VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 25.02.2014 - 14 K 3634/12.A - asyl.net: M21813
https://www.asyl.net/rsdb/M21813
Leitsatz:

Alleinstehende Frauen ohne männlichen Schutz (mahram) sind in Afghanistan einer Gefährdungslage ausgesetzt, die zur Anerkennung des Flüchtlingsschutzes führt.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Frauen, alleinstehende Frauen, Afghanistan, geschlechtsspezifische Verfolgung, Kandahar, Afghanistan, Taliban, westlicher Lebensstil, Menschenwürde, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AsylVfG § 3a,
Auszüge:

[...]

Bei der Klägerin kann jedoch - unabhängig von einer Vorverfolgung - davon ausgegangen werden, dass bei ihrer Rückkehr nach Afghanistan die Gefährdung einer unmittelbaren geschlechtsspezifischen Bedrohung besteht.

Dabei geht die Kammer unter Einbeziehung der aktuellen Erkenntnismittel (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 4. Juni 2013, S. 12 f.; Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung von Januar 2014, S. 14 zur Rolle der Frauen in der Polizei, S. 27 ff. zur Geltung der Menschenrechte - insbesondere der Frauenrechte -; UNHCR: Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - zusammenfassende Übersetzung - vom 24. März 2011, S. 7 f. und vom 6. August 2013, S. 54 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 30. September 2013, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, S. 15 f.; Amnesty International, Amnesty Report 2013 Afghanistan, S. 3) zur Situation von Frauen in der afghanischen Gesellschaft davon aus, dass trotz der Stärkung der Rechte der Frauen in der afghanischen Verfassung und Gesetzgebung Frauen und Mädchen nach wie vor in der afghanischen Gesellschaft sowie von der Polizei und Justiz schwer benachteiligt werden. Seit dem Sturz der Taliban hat es zwar einige deutliche Verbesserungen gegeben, wie etwa einen verbesserten Zugang zur Bildung, Arbeit und medizinischen Versorgung. Gleichwohl ist die Diskriminierung der Frauen in der afghanischen Gesellschaft weit verbreitet. Frauen werden Opfer von Zwangsverheiratung, Vergewaltigung, Entführung, Ehrenmorden und häuslicher Gewalt. Die registrierten Fälle von Gewalttaten gegen Frauen sind gerade seit 2012 stark angestiegen, ebenso die Zahl der Mädchen und Frauen, die wegen sogenannter "moralischer" Verbrechen festgehalten werden. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 2013 wurden offiziell 4.154 Fälle von Gewalt gegen Frauen registriert. Da diese im Schwerpunkt im familiären Umfeld stattfinden, ist von einer deutlich höheren Dunkelziffer auszugehen, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass alle Taten den offiziellen Stellen bekannt werden. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern bestimmt wird, nur in wenigen Fällen möglich. Auch das 2009 verabschiedete Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen hat sich bislang noch nicht landesweit durchgesetzt. Dies zeigt die Tatsache, dass dessen landesweite Umsetzung eines der beiden im Tokio-Prozess mit Afghanistan vereinbarten konkreten Ziele im Menschenrechtsbereich ist. Nach islamischem Recht ist eine Frau allein nicht existent, sondern untersteht entweder der Autorität ihres Ehemannes, ihres Bruders oder ihres Vaters bzw. dessen Familie. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes bisher undenkbar (vgl. auch Urteil der Kammer vom 20. Dezember 2011 - 14 K 4249/10.A -; Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen, Urteil vom 18. Juli 2013 - 5a K 4418/11.A, Rn. 39 ff. m.w.N.; VG München, Urteil vom 27. Juni 2013 - M 1 K 13.30168 -, Rn. 19 ff., zitiert jeweils nach juris).

Hieraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass jede Frau im Falle einer Rückkehr einer derartigen Verfolgung ausgesetzt wäre. Vielmehr ist im konkreten Einzelfall die individuelle Situation der Frau nach ihrer Stellung und dem regionalen und sozialen, insbesondere familiären Hintergrund zu berücksichtigen. Im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung der Kammer und anderer Gerichte (vgl. Urteile der Kammer vom B. Oktober 2013 - 14 K 6985/11.A -, Rn. 61, vom 27. Februar 2013 - 14 K 2177/11.A, Rn. 35, und vom 20. Dezember 2011 - 14 K 4249/10.A -; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht (OVG), Beschluss vom 21. Januar 2014 - 9 LA 60/13 -, Rn. 5, jeweils zitiert nach juris) sind vor allem alleinstehende Frauen ohne männlichen Schutz (mahram) einer derartigen Gefährdungslage ausgesetzt. Weiter fallen hierunter auch Frauen, deren Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition und dem Gesetz auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird, die von Zwangsheirat betroffen sind sowie geschiedene und unverheiratete, jedoch nicht jungfräuliche Frauen und Frauen, deren Verlobung gelöst wurde (vgl. Niedersächsisches OVG, a.a.O., Rn. 5 m.w.N., zitiert nach juris).

