Erlebnisse des Klägers existieren im Wesentlichen vier Niederschriften: Die Zusammenfassungen in den beiden psychologischen Begutachtungen, das Anhörungsprotokoll des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15.04.2008 und die schriftliche Eingabe an das Gericht vom 21.09.2011.

Wenn auch die Schilderungen des Klägers in Einzelheiten nicht immer übereinstimmen, so enthalten sie doch eine Menge Realitätskriterien, die insgesamt für die Wahrheit des Wesenskerns des Erlebten sprechen; an Warnsignalen mangelt es demgegenüber.

Die Analyse von Aussagen über (angeblich) selbst Erlebtes beruht auf der wissenschaftlich gesicherten Erkenntnis, dass zwischen der Schilderung eines wahren und der eines bewusst unwahren Geschehens ein grundlegender Unterschied besteht. Während einerseits ein Bericht aus dem Gedächtnis rekonstruiert wird, konstruiert andererseits eine (bewusst) lügende Person ihre Aussage aus ihrem gespeicherten Allgemeinwissen. Da es eine schwierige Aufgabe mit hohen Anforderungen an die kognitive Leistungsfähigkeit darstellt, eine Aussage über ein (komplexes) Geschehen ohne eigene Wahrnehmungsgrundlage zu erfinden und zudem über längere Zeiträume aufrechtzuerhalten, ist im zweiten Fall die Wahrscheinlichkeit beispielsweise nebensächlicher Details, sog. abgebrochener Handlungsketten, unerwarteter Komplikationen oder phänomengemäßer Schilderungen unverstandener Handlungselemente gering. Hinzu tritt das Bemühen der lügenden Person, auf sein Gegenüber glaubwürdig zu erscheinen. Daher besteht die begründete Erwartung, dass bewusst falsche Aussagen nur in geringem Ausmaß Selbstkorrekturen und -belastungen sowie das Zugeben von Erinnerungslücken enthalten. Zur Durchführung der Analyse der Aussagequalität sind auf der Basis der dargestellten Annahmen Merkmale zusammengestellt worden, denen indizielle Bedeutung für die Entscheidung zukommen kann, ob die Angaben der untersuchten Person auf tatsächlichem Erleben beruhen. Es handelt sich um aussageimmanente Qualitätsmerkmale (z. B. logische Konsistenz, quantitativer Detailreichtum, raum-zeitliche Verknüpfungen, Schilderung ausgefallener Einzelheiten und psychischer Vorgänge, Entlastung des Beschuldigten, deliktsspezifische Aussageelemente), deren Auftreten in einer Aussage als Hinweis auf die Glaubhaftigkeit der Angaben gilt (vgl. Bundesgerichtshof – BGH -, Urteil vom 30.07.1999 -1 StR 618/98 –, BGHSt 45, 164; Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. 1, Glaubwürdigkeits- und Beweislehre, 2. Auflage, Rdnr. 231 ff.; Wendler/Hoffmann, Technik und Taktik der Befragung im Gerichtsverfahren, 2009, S. 130 ff., 156 ff.).

Die Realitätskriterien und die Lügensignale beruhen beide auf der Erkenntnis, dass praktisch allen unseren Zeugen die Fähigkeit fehlt, eine erfundene Geschichte genauso zu erzählen, wie das für den Bericht eines wirklich gehabten Erlebnisses typisch ist (Kompetenzmangel) (vgl. Bender/Nack, a.a.O., Rdnr. 229).

Gemessen an diesen Erkenntnissen weisen die Schilderungen des Klägers zahlreiche Realitätskriterien auf. Am besten geeignet für eine Aussageanalyse auf der Grundlage der zitierten Methode ist die schriftliche Klagebegründung des Klägers vom 21.09.2011, denn hierbei handelt es sich um einen vom Kläger selbst dem Pfarrer der JVA X., Herrn Z., diktierten Text und damit um ein Dokument, das die Angaben des Klägers so authentisch und wörtlich wie möglich wiedergibt. Herr Z. war selbst in der mündlichen Verhandlung vor Gericht am 25.02.2014 anwesend und hat bestätigt, die Äußerungen des Klägers so wortgetreu wie nur möglich protokolliert zu haben.

