Für die Bestimmung der Minderjährigkeit des stammberechtigten Geschwisters und des zuziehenden Geschwisters bei § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG kommt es allein auf den Zeitpunkt der Antragstellung des zuziehenden Geschwisters an.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
2. Die Versagung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch Bescheid vom ... Januar 2013 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß §§ 3, 26 Abs. 3 Satz 2, Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 4, Abs. 5 Satz 1 bis 2 AsylVfG i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 (BGBl. I, S. 3474; im Folgenden: "Richtlinienumsetzungsgesetz").
Nach § 26 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylVfG wird insbesondere den Eltern eines minderjährigen Flüchtlingsschutzberechtigten bei Erfüllung der in Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 5 genannten Voraussetzungen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nach Satz 2 von § 26 Abs. 3 AsylVfG gilt für zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung minderjährige ledige Geschwister des minderjährigen Flüchtlings Satz 1 Nr. 1 bis 4 entsprechend. Dies bedeutet, dass ein zum Zeitpunkt seiner Antragstellung minderjähriges lediges Geschwister eines im Zeitpunkt dieser Antragstellung minderjährigen stammberechtigten Geschwisters als Flüchtling anerkannt wird, wenn es die weiteren Voraussetzungen von § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 4 AsylVfG erfüllt. So liegt es hier.
2.1 Die Klägerin ist ein bei ihrer Antragstellung minderjähriges Geschwister des minderjährigen Stammberechtigten.
2.1.1 Die am ... Oktober 1998 geborene Klägerin war bei ihrer Asylantragstellung am ... Juli 2011 ... Jahre alt und damit minderjährig. Sie ist die Schwester des nach eigenen Angaben am ... Mai 1994 geborenen U., dem mit Bescheid vom ... September 2009 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde (Stammberechtigter). Die Altersangaben basieren auf den glaubhaften Angaben der Tante des Stammberechtigten, mit der er ins Bundesgebiet eingereist ist.
2.1.2 Der Stammberechtigte war bei Antragstellung der Klägerin am ... Juli 2011 siebzehn Jahre alt und mithin ein minderjähriger Flüchtling i. S. v. § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG. Es ist notwendig aber auch hinreichend, dass das stammberechtigte Geschwister bei Antragstellung des zuziehenden Geschwisters – der Klägerin – minderjährig war. Es reicht nicht aus, dass das stammberechtigte Geschwister bei seiner eigenen Asylantragstellung minderjährig war (VG Hamburg, Urt. v. 13.11.2013, 8 A 214/12, S. 14f.). Im Zeitpunkt der behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung muss es dagegen nicht mehr minderjährig sein. Hierauf deutet schon hin, dass der maßgebliche Zeitpunkt für die Erfüllung der Tatbestandsmerkmale von § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG am Satzanfang genannt wird. Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass es für die Bestimmung der Minderjährigkeit des Stammberechtigten auf einen anderen Zeitpunkt ankommen soll als bei dem zuziehenden Geschwister, hätte dies kenntlich gemacht werden müssen. Dieses Ergebnis wird auch durch den systematischen Zusammenhang von § 26 Abs. 3 Satz 2 und Satz 1 AsylVfG gestützt, weil § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG durch die Verwendung des bestimmten Artikels ("des") auf den Minderjährigen im Sinne von § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG verweist, der bei Antragstellung der zuziehenden Verwandten – in jenem Fall eines Elternteils – minderjährig sein muss (VG Hamburg, Urt. v. 5.2.2014, 8 A 1236/12, S. 6ff. UA; v. 5.2.2014, 8 A 1238/12, S. 6ff. UA; v. 13.11.2013, 8 A 214/12, S. 14f. UA).
2.1.3 Anders als die Beklagte meint, ist es für den Anspruch der Klägerin unschädlich, dass der Stammberechtigte im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr minderjährig ist. Zwar ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz AsylVfG grundsätzlich für das Erfüllen der Tatbestandsmerkmale auf die Sach- und Rechtslage im Entscheidungszeitpunkt abzustellen. Von diesem Grundsatz ist jedoch eine Ausnahme zu machen, wenn sich aus dem materiellen Recht ergibt, dass ein früherer Zeitpunkt maßgeblich ist (Bergmann, in: Renner, Ausländerrecht Kommentar, 9. Aufl. 2011, § 77 AsylVfG, Rn. 2; ausdrücklich für die zeitlichen Anknüpfungspunkte beim Familienasyl auch Hailbronner, Ausländerrecht, 68. EL, Stand: April 2010, § 77 AsylVfG, Rn. 13). Dies ist hier der Fall. Für die Minderjährigkeit des stammberechtigten und des zuziehenden Geschwisters ist allein auf den Zeitpunkt der Antragstellung des zuziehenden Geschwisters abzustellen.
Für das zuziehende Geschwister ergibt sich dies aus einem Vergleich mit § 26 Abs. 2 AsylVfG, der ebenfalls ausdrücklich auf den Zeitpunkt der Antragstellung abstellt. Für § 26 Abs. 2 AsylVfG ist geklärt, dass das Kind des Stammberechtigten nur bei dessen Antragstellung minderjährig sein muss. Dieser einzig maßgebliche Entscheidungszeitpunkt wurde 1992 gerade in Reaktion auf eine Rechtsprechung eingefügt, die für die Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung abgestellt hatte (Bodenbender, GKAsylVfG, 82. EL, Juni 2008, § 26 AsylVfG, Rn. 61 m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, 66. EL, Stand: November 2009, § 26 AsylVfG, Rn. 49). Daher muss dasselbe für den Zeitpunkt der Minderjährigkeit des zuziehenden Geschwisterkindes in § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG gelten. Anderenfalls würde die von § 77 Abs. 1 AsylVfG abweichende Bestimmung des entscheidungserheblichen Zeitpunkts keinen Sinn ergeben. Würde man nämlich verlangen, dass die Minderjährigkeit bei der gerichtlichen Entscheidung vorliegen muss, muss sie logisch auch schon bei Antragstellung vorgelegen haben.