Zu dieser Gruppe gehört die Klägerin. Sie ist 19 Jahre alt und verwitwet. Sie könnte zwar bei ihrer Rückkehr grundsätzlich in den Familienverband zurückkehren, in dem neben ihrem Vater weitere zwei Brüder vorhanden sind, die die entsprechende Schutzfunktion darstellen könnten. Dabei geht die Kammer davon aus, dass der Vater kein Bedrohungspotential für die Klägerin darstellt, da insoweit ihrem Vorbringen wie gezeigt nicht gefolgt werden kann. Die Kammer hat im vorliegenden Fall jedoch zu berücksichtigen, dass die Klägerin mittlerweile einen westlichen Lebensstil angenommen hat und eine im Vergleich zu anderen Frauen in Afghanistan überdurchschnittlichen Bildungsstand erreicht hat, indem sie einen Realschulabschluss macht. So hat die Kammer in der mündlichen Verhandlung weiter den Eindruck gewinnen können, dass sie im Vergleich zu vielen anderen Flüchtlingen aus Afghanistan in den drei Jahren seit ihrer Einreise gute Deutschkenntnisse erworben hat. Zudem trägt sie keine traditionelle Kleidung, sondern tritt wie eine westlich orientierte selbstbewusste Frau auf. Auf Nachfrage gab sie an, dass sie kein Kopftuch mehr tragen wolle und erst in Deutschland erkannt habe, was es bedeutet, als Frau gleichberechtigt zu leben. Hierzu passen auch die geäußerten Berufswünsche (Arzthelferin oder Stewardess) (vgl. VG München, Urteil vom 27. Juni 2013 - M 1 K 13.30168 -, Rn. 18 ff.; VG Stuttgart, Urteile vom 25. Juni 2013 - A 6 K 2412/12 -, Rn. 23 ff., und vom 15. Juni 2010 - A 6 K 3896/08 -, Rn. 22 ff., VG Augsburg, Urteil vom 1. Dezember 2011 - Au 6 K 11.30308 -, Rn. 26 ff., zitiert jeweils nach juris).

Dabei hat die Kammer im vorliegenden Fall berücksichtigt, dass die Klägerin aus Kandahar stammt und ihr Familienverband weiterhin dort lebt. Die Provinz Kandahar ist seit jeher eine Hochburg der radikal-islamischen Taliban. Seit ihrem Sturz im Jahr 2001 führen sie insbesondere dort einen blutigen Aufstand gegen die internationalen Truppen und die afghanischen Sicherheitskräfte und haben dort einen enormen gesellschaftlichen Einfluss. Gerade in diesen Gebieten finden die in der Verfassung und Gesetzgebung Afghanistans zumindest formal begründeten Frauenrechte keine Anwendung (vgl. UNHCR: Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - zusammenfassende Übersetzung - vom 24. März 2011, S. 7 f. und vom 6. August 2013, S. 57, 63; Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 30. September 2013, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, S. 16).

Die Klägerin lebt mittlerweile seit einigen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland, ohne sich den in Kandahar geltenden gesellschaftlichen Zwängen unterordnen zu müssen. Dies bedeutet, dass sie sich eines Schutzes durch den Familienverband und dessen männlichen Mitglieder nur sicher sein kann, wenn sie ihren westlichen Lebensstil aufgibt und sich den gesellschaftlichen Zwängen für Frauen in Kandahar beugt. Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass es Frauen zumutbar ist, ihr Verhalten an die gesellschaftlichen Verhältnisse des Herkunftsstaates anzupassen. Das setzt jedoch voraus, dass die Unterwerfung unter die herrschenden Verhältnisse erstens tatsächlich möglich und geeignet ist, eine potentiell bestehende, geschlechtsspezifische Verfolgungssituation wesentlich zu minimieren. Zweitens ist es aber gleichfalls notwendig, dass tatsächlich eine Zumutbarkeit dieser Anpassung bzw. Unterordnung gegeben sein muss. Dabei kommt der Frage, ob die betroffene Frau dadurch in dem Herkunftsstaat in ihrer Menschenwürde verletzt werden würde, entscheidende Bedeutung zu. Denn die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt (vgl. VG München, Urteil vom 27. Juni 2013 - M 1 K 13.30168 -, Rn. 21, zitiert nach juris).

