BVerwG

Merkliste
Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 06.03.2014 - 1 C 5.13 - asyl.net: M21823
https://www.asyl.net/rsdb/M21823
Leitsatz:

Parallelfall zum Urteil des 1. Senats vom 6. März 2014 - BVerwG 1 C 2.13 -

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, anerkannter Flüchtling, Flüchtlingsanerkennung, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Befristung auf Null, Befristung ohne Ausreise, Sperrwirkung, Beseitigung der Sperrwirkung, Sperrwirkung der Ausweisung, Wirkung der Ausweisung, Erteilungssperre, spezielle Erteilungssperre, Titelerteilungssperre,
Normen: AsylVfG (1982) § 29, AufenthG § 11 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 25 Abs. 2, AufenthG § 25 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

2. Der Verwaltungsgerichtshof hat dem Kläger auch in der Sache zu Recht einen Befristungsanspruch auf Null ohne vorherige Ausreise zuerkannt. Die Rechtsgrundlage für einen solchen Anspruch findet sich in § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Danach werden die in § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG (Einreise- und Aufenthaltsverbot) und in § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG (Titelerteilungsverbot) bezeichneten Wirkungen auf Antrag befristet. Seit Inkrafttreten des § 11 AufenthG in der Neufassung des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 haben Ausländer grundsätzlich einen Anspruch darauf, dass die Ausländerbehörde mit einer Ausweisung zugleich das daran geknüpfte gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie die Titelerteilungssperre befristet, ohne dass es insoweit eines Antrags des Ausländers bedarf (Urteil vom 10. Juli 2012 - BVerwG 1 C 19.11 - BVerwGE 143, 277 = Buchholz 402.242 § 11 AufenthG Nr. 9, jeweils Rn. 30; vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. September 2013 - Rs. C-297/12 - InfAuslR 2013, 416 Rn. 34). Die Entscheidung über die Länge der Frist ist eine rechtlich gebundene Entscheidung, die nicht im Ermessen der Ausländerbehörde steht (vgl. Urteile vom 10. Juli 2012 a.a.O., jeweils Rn. 34 und vom 14. Mai 2013 - BVerwG 1 C 13.12 - InfAuslR 2013, 334 Rn. 27).

Die allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Bei einer aus generalpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung kommt es - soweit sie zulässig ist - darauf an, wie lange von ihr eine abschreckende Wirkung auf andere Ausländer ausgeht. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Höchstfrist muss sich aber in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 7 GRCh, Art. 8 EMRK messen und ggf. relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 55 Abs. 3 Nr. 1 und 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen. Die Abwägung ist hier nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichtshofs zu treffen (vgl. Urteile vom 10. Juli 2012 a.a.O., jeweils Rn. 42 und vom 14. Mai 2013 a.a.O. Rn. 32).

Der Verwaltungsgerichtshof ist auf Grund der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) mit Recht zu dem Ergebnis gekommen, dass die Wirkungen der Ausweisung im vorliegenden Fall vollständig zu beseitigen sind. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats kann in bestimmten Fällen eine vollständige Beseitigung der in § 11 Abs. 1 AufenthG geregelten Wirkungen der Ausweisung geboten sein. Dann entfällt das Erfordernis einer Fristbestimmung wie auch der Ausreise aus Deutschland (vgl. Urteile vom 10. Juli 2012 a.a.O., jeweils Rn. 33; vom 4. September 2007 - BVerwG 1 C 43.06 - BVerwGE 129, 226 = Buchholz 402.242 § 31 AufenthG Nr. 2, jeweils Rn. 28 und vom 13. April 2010 - BVerwG 1 C 5.09 - BVerwGE 136, 284 = Buchholz 402.242 § 11 AufenthG Nr. 6, jeweils Rn. 17). Dies kann zum einen deshalb geboten sein, weil seit Verfügung einer nicht vollzogenen Ausweisung ein so langer Zeitraum verstrichen ist, dass die zum Ausweisungszeitpunkt bestehenden spezial- oder generalpräventiven Gründe entfallen sind. Ein Anspruch auf vollständige Beseitigung der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 AufenthG kann sich aber auch aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, etwa weil schützenswerte familiäre Belange im Sinne von Art. 6 GG dies erfordern (zu Letzterem vgl. Urteile vom 13. April 2010 a.a.O., jeweils Rn. 17 und vom 4. September 2007 a.a.O., jeweils Rn. 28). Im vorliegenden Fall hat das Berufungsgericht festgestellt, dass die zum Ausweisungszeitpunkt bestehenden spezial- und generalpräventiven Gründe nach Verstreichen einer Zeitdauer von mehr als zehn Jahren nicht mehr vorliegen. Damit sind die Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch erfüllt, ohne dass es einer Entscheidung der Frage bedarf, ob dem Aufenthaltsbegehren eines Konventionsflüchtlings überhaupt generalpräventive Gründe entgegengehalten werden dürfen.

Entgegen der Rechtsauffassung des Beklagten setzt der Anspruch auf Beseitigung der in § 11 Abs. 1 AufenthG geregelten Wirkungen der Ausweisung nicht die vorherige Ausreise des Ausländers voraus. Zwar sieht § 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG vor, dass der Lauf der Frist mit der Ausreise beginnt. Liegen zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aber keine Gründe für die Festsetzung einer Sperre im Sinne von § 11 Abs. 1 AufenthG mehr vor, entfällt damit auch das Erfordernis der Ausreise. Eine Frist für die Geltung der Wirkungen der Ausweisung darf dann nicht mehr in Gang gesetzt werden. [...]