Demgegenüber ist das Anhörungsprotokoll des Bundesamtes nur bedingt für eine Aussageanalyse geeignet. Zum Einen wurde der Kläger hier in seinen Schilderungen immer wieder durch Nachfragen des Anhörers unterbrochen, zum Anderen ist unklar, inwieweit es sich um ein wörtliches Protokoll handelt und ob der Anhörer bei der Niederschrift oder dem Diktat die Aussagen des Klägers in dessen Sprachstil wiedergegeben oder möglicherweise in einen abgekürzten und abgewandelten Sprachstil übertragen hat. Hierfür spricht der eigenwillige und etwas abgehackte Sprachstil in der Niederschrift. Sofern letzteres der Fall gewesen sein sollte, ist eine zuverlässige Aussageanalyse anhand dieses Protokolls nur schwer oder gar nicht möglich. Denn um eine zuverlässige Aussageanalyse durchführen zu können, ist es erforderlich, der Auskunftsperson möglichst offene Fragen zu stellen und insbesondere keine juristisch gefärbten Vorgaben zu machen sowie sie nicht zu unterbrechen (vgl. Wendler/Hoffmann, a.a.O., Rdnr. 70 bis 72; Bender/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. II, Vernehmungslehre, 2. Auflage, Rdnr. 562). Weiterhin sollten die Äußerungen der Auskunftsperson so wortgetreu und detailliert festgehalten werden, wie sie gemacht werden; denn nur dann ist es zuverlässig möglich, Realitätskriterien und Warnsignale auszumachen (Bender/Nack, a.a.O., Bd. II, Rdnr. 821 ff.; Wendler/Hoffmann, a.a.O., Rdnr. 84). Das Anhörungsprotokoll des Bundesamtes weist aus, dass dem Kläger mehrmals juristische Vorgaben gemacht wurden ("…. Tatsachen vorzutragen, die seine Furcht vor politischer Verfolgung begründen."; "Es geht ja um Ihre Schutzbedürftigkeit hier in Deutschland, soweit sie sich von Sierra Leone herleitet."; "Haben Sie jetzt alle Gründe für Ihre Schutzbedürftigkeit in Deutschland zu Protokoll gegeben? Haben Sie sich dazu vollständig erklärt?"); es liegt auf der Hand, dass der Kläger durch diese für ihn inhaltlich kaum zu füllenden Formulierungen veranlasst wurde, sich bei seinen Schilderungen auf die Erlebnisse zu beschränken, welche ihm in irgendeiner Form in den vorgegebenen Rahmen zu passen schienen. Dies bedeutet eine Beschränkung und Eingrenzung der Schilderungen aufgrund einer letztlich rein subjektiven Vorauswahl, die der Kläger machte, ohne zu wissen, auf welche Tatsachen und Umstände es letztlich ankommen würde. Der Kläger hat diesen Eindruck auf Nachfragen in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen bestätigt. Dadurch ist eine spätere Aussageanalyse kaum noch möglich.

Solche juristischen Vorgaben sowie Unterbrechungen durch Sachfragen finden sich immer wieder in vielen Anhörungsprotokollen des Bundesamtes; viel besser und zielführender wäre es, Asylbewerber mit einer einzelnen offenen Frage um Schilderung ihrer Geschichte zu bitten (nicht: "Verfolgungsschicksal" oder "Tatsachen, die die Furcht vor politischer Verfolgung begründen" usw.), deren Erzählung nicht zu unterbrechen, möglichst genau zu protokollieren und erst dann, wenn der Asylbewerber von sich aus das Signal gibt, alles Wesentliche berichtet zu haben, mit Nachfragen zu beginnen (vgl. dazu Wendler/Hoffmann, a.a.O., Rdnr. 78 ff.). Hierdurch würde eine subjektive Vorauswahl des zu Schildernden vermieden und eine Untersuchung der Aussagen auf Realitätskriterien und Warnsignale wäre möglich; zu beachten wäre bei dieser Vorgehensweise auch noch ein einwandfreier Einsatz des Dolmetschers als reine Übertragungsperson (vgl. dazu Wendler/Hoffmann, a.a.O., Rdnr. 192 ff.).

Die beiden psychologisch-psychiatrischen Gutachten, die über den Kläger erstellt wurden, geben die dortigen Schilderungen des Klägers jeweils nur zusammengefasst und das Gutachten der Frau N. noch dazu in der dritten Person wieder. Damit ist anhand dieser Protokolle eine direkte Aussageanalyse nicht möglich. Gleichwohl tragen beide zur Wahrheitsfindung bei, indem sie inhaltlich mit dem Ergebnis der eigentlichen Aussageanalyse verglichen werden können.

