VG Gelsenkirchen

Merkliste
Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 18.12.2013 - 7a K 3240/13.A - asyl.net: M21883
https://www.asyl.net/rsdb/M21883
Leitsatz:

Für eine Verfolgungshandlung sind gewalttätige Übergriffe einzelner Polizisten gegen Roma, die für ihre Rechte eintreten, nicht ausreichend, solange es sich nicht um systematische Gewalttaten gegen Minderheiten handelt.

Schlagwörter: Albanien, Roma, Demonstration, Asylrelevanz, Menschenrechtsverletzungen, Flüchtlingsanerkennung, Diskriminierung,
Normen: AsylVfG § 3a Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylVfG.

Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist – in Übereinstimmung mit Art. 2 lit. d der Qualifikationsrichtlinie – ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG sind in § 3a Abs. 1 AsylVfG Handlungen definiert, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte, insbesondere der in Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – genannten, darstellen (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG) oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG).

Dem Aufbau des § 3a Abs. 1 AsylVfG folgend ist daher zunächst zu prüfen, ob eine Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG vorliegt. Ist dies nicht der Fall, ist anschließend zu prüfen, ob die Summe der nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG zu berücksichtigenden Eingriffe zu einer ähnlich schweren Rechtsverletzung führt wie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG. Für eine Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG müssen die einzelnen Eingriffshandlungen nicht für sich allein die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG entspricht (vgl. zu Prüfungsreihenfolge und Maßstab: BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, juris, Rdnr. 36 ff. (zu der durch § 3a AsylVfG umgesetzten Regelung in Art. 9 der Qualifikationsrichtlinie)).

Bei der Prüfung einer Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG sind daher alle in Betrachtung kommenden Eingriffshandlungen - Menschenrechtsverletzungen, sonstige schwerwiegende Repressalien, Diskriminierungen, Nachteile und Beeinträchtigungen - einzubeziehen; sie dürfen nicht bereits deshalb ausgeschlossen werden, weil sie nur eine Diskriminierung, aber keine Menschenrechtsverletzung darstellen (vgl. BVerwG, a.a.O.).

Mögliche Verfolgungshandlungen werden in § 3a Abs. 2 AsylVfG aufgezählt. Dazu gehören unter anderem die Anwendung von Gewalt sowie diskriminierende oder in diskriminierender Weise angewandte gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen. Eine Verfolgung im Sinne dieser Bestimmungen kann nach § 3c AsylVfG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.

Das Gericht ist in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung davon überzeugt, dass die Kläger einer Verfolgung im geschilderten Sinne nicht ausgesetzt sind. Die von den Klägern geschilderten Schwierigkeiten in ihrem Heimatland erreichen weder für sich betrachtet noch zusammengenommen die Schwelle der schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte oder der vergleichbar gravierenden Maßnahmen im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylVfG. Es kann daher offen bleiben, ob die Darstellung der Kläger in allen Einzelheiten glaubhaft ist.

Das Gericht geht dabei davon aus, dass die Kläger Angehörige der Volksgruppe der Roma sind. Dafür sprechen ihr Engagement in einem Verein, der sich für die Rechte dieser Volksgruppe einsetzt, die von den Klägern in der mündlichen Verhandlung eingereichten Bescheinigungen des Verbands Deutscher Sinti und Roma e.V. vom 12. Dezember 2013 und des Rroma Lehrer Vereins für Schulbildung und Kultur e.V. vom 10. Dezember 2013 sowie ihre nachvollziehbare Schilderung in der mündlichen Verhandlung, aus welchen Gründen sie die Roma-Sprache zwar verstehen, aber nicht selbst sprechen.

Die von den Klägern zu 1. und 2. dargelegten Vorfälle bei Demonstrationen für Roma-Rechte im Juli und November 2012 sind nicht als schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG einzustufen.