Hieran gemessen kann von der Klägerin nicht verlangt werden, sich von ihrem mittlerweile frei gewählten Lebensstil zu lösen, allein um einer geschlechtsspezifischen Verfolgung in Afghanistan zu entgehen. Sie hat sich derart deutlich emanzipiert, dass es unzumutbar ist, dieses Verhalten aufzugeben, um unter den Schutz des Familienverbandes in der traditionell, konservativ geprägten Gesellschaft Kandahars zu gelangen. Diese Emanzipation wird dadurch untermauert, dass sie sich bspw. deutlich vom Lebensstil ihrer weiterhin traditionell auftretenden Schwiegermutter unterscheidet und eher dem Auftritt ihres Cousins ähnelt.

Die in § 3d AsylVfG genannten Institutionen, namentlich der afghanische Staat sind nicht in der Lage oder willens, der Klägerin Schutz vor der ihr drohenden geschlechtsspezifischen Verfolgung zu bieten. Denn nach den vorliegenden Erkenntnisquellen erlaubt es Frauen insbesondere die unbefriedigende Sicherheitslage in weiten Landesteilen in der Regel nicht, die mit Überwindung der Taliban und ihren frauenverachtenden Vorschriften erwarteten Freiheiten wahrzunehmen. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage - oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt -, Frauenrechte zu schützen. Sexual- oder Gewaltverbrechen zur Anzeige zu bringen, hat aufgrund des desolaten Zustandes des Sicherheits- und Rechtssystems wenig Aussicht auf Erfolg. Der Versuch endet u.U. mit der Inhaftierung der Frau, sei es aufgrund unsachgemäßer Anwendung von Beweisvorschriften oder zum Schutz vor der eigenen Familie, die eher die Frau eingesperrt, als ihr Ansehen beschädigt sehen will (vgl. Urteil der Kammer vom 20. Dezember 2011 - 14 K 4249/10.A -).

Von daher besteht für die Klägerin auch nicht die Option, ihren Lebensstil nur in Bezug auf die Außenwahrnehmung einzuschränken und innerhalb ihrer Familie ihren jetzigen Weg weiterzugehen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass dies von ihrem Vater und ihren Brüder toleriert oder gar akzeptiert wird.

Für die Klägerin kommt die Annahme einer inländischen Fluchtalternative nicht in Betracht, auch wenn davon ausgegangen wird, dass ein westlicher Lebensstil zumindest in der Hauptstadt Kabul - auch für Frauen - möglich ist. Der Verweis auf einen effektiven Schutz in einem anderen Teil des Herkunftslandes (§ 3e AsylVfG) setzt voraus, dass von dem Ausländer vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil niederlässt. Zur Frage, wann von ihm "vernünftigerweise erwartet werden kann", dass er sich in dem verfolgungsfreien Landesteil niederlässt, wird vorausgesetzt, dass der Ausländer am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, d.h. dort das Existenzminimum gewährleistet ist. Dieser Zumutbarkeitsmaßstab geht über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, Rn. 19 f.; Beschluss vom 14. November 2012 - 10 B 22.12 -, Rn. 9, zitiert jeweils nach juris; Urteil vom 29. Mai 2008 - 10 C 11.07 -; Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, Urteil vom 6. März 2012 - A 11 S 3177/11 -).

Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine alleinstehende Frau in Afghanistan so gut wie keine Möglichkeit hat, Arbeit zu finden und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dies gilt auch für die dann alleinstehende 19-jährige Klägerin. Sie könnte zwar auf eine überdurchschnittliche Bildung zurückgreifen; jedoch wird sie ohne familiäre Unterstützung dennoch keine Arbeit finden. Die wirtschaftliche Lage in Afghanistan ist so schlecht und die Teuerungsrate so immens, dass für eine alleinstehende Frau, selbst wenn sie gelegentlich Almosen oder finanzielle Unterstützung von Verwandten bekäme, jedenfalls nicht das Existenzminimum gewährleistet ist. [...]