VG Schwerin

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Zitieren als:
VG Schwerin, Beschluss vom 15.05.2014 - 3 B 418/14 As - asyl.net: M21916
https://www.asyl.net/rsdb/M21916
Leitsatz:

1. Zur Verletzung rechtlichen Gehörs bei einer Entscheidung vor Ablauf einer richterlichen Frist.

2. Bei fehlender Berücksichtigung eines Vortrags, der nicht entscheidungserheblich ist, ist die angegriffene Entscheidung aufrecht zu erhalten.

3. Nach Auffassung der 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Schwerin bestehen derzeit unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnisse im Fall der Überstellung sog. Dublin- Rückkehrer nach Italien immer noch erhebliche Gefahren wegen systembedingter ("systemischer") Mängel bei den dortigen Aufnahmebedingungen (vgl. zuletzt VG Schwerin, Beschluss vom 13. November 2013 – 3 B 315/13 As –, juris). Diese Bedenken sind trotz neuerer gegenteiliger Rechtsprechung derzeit noch nicht ausgeräumt.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: rechtliches Gehör, Entscheidungserheblichkeit, Dublin-Rückkehrer, Dublinverfahren, Italien, systemische Mängel, Aufnahmebedingungen, Dublin II-VO,
Normen: VwGO § 152a,
Auszüge:

[...]

b) Das Gericht sieht sich wegen des Inhalts des nachfolgend eingegangenen Schriftsatzes vom 3. April 2014 zu keiner abweichenden Entscheidung veranlasst. Nach Auffassung der Kammer bestehen nach summarischer Wertung erhebliche Defizite im Bereich der Unterbringung von Asylbewerbern – einschließlich sog. Dublin-Rückkehrer -, da eine Unterbringung erst erfolgt, wenn der Asylbewerber nicht nur einen Asylantrag gestellt, sondern er bei der nachfolgenden verbalizzazione auch registriert worden ist. Zwischen den Terminen für Antragstellung und Begründung lagen bislang zum Teil erhebliche Zeiträume von mehreren Wochen oder gar Monaten (vgl. Schweizer Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen vom 13. Oktober 2013, S. 12; UNHCR, Stellungnahme an das Verwaltungsgericht Darmstadt vom 3. Dezember 2013, S. 8; UNHCR, Empfehlungen zu ichtigen Aspekten des Flüchtlingsschutzes in Italien (Juli 2013), S. 6 f.).

Daraus könnte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen, da die Asylbewerber in dem Zeitraum auf sich allein gestellt und häufig obdachlos sind (vgl. etwa Schweizer Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen vom 13. Oktober 2013, S. 12).

Zwar gibt es nach Angaben der Schweizer Flüchtlingshilfe und UNHCR eine Weisung des italienischen Innenministeriums, die genannten Antragstermine zusammenzuführen. Ob diese und weitere Maßnahme tatsächlich zu Verbesserungen führen, bleibe abzuwarten (vgl. Schweizer Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen vom 13. Oktober 2013, S. 12).

Auch UNHCR spricht von Verbesserungen, aber nicht davon, dass dieser Mangel mittlerweile (weitgehend) abgestellt worden ist (vgl. UNHCR, Stellungnahme an das Verwaltungsgericht Darmstadt, S. 8; Empfehlungen, S. 6 f.).

In der zeitlichen Lücke zwischen Antragstellung und Registrierung des Asylbewerbers sieht die Kammer bei summarischer Wertung einen systemischen Mangel der Aufnahmebedingungen in dem Sinne, dass es regelhaft so defizitär ist, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber auch im konkret zu entscheidenden Einzelfall dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (zur Definition des systemischem Mangels vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 – 10 B 6/14 –, juris LS und Rn. 6. - Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13 –, juris Rn. 47, sieht darin ebenfalls einen systemischen Mangel, hält aber die getroffenen Maßnahmen der italienischen Regierung für ausreichend).

Ob die Maßnahmen der italienischen Regierung zur Beseitung der genannten Defizite ausreichend sind, ist nach den vorhandenen Quellen mit der erforderlichen Sicherheit bislang nicht feststellbar.

c) Des weiteren liegen dem Gericht keine hinreichend verlässlichen Zahlen bezüglich der Aufnahmekapazitäten in den verschiedenen Unterbringungszentren und weiteren Einrichtungen vor. Insbesondere fehlen Zahlenangaben aus dem karitativen und kommunalen Bereich. Dies gilt auch im Hinblick auf die künftige Entwicklung der Asylbewerberzahlen in Italien.

d) Soweit die Antragsgegnerin auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vom 2. April 2013 – Nr. 27725/10 - (Samsam Mohammed Hossein u. a.) (ZAR 2013, 336) verweist, macht die Kammer darauf aufmerksam, dass die Richterin am EGMR Angelika Nußberger in ihrem Referat auf dem 17. Verwaltungsgerichtstag Münster 2013 zur Frage der Rückführungen nach der Dublin-IIVerordnung ausgeführt hat, es sei fraglich, inwieweit dieses Urteil, das die sehr spezielle Situation einer Asylbewerberin aus Somalia in den Blick nehme, verallgemeinerungsfähig sei. Ähnlich gelagerte Fälle seien noch anhängig (vgl. Nußberger, Menschenrechtsschutz im Ausländerrecht, Verein Deutscher Verwaltungsgerichtstag e. V. (Hrsg.), 17. Deutscher Verwaltungsgerichtstag, S. 343 (351)).

Insofern spricht viel dafür, dass eine grundlegende Klärung der aufgeworfenen Fragen durch den EGMR – Große Kammer - noch erfolgen wird (vgl. dazu Sattler, Strassburg hinterfragt Abschiebungen nach Italien, Neue Züricher Zeitung vom 11. Februar 2014).

Die genannten Gesichtspunkte müssen ggf. im Hauptsacheverfahren aufgeklärt werden. [...]