Die alledem zufolge hauptsächlich zu betrachtende schriftliche Schilderung des Klägers vom 21.09.2011 zeigt bei der Aussageanalyse eine Vielzahl von Realitätskriterien und wenige Warnsignale. Nach der Glaubwürdigkeitslehre gibt es im Wesentlichen drei Hauptgruppen von Realitätskriterien, wobei die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Aussage der Wahrheit – wobei dies auch die subjektive Wahrheit der aussagenden Person sein kann – entspricht, um so höher ist, je mehr qualitativ hochwertige Realitätskriterien eine Aussage enthält und je weniger Phantasie- oder Warnsignale sich darin finden (vgl. Wendler/Hoffmann, a.a.O., Rdnr. 127; Bender/Nack, a.a.O., Band I, Rdnr. 228).

Bei den Realitätskriterien unterscheidet man zwischen inhaltlichen und strukturellen Kriterien sowie den Wiederholungskriterien. Zu den Inhaltskriterien gehören Detailreichtum, Individualität und Verflechtung. Zu den strukturellen Realitätsanzeichen gehören Strukturgleichheit, Nichtsteuerung und Homogenität und zu den Wiederholungskriterien Konstanz und Erweiterung (vgl. Wendler/Hoffmann, a.a.O., Rdnr. 130 ff.; Bender/Nack, a.a.O., Rdnr. 230, 231 ff.). Teil des Realitätskriteriums der Individualität etwa ist das Unverständnis, das der Kläger im Zusammenhang mit der als Kind erlittenen Vergewaltigung ausdrückt, wenn er sagt: "Ich wusste gar nicht, was ich machen sollte." Den Sinn der Aufforderung, die Hose auszuziehen, hatte er als Kind nicht verstehen können und "dann einfach gehorcht." Bei dieser Schilderung finden sich auch erste markante Gefühlsäußerungen: "Ich war vollkommen durcheinander." Und dann habe er "sich verkrochen", er habe sich "total alleine gefühlt" und "gar nicht gerafft, was eigentlich passiert war, aber ich kam mir total kaputt vor," und "ich hoffte nur noch, dass es Nacht wurde und der Tag endlich vorbei wäre." Das Unverständnis einerseits über das, was man von ihm gewollt und dann mit ihm gemacht hatte, demgegenüber die markanten Beschreibungen für nach so einem schrecklichen Erlebnis typische Gefühle, sind als entsprechende Realitätskriterien einzustufen.

Unverständnis für das Geschehen lässt sich auch den dann folgenden Schilderungen entnehmen, als der Kläger seinen Weg zu den Rebellen und seinem Leben als Kindersoldat beschreibt. Auffallend ist hier zunächst, dass der Kläger sowohl in seiner Klagebegründung, als auch vor dem Bundesamt und bei der Diplom-Psychologin Frau N. beschreibt, wie er freiwillig mit den Rebellen mitfuhr, weil man ihm und weiteren Jugendlichen Arbeit und eine gesicherte Zukunft anbot. Der Kläger verzichtet hier auf die Möglichkeit, in einer ihn entlastenden und die erwachsenen Rebellen belastenden Weise eine für die damalige Bürgerkriegssituation typische Zwangsrekrutierung zu konstruieren. Auch dieser "geringe Belastungseifer" ist als Realitätskriterium zu werten (vgl. dazu Bender/Nack, a.a.O., Rdnr. 234). Die folgenden Beschreibungen von Gräueltaten, die der Kläger gesehen hat und/oder an denen er teilnehmen musste, sind eher arm an Realitätskriterien, was aber für die Schilderung traumatisierender Ereignisse geradezu typisch ist (vgl. Wendler/Hoffmann, a.a.O., Rdnr. 204; Graeesner/Wenk-Ansohn, a.a.O., S. 82 f.). Insofern kommt dem insoweit teilweise festzustellenden Warnsignal der Kargheit (vgl. Bender/Nack, a.a.O., Rdnr. 342) keine entscheidende Bedeutung zu (vgl. auch Europäische Kommission für Menschenrechte, InfAuslR 1999, S. 49ff.).

