OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 09.05.2014 - 8 A 10132/14 - asyl.net: M21917
https://www.asyl.net/rsdb/M21917
Leitsatz:

Wird das Vorbringen eines Asylbewerbers mit der Begründung abgelehnt, dieses sei lebensfremd und unrealistisch, ohne dabei auf das Vorbringen konkret belegende Auskünfte oder sonstige Quellen Bezug zu nehmen, darf ein angebotener Zeugenbeweis nicht abgelehnt werden, wenn in das Wissen der benannten Zeugin gestellt wird, dass sich die geschilderten Ereignisse, mögen sie auch unrealistisch oder unwahrscheinlich erscheinen, doch so zugetragen haben.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Beweisantrag, Beweisfragen, Prozessrecht, Glaubwürdigkeit, Zeugen, Zeugenbeweis, rechtliches Gehör, Berufungszulassung, Afghanistan, Zina, Überraschungsentscheidung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Vorliegend erweist sich die Ablehnung der in der mündlichen Verhandlung vom 11. Dezember 2013 durch den Prozessbevollmächtigten des Klägers gestellten Beweisanträge als prozessrechtswidrig. Die Anträge, Beweis durch Vernehmung der Lebensgefährtin des Klägers, ..., zu konkreten Tatsachenbehauptungen des Klägers, durch Einholung einer Auskunft der Deutschen Botschaft Kabul zur Frage einer dem Kläger in Afghanistan drohenden Strafverfolgung wegen einer außerehelichen Beziehung sowie durch Einholung von Sachverständigengutachten zur Echtheit der von ihm vorgelegten Urkunden und zu dem in Afghanistan drohenden Strafmaß für außerehelichen Geschlechtsverkehr und Ehebruch zu erheben, waren hinreichend substantiiert (vgl. zu den diesbezüglichen Anforderungen: BVerwG, Beschluss vom 30. Juni 2008 - 5 B 198.07 -, juris, Rn. 5). Das benannte Beweisthema war darüber hinaus nicht unerheblich für den geltend gemachten Anspruch des Klägers auf Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. hilfsweise auf subsidiären Schutz nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 AsylVfG. Sofern die Beweisfragen für ihn positiv beantworten würden, könnte dem Kläger in Afghanistan staatliche Strafverfolgung nach Art. 426 bis 429 des afghanischen Strafgesetzes wegen "Zina" (außerehelicher Geschlechtsverkehr mit einer verheirateten Frau) mit der Gefahr überharter und damit unmenschlicher Bestrafung oder auch Verfolgung durch private Akteure wegen Ehebruchs drohen, vor der ihm der afghanische Staat möglicherweise keinen effektiven Schutz gewähren kann oder will (vgl. zur Gesamtproblematik z.B. die Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe "Afghanistan: Zina, außerehelicher Geschlechtsverkehr" vom 2. Oktober 2012). Darüber hinaus hat der Umstand, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Beweisanträge in der mündlichen Verhandlung zuletzt nur hilfsweise gestellt hat, nicht den Verlust des Rechts zur Folge, wegen der Verletzung rechtlichen Gehörs zu rügen, dass die Beweisanträge im Urteil aus Gründen abgelehnt wurden, die im Prozessrecht keine Stütze finden (vgl. dazu z.B. Sächsisches OVG, Beschluss vom 26. Mai 2005 - 3 B 16/02.A -, NVwZ-RR 2006, 741 und juris, Rn. 4 f. sowie Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl. 2012, § 86, Rn. 19, jeweils mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen).

Die Ablehnung der danach hinreichend substantiieren und nicht unerheblichen Beweisanträge findet im Prozessrecht keine Stütze. Zwar braucht das Tatsachengericht nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch substantiierten Beweisanträgen zum Verfolgungsgeschehen dann nicht nachzugehen, sondern kann die Klage ohne Beweisaufnahme abweisen, wenn die Schilderung seines persönlichen Verfolgungsschicksals durch den Asylbewerber entweder in wesentlichen Punkten unzutreffend oder in nicht auflösbarer Weise widersprüchlich ist (vgl. insbesondere: BVerwG, Beschluss vom 26. Oktober 1989 - 9 B 405.89 -, NVwZ-RR 1990, 379 und juris, Rn. 8). Diese Voraussetzungen liegen indessen hier nicht vor.

Zunächst ist die Verweisung des Verwaltungsgerichts in den Entscheidungsgründen des Urteils auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid der Beklagten für sich allein nicht tragfähig, um die gestellten Beweisanträge ablehnen zu können. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat in der Begründung des Ablehnungsbescheids den Vortrag des Klägers zu seinem behaupteten Verfolgungsschicksal im Wesentlichen nur deshalb als "keineswegs glaubhaft" angesehen, weil ihm dieser als "lebensfremd" und "unrealistisch" erschien, ohne dabei allerdings auf dies konkret belegende sachverständige Auskünfte oder sonstige Quellen Bezug zu nehmen. Dies rechtfertigt insbesondere nicht die Ablehnung eines angebotenen Zeugenbeweises, wenn - wie hier - in das Wissen der benannten Zeugin gestellt wird, dass sich die geschilderten Ereignisse - mögen sie auch unwahrscheinlich oder unrealistisch erscheinen - doch so zugetragen haben (vgl. dazu z.B. BVerwG, Urteil vom 8. Februar 1983 - 9 C 598.82 -, MDR 1983, 869 und juris, Rn. 12, m.w.N.).

