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Zitieren als:
BSG, Urteil vom 30.10.2013 - B 7 AY 7/12 R - asyl.net: M21860
https://www.asyl.net/rsdb/M21860
Leitsatz:

Leistungskürzungen gem. § 1a Nr. 2 AsylbLG dürfen nur dann eingreifen, wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von dem Betroffenen zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden können. Die Weigerung eine "Ehrenerklärung" (freiwillige Rückkehr in den Herkunftsstaat) zu unterschreiben, erfüllt diese Voraussetzungen nicht, da die gesetzlichen Mitwirkungspflichten kein Verhalten verlangen können, dass die Intimsphäre als unantastbaren Kernbereich des Persönlichkeitsrechts berührt.

Schlagwörter: Ehrenerklärung, Freiwilligkeitserklärung, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Kausalität, Mali, Heimreisedokumente, Passbeschaffung, Persönlichkeitsrecht, Kernbereich, allgemeines Persönlichkeitsrecht, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungskürzung, Leistungseinschränkung, Asylbewerberleistungsgesetz,
Normen: AsylbLG § 1a Nr. 2, AufenthG § 49 Abs. 2, AsylbLG § 3,
Auszüge:

[...]

Ist demnach der Grundlagenbescheid nicht als solcher bereits rechtswidrig, misst sich seine Rechtmäßigkeit wie die der konkretisierenden konkludenten Leistungsverwaltungsakte für den streitbefangenen Zeitraum an § 1a i.V.m. § 3 AsylbLG; denn § 1a AsylbLG ist keine eigenständige Anspruchsgrundlage, sondern setzt einen Anspruch auf die Grundleistung voraus, den er dann auf das unabweisbar Gebotene begrenzt. Die Rechtmäßigkeit des Bescheids über die Ablehnung von Analog-Leistungen misst sich demgegenüber an § 2 AsylbLG i.V.m. den Vorschriften des SGB XII.

Soweit es die Beurteilung des § 1a AsylbLG betrifft, sind dessen Voraussetzungen jedenfalls nicht deshalb erfüllt, weil sich die Klägerin geweigert hat, sog "Ehrenerklärungen" zu unterschreiben. § 1a Nr. 2 AsylbLG würde nur eingreifen, wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von der Klägerin zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden konnten. Die Norm fordert dabei eine Kausalität zwischen einem vorwerfbaren Verhalten und dem Nichtvollzug. Ein mögliches Unterlassen der persönlichen Vorsprache der Klägerin bei der Botschaft ihres Heimatlandes Mali aus eigener Veranlassung, also ohne die Notwendigkeit einer Vorführung, - genaue Feststellungen des LSG, dazu fehlen ohnedies - würde deshalb von vornherein ausscheiden; denn dieses Verhalten der Klägerin wäre wohl nicht kausal für den Nichtvollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen geworden. Zum einen ist sie der Botschaft wohl vorgeführt worden; zum anderen wäre wohl ein Vollzug auch bei unerzwungener Vorsprache mangels Unterschreibens der "Ehrenerklärung" im streitbefangenen Zeitraum nicht möglich gewesen (zur Problematik der Mehrfachkausalität. Oppermann in jurisPK SGB XII, § 1a AsylbLG RdNr. 52).

Auch die Weigerung, die "Ehrenerklärung" zu unterschreiben, erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 1a Nr. 2 AsylbLG. Nach § 49 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) a.F. (vgl. jetzt § 49 Abs. 2 AufenthG) war und ist zwar jeder Ausländer verpflichtet, u.a. die von der Vertretung des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, geforderten Erklärungen im Rahmen der Beschaffung von Heimreisedokumenten abzugeben. Diese gesetzliche Mitwirkungspflicht steht jedoch unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass die geforderte Erklärung mit dem deutschen Recht in Einklang steht. Dies war vorliegend nicht der Fall, weil von der Klägerin ein Verhalten verlangt worden ist, das die Intimsphäre als unantastbaren Kernbereich des Persönlichkeitsrechts des Art 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG berührt (vgl. zur Unantastbarkeit eines Kernbereichs: BVerfGE 34, 238, 245; 54, 143, 146; 103, 21, 31).