Für das stammberechtigte Geschwister gilt nichts anderes, weil der eingangs von § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG erwähnte Zeitpunkt auch für die Bestimmung von dessen Minderjährigkeit gilt. Darüber hinaus ist wertungsmäßig nicht ersichtlich, warum für die Bestimmung der Minderjährigkeit der Geschwister jeweils auf unterschiedliche Zeitpunkt abgestellt werden soll. Aus dem Zweck der Einfügung von § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG, der in der Aufrechterhaltung der Familieneinheit und dem Interesse des Minderjährigenschutzes besteht (BT-Drs. 218/13, S. 30), lässt sich eine unterschiedliche Behandlung auch nicht ableiten.
2.2 Unschädlich für den Anspruch der Klägerin ist, dass bei ihrer Asylantragstellung am ... Juli 2011 die Anspruchsgrundlage des § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG in der Fassung vom 1. Dezember 2013 noch nicht in Kraft war. Hinsichtlich der Rechtslage verbleibt es nämlich bei dem in § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz AsylVfG formulierten Grundsatz, dass es auf den Entscheidungszeitpunkt ankommt. Soweit sich aus dem anzuwendenden Recht nicht etwas Anderes ergibt, ist es eine vom Gesetzgeber gewollte Folge von § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, dass ein ursprünglich begründeter Asylantrag wegen nachträglich veränderter Verhältnisse unbegründet werden kann oder umgekehrt, dass eine anfangs unbegründete Klage wegen Eintritts nachträglicher Ereignisse im maßgeblichen Zeitpunkt Erfolg hat (Marx, AsylVfG 7. Aufl. 2009, § 77 Rn. 7; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, 90. EL, Februar 2011, § 77 AsylVfG, Rn. 3). Anders als beim maßgeblichen Zeitpunkt für die Bestimmung der Minderjährigkeit (siehe oben 2.1), ergibt sich aus dem materiellen Recht für das anzuwendende Recht kein von § 77 Abs. 1 AsylVfG abweichender Zeitpunkt. Wenn es der Gesetzgeber gewollt hätte, dass Familienflüchtlingsschutz nur dann gewährt werden soll, wenn die Voraussetzungen auch bei Inkrafttreten der Norm vorlagen, hätte er Übergangsvorschriften erlassen können. Hierauf hat er jedoch bei § 26 AsylVfG verzichtet (s. Art. 7 des Richtlinienumsetzungsgesetzes).
2.4 Auch die übrigen Voraussetzungen von § 26 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Satz 1 Nr. 1 bis 4 AsylVfG liegen vor. Die Flüchtlingsanerkennung des Stammberechtigten vom 1. September 2009 ist gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG seit dem 3. September 2009 unanfechtbar (Bl. 117 der Asylakte des Stammberechtigten). Sie ist nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen (§ 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AsylVfG). Die Lage im Irak hat sich nicht grundsätzlich zum Besseren gewendet, so dass ein Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht in Betracht kommt. Anhaltspunkte dafür, dass der Stammberechtigte unrichtige Angaben im Verfahren gemacht hat, so dass eine Rücknahme nach § 73 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG in Betracht zu ziehen wäre, sind ebenfalls nicht ersichtlich. Zwar hat das Einwohner-Zentralamt der Freien und Hansestadt Hamburg mit Schreiben vom ... November 2009 ein Widerrufsverfahren angeregt. Die Beklagte hat jedoch mit Schreiben vom ... Januar 2010 mitgeteilt, dass sie davon absieht (Bl. 123, 161 der Asylakte des Stammberechtigten). Der Stammberechtigte ist im Jahr 2009 mit seiner Tante ausgereist; bis dahin lebte er mit seiner Familie in Scheichan.
Die Asylantragstellung gemäß § 23 Abs. 1 AsylVfG am ... Juli 2011 erfolgte unverzüglich i.S.v. § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AsylVfG nach der Einreise am 28. Juni 2011. Die Klägerin stellte ihren Asylantrag mit Zugang des anwaltlichen Schreibens vom 1. Juli 2011, mithin am 5. Juli 2011. Sie konnte dies entgegen § 23 Abs. 1 AsylVfG schriftlich tun, da sie als unter Sechzehnjährige, deren gesetzlich vertretungsberechtigter Vater nicht mehr in der Aufnahmeeinrichtung zu wohnen verpflichtet war (§§ 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, 47 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG), ihren Antrag nicht persönlich stellen musste.
Unverzüglich bedeutet – wie im Zivilrecht – "ohne schuldhaftes Zögern" (Marx, AsylVfG, 7. Auflage 2009, §, 26, Rn. 46). Dies setzt grundsätzlich eine Antragstellung binnen zweier Wochen voraus (siehe die Nachweise bei Bodenbender, GK-AsylVfG, 82. EL, Stand: Juni 2008, § 26 AsylVfG, Rn. 59). Wie lange das Zögern mit einer Antragstellung dauern darf, bevor es schuldhaft wird, hängt grundsätzlich von einer Würdigung der besonderen Verhältnisse im konkreten Fall ab. Insoweit muss u. a. auch die Möglichkeit gewährleistet sein, Rechtsrat einzuholen (VG Leipzig, Urt. v. 7.1.2004, A 6 K 30241/01, juris, Rn. 18). Nach diesem Maßstab erfolgte die Antragstellung binnen zwei Wochen und damit ohne Weiteres unverzüglich. [...]