Grundlegende Menschenrechte umfassen nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG insbesondere die in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Rechte auf Leben, Freiheit von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung, Freiheit von Sklaverei und Leibeigenschaft sowie das Recht darauf, keiner Strafe ohne Gesetz ausgesetzt zu werden. Die EMRK schützt zudem in Art. 5 das Recht auf Freiheit und Sicherheit und in Art. 11 die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und enthält in Art. 14 EMRK ein Diskriminierungsverbot, nach dem die übrigen Rechte der Konvention jeder Person unterschiedslos zu gewährleisten sind.

Die von den Klägern geschilderten Festnahmen im Zusammenhang mit den Demonstrationen für Rechte der Roma in Tirana im Juli und November 2012 verletzen diese Rechte nicht in schwerwiegender Weise. Die von ihnen geschilderten gewalttätigen Übergriffe durch einzelne Polizisten während der Vernehmung stellen sich dem Gericht als kriminelle Handlungen einzelner im Rahmen ihrer Tätigkeit für den Staat dar. Aus den vorliegenden Erkenntnissen ergeben sich keine Hinweise darauf, dass es sich um systematische Gewalttaten gegen Minderheiten, die vom Staat als solchem initiiert oder gebilligt sind, handelt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 10. Februar 2013). So ergibt sich aus der Schilderung der Klägerin zu 2., dass ihr nicht jeder Polizist gewalttätig und mit Beleidigungen gegenübergetreten ist: Auf entsprechende Bitte hat eine Polizistin ihr – wenn auch eventuell nicht sofort – Wasser gebracht. Hinzu kommt, dass die Kläger nicht versucht haben, sich auf juristischem Weg gegen die Festnahmen und die Gewaltanwendung zu wehren bzw. nachträglich die Rechtswidrigkeit des Handelns der Polizisten feststellen zu lassen. Soweit sie erklären, dies deshalb nicht getan zu haben, weil sie sich davon keinen Erfolg versprechen, kann dies jedenfalls den Versuch nicht ersetzen. Weiter hatten die Festnahmen keine erheblichen Auswirkungen auf das alltägliche Leben der Kläger. Die von der Klägerin zu 2. geschilderten Drohungen des Polizeiinspektors im Juli 2012, er werde sie "vernichten und festnehmen" sind nicht eingetreten. Auch die zunächst von der Polizei angeordnete wöchentliche Meldepflicht konnten die Kläger vor ihrer Ausreise ohne weitere Folgen unberücksichtigt lassen. Bis auf eine dem Verein zugestellte Anklageschrift, deren Inhalt und Folgen den Klägern nicht im Detail bekannt sind, gab es auch keine sonstigen behördlichen Aktivitäten, die auf Sanktionen oder andere nachteilige Folgen hingedeutet hätten.

Die weiter geschilderten Schwierigkeiten der Klägerin zu 3. in der Schule sind ebenfalls keine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte. Das Zusatzprotokoll zur EMRK vom 20. März 1952 nennt in Art. 2 zwar das Recht auf Bildung. Unabhängig davon, ob es sich hierbei um ein grundlegendes Menschenrecht handelt, fehlt es jedenfalls an einer schwerwiegenden Verletzung. Die Mathematik-Olympiade, an der die Klägerin zu 3. nur teilweise teilnehmen konnte, ist kein Kernbereich des Schulunterrichts, sondern eine darüber hinaus gehende Veranstaltung. Sie ist im Vergleich zum übrigen Schulunterricht auch zeitlich nur von geringer Bedeutung. Zudem sind die Schulleistungen der Klägerin zu 3. im Übrigen sehr gut gewesen, so dass nicht anzunehmen ist, dass die ausgebliebene Teilnahme an dem Wettbewerb ihr schulisches Fortkommen bereits in erheblicher Weise beeinträchtigt hat oder in Zukunft beeinträchtigen wird. Dies zeigen auch ihre schulischen Erfolge in der Bundesrepublik.