Freiwilligkeit kann sowohl nach dem allgemeinen Wortverständnis als auch unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles (s. zur Zulässigkeit der Auslegung von Formularerklärungen durch das Revisionsgericht nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 162 RdNr. 3b) nur bedeuten, dass die Klägerin erklären sollte, sie kehre aus freien Stücken nach Mali zurück. Diese Erklärung kann indes von niemandem verlangt werden, der den entsprechenden Willen nicht besitzt; ansonsten wäre er zum Lügen gezwungen. Der Begriff der Freiwilligkeit entzieht sich weiteren Überlegungen (umfassend dazu Kreienbrink, Freiwillige und zwangsweise Rückkehr von Drittstaatsangehörigen aus Deutschland, in: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Rückkehr aus Deutschland, Forschungsstudie 2006, S 44 ff.): Gefordert war von der Klägerin eine Erklärung, etwas zu wollen, was sie gerade nicht wollte.

Ein gegenteiliger Wille kann von ihr auch nicht verlangt werden; der Wille als solcher ist staatlich nicht beeinflussbar. Eine andere Frage ist, ob von dem Betroffenen trotz eines entgegenstehenden Willens bestimmte Handlungen abverlangt werden können. Der Zwang, dies auch zu wollen, entspräche einem dem GG fremden totalitären Staatsverständnis. Für eine andere Auslegung der von der Klägerin abverlangten Erklärungen, etwa in dem Sinne "ich bin vollziehbar ausreisepflichtig und kann deshalb abgeschoben werden, wenn ich nicht ohne Zwang ausreise", bestehen keine Anhaltspunkte (so in einem anderen Kontext BVerwGE 135, 219 ff.). Kann mithin die Leistungsbeschränkung nach § 1a AsylbLG nicht auf die Weigerung zur Abgabe der "Ehrenerklärung" gestützt werden, so sind jedenfalls nach Aktenlage keine weiteren Gesichtspunkte für eine Leistungsminderung nach § 1a AsylbLG erkennbar; das LSG mag dies ggf. noch prüfen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bedarf es bei dieser Sach- und Rechtslage keiner Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des § 1a AsylbLG bzw. die verfassungskonforme Höhe der nach dieser Vorschrift gekürzten Leistung unter Berücksichtigung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 18.7.2012 (BVerfGE 132, 134 ff. = SozR 4-3520 § 3 Nr. 2). Liegen die Voraussetzungen des § 1a AsylbLG nicht vor, dürfte nämlich dem geltend gemachten Klageanspruch schon nach § 3 AsylbLG Rechnung zu tragen sein. Über § 2 AsylbLG könnte die Klägerin aufgrund ihres höhenmäßig beschränkten Klageantrags keine darüber hinausgehenden Leistungen bekommen. Nach § 2 AsylbLG ist abweichend von §§ 3 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von - im streitbefangenen Zeitraum - 36 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG (Vorbezugszeit) erhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst haben. Die Voraussetzung der Vorbezugszeit erfüllt die Klägerin; ob allerdings die rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer abzulehnen ist, kann nicht abschließend entschieden werden. Zwar kann der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs wie im Rahmen des § 1a AsylbLG nicht damit begründet werden, dass die Klägerin die "Ehrenerklärung" nicht unterschrieben habe; rechtsmissbräuchlich könnte indes das Verhalten der Klägerin gewesen sein, nicht ohne Vorführung durch die Ausländerbehörde bei der malischen Botschaft zu erscheinen (vgl. zur Frage des Rechtsmissbrauchs BSGE 101, 49 ff. = SozR 4-3520 § 2 Nr. 2), wobei eine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer schon dann vorläge, wenn bei generell-abstrakter Betrachtungsweise das rechtsmissbräuchliche Verhalten typischerweise die Aufenthaltsdauer verlängern kann (BSG a.a.O.). [...]

Einsender (07.05.2014)