Darüber hinaus kann auch nicht angenommen werden, dass sich das Vorbringen des Klägers zu seinem Verfolgungsschicksal aus den in dem angefochtenen Urteil im Einzelnen aufgeführten Gründen als in wesentlichen Punkten unzutreffend oder als in nicht auflösbarer Weise widersprüchlich erweist. Soweit das Verwaltungsgericht dem Kläger im Urteil vorhält, bereits seine Angaben zu seinem Familienstand seien ungereimt, weil er bei der Polizeiinspektion Ludwigshafen erklärt hatte, Frau ... sei seine Ehefrau, während er gegenüber dem Bundesamt angeführt hatte, er sei mit ihr nicht verheiratet, setzt sich das Verwaltungsgericht nicht damit auseinander, dass der Kläger beim Bundesamt seine gegenüber der Polizei in einer Notsituation unmittelbar nach der Einreise getätigte Falschangabe plausibel damit begründet hatte, er habe seinerzeit befürchtet, bei wahrheitsgemäßen Angaben von seiner Lebensgefährtin getrennt zu werden. Dass das Verwaltungsgericht auf diesen in der mündlichen Verhandlung nicht erörterten Gesichtspunkt maßgeblich abstellen würde, war für den Prozessbevollmächtigten des Klägers vor dem Hintergrund der Klärung dieser "Ungereimtheit" bereits beim Bundesamt nicht zu erwarten und stellt sich daher als unzulässige Überraschungsentscheidung dar.

Auch die weiteren vom Verwaltungsgericht angeführten, angeblichen Ungereimtheiten und Widersprüche zwischen Angaben des Klägers beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung erweisen sich bei näherer Betrachtung nicht als solche oder stellen sich sogar als aktenwidrige Sachverhaltsfeststellungen dar. So besteht tatsächlich kein Widerspruch der Angaben des Klägers beim Bundesamt zum erfolgreichen wirtschaftlichen Agieren des Ehemanns der Frau ... und seiner Familie in Afghanistan einerseits und zu dessen wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Iran nach seiner Flucht dorthin wegen einer ihm in Afghanistan drohenden Strafverfolgung andererseits zu seinen diesbezüglichen ergänzenden Angaben in der mündlichen Verhandlung; die Angaben stimmen vielmehr überein. Dass die Aussage des Klägers in der mündlichen Verhandlung, Frau ... sei nicht allein, sondern in Begleitung ihres Ehemanns in den Iran gereist, im Widerspruch zu seinem diesbezüglichen Vorbringen beim Bundesamt steht, ist ebenfalls eine aktenwidrige Feststellung. Denn der Kläger hatte bereits beim Bundesamt in Übereinstimmung mit den dortigen Angaben der Frau ... vorgetragen, diese sei seinerzeit gemeinsam mit ihrem Ehemann und den Kindern von Afghanistan aus illegal in den Iran eingereist, dann aber viele Monate später - nach wiederholten Misshandlungen durch ihren Ehemann auch im Iran - allein zu der Wohnung des ... geflüchtet. Nichts anderes geben die hierzu protokollierten ergänzenden Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung her. Auch die angebliche Widersprüchlichkeit von Artgaben des Klägers zu einem "Zwischenaufenthalt bei einem Freund" kann bei einem Vergleich des Anhörungsprotokolls des Bundesamt und der Niederschrift der mündlichen Verhandlung nicht nachvollzogen werden. Soweit das Verwaltungsgericht schließlich noch ausgeführt hat, die Angaben des Klägers zu den Besuchen seiner Freundin bei ... und ihren dort getätigten Äußerungen seien wenig plausibel, weil sie unter Berücksichtigung der Gepflogenheiten im Heimatland des Klägers keinem typischen Geschehensablauf entsprächen, vermag dies insbesondere nicht die Ablehnung des Beweisantrags auf Vernehmung der Zeugin ... zu begründen. Denn es erweist sich im Ergebnis als eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung, wenn damit unterstellt wird, auch eine Vernehmung der Zeugin ... zu diesem Sachvertrag sei von vornherein ungeeignet, dessen Wahrheitsgehalt zu bestätigen.

Sind danach die die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragenden Ausführungen in den Urteilsgründen insgesamt nicht geeignet, zu belegen, dass die Schilderungen des Klägers zu seinem Verfolgungsschicksal in wesentlichen Punkten unzutreffend oder in nicht auflösbarer Weise widersprüchlich sind, so hätte das Verwaltungsgericht den Beweisanträgen nachgehen und insbesondere die von ihm offengelassene Frage der Echtheit der vom Kläger vorgelegten Urkunden klären müssen. [...]