Auch zusammengenommen erreichen die Schwierigkeiten der Kläger zu 1. und 2. mit der Polizei sowie der Klägerin zu 3. in der Schule nicht die Schwelle des § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG. Sie weisen auch bei gemeinsamer Betrachtung nicht eine solche Quantität oder Qualität auf, dass sie einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte gleichkämen. Dabei fällt insbesondere ins Gewicht, dass die Kläger wie dargestellt durch keine der dargestellten Eingriffshandlungen dauerhaften Beeinträchtigungen oder erheblichen Verschlechterungen ihrer alltäglichen Lebenssituationen ausgesetzt waren. Zudem haben die Kläger sowohl gegenüber den Maßnahmen der Polizei, insbesondere im Hinblick auf die vorgetragene Gewaltanwendung, als auch gegenüber den Benachteiligungen durch die Schule nicht den innerstaatlichen Rechtsweg ergriffen und damit die Möglichkeit, ihre Rechte selbst zu schützen und durchzusetzen, nicht genutzt. [...]

Die Kläger haben schließlich auch keinen Anspruch auf die Feststellung nationalen subsidiären Schutzes. Ein (national begründetes) Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG ist nicht gegeben. Für eine Gefahr im Sinne dieser Vorschrift in Verbindung mit der EMRK ist nichts ersichtlich. Auch die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dies setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Die Feststellung nationalen subsidiären Schutzes kommt nur zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke (Art. 1, Art. 2 Abs. 2 GG) in Betracht, d.h. nur zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage in dem Sinne, dass dem Ausländer sehenden Auges der sichere Tod droht oder er schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43.07-, juris).

Eine solche extreme konkrete Gefahrenlage besteht für die Kläger nicht.

Allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit der Roma in Albanien geraten die Kläger – ungeachtet der für diese Volksgruppe nach wie vor dort in erheblichem Ausmaß bestehenden Schwierigkeiten – weder mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in eine extreme Gefahrenlage noch drohen ihnen deswegen ernste Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit. Dies hat das Bundesamt im angegriffenen Bescheid ebenfalls zutreffend ausgeführt; auf diese Ausführungen wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylVfG). Vielmehr hatten die Kläger in ihrer Heimat durch das von ihnen betriebene Geschäft ein vergleichsweise gutes wirtschaftliches Auskommen und ihre Kinder besuchten erfolgreich die Schule.

Individuelle Aspekte, die für die Kläger eine im Rahmen von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante Gefahr unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit begründen könnten, sind ebenfalls nicht gegeben. Die Erkrankungen der Klägerin zu 2., wie sie sich aus dem vorgelegten Entlassungsbericht des St.-... in M. sowie den Unterlagen der hausärztlichen Gemeinschaftspraxis ... ergeben, sind grundsätzlich mit den erforderlichen Medikamenten in Albanien behandelbar (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 14).

Die medizinische Versorgung ist für die Klägerin zu 2. auch erreichbar. Dies zeigen die im Verfahren vor dem Bundesamt eingereichten Dokumente, aus denen hervorgeht, dass die Klägerin sich vor ihrer Ausreise in Albanien hat behandeln lassen. Soweit sie vorträgt, durch die Schwierigkeiten mit der Polizei psychisch erkrankt zu sein, ist dies bislang nicht durch Atteste dokumentiert.

Zusammenfassend geht die Kammer davon aus, dass die Lebenssituation der ganz überwiegenden Anzahl der Roma in Albanien nach wie vor nicht zufriedenstellend ist und diese ethnische Minderheit unter hoher Arbeits- und Mittellosigkeit zu leiden hat. Die Kläger sind von diesen Schwierigkeiten selbst allerdings lediglich sehr eingeschränkt betroffen. Weder ihr individuelles Schicksal noch die Situation anderer Angehöriger ihrer Volksgruppe rechtfertigt die Zuerkennung der begehrten Schutzrechte. [...]