VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 06.05.2014 - 9 L 147.14 A - asyl.net: M21905
https://www.asyl.net/rsdb/M21905
Leitsatz:

Es besteht berechtigter Anlass zur Sorge, dass gerade Asylbewerber mit besonderen Bedürfnissen in Bulgarien nicht die erforderliche medizinische und therapeutische Unterstützung erhalten.

Schlagwörter: systemische Mängel, Bulgarien, Depression, psychische Erkrankung, Suizidgefahr, Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, medizinische Versorgung, Aufnahmebedingungen,
Normen: VwGO § 80 Abs. 7 S. 2, VwGO § 80 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Zwar ist das Gericht unter Bezugnahme auf die Ausführungen in dem Beschluss vom 24. April 2014 weiterhin der Ansicht, dass systemische Mängel im Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Bulgarien nicht (mehr) zu besorgen sind. Es bestehen indes hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller zu dem besonders schützenswerten Personenkreis der psychisch erkrankten Asylbewerber gehören könnte. Der begutachtende Psychologe ist auf der Grundlage der Schilderungen des Antragstellers in einem ausführlichen Anamnesegespräch zu der Einschätzung gelangt, dass die vorgebrachten Beschwerden ein konsistentes Bild mit den geschilderten Erlebnissen ergeben und vor diesem Hintergrund plausibel erscheinen. Es bestehe der Verdacht einer mittelschwer ausgeprägten Posttraumatischen Belastungsstörung. Bei einer Gesamtwürdigung der Persönlichkeitsstruktur müsse davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller sehr leicht in einen schwereren depressiven Zustand geraten könne. Bei einer Erhöhung des psychischen Stresses, z.B. im Falle einer Rückkehr nach Bulgarien, werde die Manifestation einer Depression mit akuter Suizidalität wahrscheinlicher. Zweifel an der Richtigkeit der fachlichen Einschätzung bestehen nicht. Die Stellungnahme ist ausführlich, fundiert und stellt strukturiert dar, auf welcher Grundlage die Bewertung vorgenommen worden ist. Zugleich macht der Psychologe aber auch transparent, wo seiner Bewertung Grenzen gesetzt sind. Er legt sich ausdrücklich nicht auf eine Diagnose fest und erläutert dazu, dass das einmalige Anamnesegespräch keine ausreichende Grundlage für eine aussagepsychologische Beurteilung liefern konnte. Er rät dringend, den Antragsteller einer eingehenden psychiatrischen Diagnostik zuzuführen und erforderlichenfalls eine geeignete Behandlung aufzunehmen, um das Risiko einer möglichen akuten suizidalen Krise zu verringern. Der begutachtende Psychologe hat damit zugleich nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, dass beachtliche Anhaltspunkte bestehen, die für das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen psychische Erkrankung beim Antragsteller sprechen.

Selbst wenn die Antragsgegnerin die bulgarischen Behörden im Vorfeld der Überstellung auf die Notwendigkeit der fachärztlichen Abklärung der Verdachtsdiagnose hinweisen würde, wäre im Falle einer Überstellung nach Ungarn nicht sichergestellt, dass eine solche auch vorgenommen werden könnte und dem Antragsteller zudem die gegebenenfalls erforderliche fachmedizinische und psychotherapeutische Versorgung zuteilwerden würde. Denn nach den vorliegenden Erkenntnissen besteht berechtigter Anlass zur Sorge, dass gerade Asylbewerber mit besonderen Bedürfnissen in Bulgarien nicht die erforderliche medizinische und therapeutische Unterstützung erhalten. Dem jüngsten Bericht des UNHCR (UNHCR, Bulgaria - As a Country of Asylum, UNHCR Observations an the Current Situation of Asylum in Bulgaria, April 2014), der in Abkehr von dem nur wenige Monate zuvor verfassten Bericht vom 2. Januar 2014 ausdrücklich nicht mehr die Empfehlung ausspricht, von Überstellungen nach Bulgarien abzusehen, ist zu entnehmen, dass im Hinblick auf Personen mit besonderen Bedürfnissen die Gefahr besteht, dass diese nicht als solche erkannt, aber selbst Im Falle der Identifizierung nicht entsprechend behandelt werden (s. dort S. 8: UNHCR remains concerned about the lack of ... a System to respond to such needs once identified."). Die bulgarischen Behörden hätten zwar eine Fragetechnik eingeführt, anhand derer den Mitarbeitern eine frühzeitige Identifizierung von besonders schutzbedürftigen Personen möglich ist. Jedoch sei diese Fragetechnik bislang noch nicht systematisch etabliert worden. Von den sieben Aufnahmezentren seien drei Zentren mit permanenten Ärzten und Krankenschwestern ausgestattet worden. In den anderen Aufnahmezentren werde die medizinische Versorgung zeitweise durch Mitarbeiter von "Ärzte ohne Grenzen" sichergestellt. Diese planten, sich bis Ende Mai 2014 zurückzuziehen, um durch von den bulgarischen Behörden eingesetzte Allgemeinmediziner abgelöst zu werden.

Das Gericht geht - auch im Hinblick auf die besondere Bedeutung der Dokumente des UNHCR wie auch der des European Asylum Support Office (EASO) in Bezug auf die tatsächliche Feststellung von Mängeln im Asylsystem eines Mitgliedstaates (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013 - C-528/11 -, juris) - von der Richtigkeit der In dem zitierten UNHCR-Bericht vom April 2014 geschilderten Verhältnisse aus. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Hinweis der Antragsgegnerin auf ältere Berichte ("the AIDA Asylum Information Database National Country Report Bulgaria" des bulgarischen Helsinki Committee vom 25. April 2013; UNHCR, "Where is my home? Homelesseness and Access to Housing among Asylum-Seekers, Refugees and Persons with International Protection in Bulgaria - Sofia 2013").

Vor diesem Hintergrund sind die Erfolgsaussichten der Klage des Antragstellers als offen anzusehen mit der Folge, dass eine reine Interessenabwägung vorzunehmen ist. Dabei überwiegt das Suspensivinteresse des Antragstellers angesichts der ihm möglicherweise drohenden gravierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen gegenüber dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug. [...]