Ab dem Punkt, als die Geschehnisse sich der Flucht des Klägers nähern, werden die Realitätskriterien wieder dichter. Es finden sich Gefühlsäußerungen ("Ich war auch wie betäubt und konnte gar nicht mehr denken.", “Ich fühlte mich wie tot und war vollkommen leer.“ , "(…) habe versucht zu verdrängen, um auf keinen Fall zu zeigen, dass ich immer noch wahnsinnige Angst hatte" usw.), und viele Details (Überfahren eines Mannes, der hinter einem Zaun stand; Wegschießen der Beine des Mannes; Nacht im Bambuskäfig; Zwang zum Scotch-Trinken mit dem Boss; Freund mit dem dicken Fuß, der sterben gelassen wird; zwei deutsche Männer, die das Foto seines Vaters mitnehmen; als er ihnen das Foto zeigt, liegen sie noch auf dem Bauch; Ramata, die Frau, die ihn zum Flüchten animierte; die Flucht – er lief und lief, die Richtung war egal). Struktur und Konstanz der Schilderungen bleiben dabei in etwa gleich, dennoch gibt es Brüche und Unklarheiten, auch Unstimmigkeiten bei Einzelheiten, besonders wenn man die zu verschiedenen Zeitpunkten dokumentierten Schilderungen vergleicht. Aufgrund der bereits benannten Gedächtnisstörungen bei traumatisierten Personen (vgl. dazu auch Anna-Katharina Kreyer, a.a.O., S. 26 mit weiteren Nachweisen; Wendler/Hoffmann, a.a.O., Rdnr. 204), besonders Kindern – wie der Kläger damals – in Verbindung mit den natürlichen Verdrängungsmechanismen, sind diese Unstimmigkeiten aber kein Hinweis auf die Unwahrheit der Schilderungen, sie sprechen vielmehr erst recht dafür, dass die Schilderungen des Klägers zumindest in ihrem Wesenskern auf wahrhaft Erlebtem beruhen. Hier kommt darüber hinaus zum Tragen, dass bei der Rekrutierung von Kindersoldaten Methoden der psychologischen Folter angewendet werden, die systematisch auf Desorientierung und den Verlust von inneren Werten und Gefühlsbindungen abzielen (vgl. Graessner/Wenk-Ansohn, a.a.O., S. 83). Auch dies ist eine Erklärung für die Abweichungen innerhalb der verschiedenen Schilderungen des Klägers.

Hinzu kommt der persönliche Eindruck, den das Gericht sich in der mündlichen Verhandlung von dem Kläger verschaffen konnte. Er hat hierbei einen aufrichtigen und authentischen Eindruck gemacht, seine Emotionen, die bereits beim geringsten Rühren an die Erlebnisse in Sierra Leone zum Vorschein kamen, waren echt und unverfälscht. Alledem zufolge sind die von der Beklagten schriftsätzlich angedeuteten Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Klägers unter keinem denkbaren Gesichtspunkt begründet. Diese Einschätzung des Gerichts deckt sich auch mit jenen der beiden Gutachter (H., S. 31; N., S. 18, 22).

Alledem zufolge ist davon auszugehen, dass der Kläger im Falle der Rückkehr nach Sierra-Leone eine Retraumatisierung erfahren würde; er würde an den Ort einer Vielzahl traumatischer Erlebnisse zurückkehren: Sexueller Missbrauch, Ausgrenzung und Misshandlungen durch die eigene Familie, und, am Schwerwiegendsten: Menschenrechtsverletzungen, zu denen er als Kind gezwungen wurde, Menschenrechtsverletzungen, die an ihm selbst begangen wurden. Dabei kommt es nicht darauf an, dass der Bürgerkrieg in Sierra Leone beendet ist. Es genügt, dass der Kläger aufgrund von Ort und Umständen, Begegnungen mit Menschen, - aufgrund der weitreichenden Amnestien für ehemalige Rebellen sogar mit Tätern -, "Triggern" ausgesetzt wäre, die an das früher Erlebte erinnern würden. Gerade hiervor muss der Kläger aber – aufgrund der oben bereits beschriebenen Langzeitwirkungen der von ihm erfahrenen schweren Traumatisierung - sein Leben lang geschützt werden, und zwar selbst dann, wenn er hier in Deutschland die anzustrebende Traumatherapie abgeschlossen hat. Denn eine zwangsweise Rückführung von durch Menschenhand Traumatisierten mit akuten oder chronifizierten Traumafolgen riskiert eine Dekompensation des Gesundheitszustandes des Opfers. Liegt eine anhaltende schwere Symptomatik vor oder sind die Täter ungestraft vor Ort, ist es für traumatisierte Flüchtlinge oft langfristig unmöglich, in ihre Heimatländer zurückzukehren (vgl. Graessner/Wenk-Ansohn, a.a.O., S. 78 ff., S. 81.). [...]