VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 03.04.2014 - 4 A 62/12 - asyl.net: M21801
https://www.asyl.net/rsdb/M21801
Leitsatz:

1. Die Bedrohung eines Mannes durch nichtstaatliche Akteure wegen einer nichtehelichen Liebesbeziehung zu einer Frau knüpft nicht an ein Verfolgungsmerkmal an und führt daher nicht zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

2. Die Bedrohung und befürchtete Ermordung des Mannes stellt keine Verfolgung wegen seines Geschlechts nach § 60 Abs 1 S 1 AufenthG dar.

3. "Zina-Vergehen" (außerehelicher Geschlechtsverkehr) gelten in Afghanistan als schwere Ehrverletzungen der Familien, vor allem der Familie der Frau, weshalb in der Regel drastische Vergeltungshandlungen der männlichen Familienmitglieder drohen.

Schlagwörter: Afghanistan, Zina-Vergehen, Zina, Ehrverletzung, Vergeltungstat, Vergeltung, nichtstaatliche Verfolgung, Liebesbeziehung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2, AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

b. Auch drohen dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG). Abstrakt formuliert sind unter einer menschenrechtswidrigen Schlechtbehandlung Maßnahmen zu verstehen, mit denen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden und mit denen nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen wird (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06. März 2012 - A 11 S 3177/11 -, juris,. Rn. 21). Das gilt gemäß § 4 Abs. 3 AsylVfG i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylVfG auch dann, wenn die Gefahr von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht und kein ausreichender staatlicher oder quasistaatlicher Schutz zur Verfügung steht. Hierbei ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen, wobei allerdings das Element der Konkretheit der Gefahr das zusätzliche Erfordernis einer einzelfallbezogenen, individuell bestimmten erheblichen Gefährdungssituation kennzeichnet.

Gemessen hieran besteht für den Kläger vorliegend nicht die konkrete Gefahr, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG ausgesetzt sein wird. Zwar gelten in Afghanistan alle vor- oder außerehelichen Beziehungen als "Zina"-Vergehen, die gemäß der Scharia mit Auspeitschungen bis hin zur Steinigung bestraft werden. Im Einzelfall kann daher die Verpflichtung der Beklagten bestehen, im Falle eines "Zina"-Vergehens Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 AufenthG zu gewähren (vgl. VG Magdeburg, Urteil vom 26. November 2013 - 5 A 97/13 -, juris). Der Kläger selbst hat aber eine derartige Bedrohung durch die Familie ... nicht substantiiert vorgetragen. Es ist daher gut möglich, dass das ihm drohende Unrecht noch der "reinen" Kriminalität zuzuordnen ist.

Schließlich hat der Kläger auch keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG. Insoweit wird auf die zu § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ergangenen zutreffenden Ausführungen des Bundesamtes in dem Bescheid vom 12. Januar 2012 verwiesen, welche sich das Gericht zu eigen macht.

Auch sind keine Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 3 AufenthG gegeben.

3. Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Feststellung des nationalen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dies ist hier hinsichtlich zu erwartender Vergeltungshandlungen der Familie ... anzunehmen.

a. Das Gericht glaubt dem Kläger, dass er vor seiner Ausreise aus Afghanistan außerehelichen Geschlechtsverkehr mit einem Mädchen gehabt hat. Die diesbezüglichen Umstände hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung überzeugend und detailliert beschreiben können. Er hat nachvollziehbar geschildert, in welcher Situation es zum Geschlechtsverkehr gekommen ist, und dass er und seine Freundin das damit verbundene erhebliche Risiko eingegangen seien, ohne näher darüber nachzudenken. Das Gericht hatte an keiner Stelle der mündlichen Verhandlung den Eindruck, der Kläger versuche, eine Geschichte zu erzählen, die er selbst nicht erlebt hat. So konnte er auch auf kritische Nachfragen spontan und ohne Unsicherheiten antworten. Der Kläger hat einen durchweg glaubwürdigen Eindruck vermittelt. Er hat seine gegenüber dem Bundesamt getätigten Ausführungen glaubhaft wiederholt, ohne diese zu steigern oder auszuschmücken. Insbesondere der persönliche Eindruck, den das Gericht sich von dem Kläger während der detaillierten Befragung hat verschaffen können, führt nach umfassender und sorgfältiger Abwägung dazu, das Vorbringen als glaubhaft einzuschätzen.

Insoweit ist auch festzuhalten, dass das forensische Altersgutachten vom 13. März 2012 der Behauptung des Klägers, er sei während seiner Beziehung zu ... 15/16 Jahre alt gewesen, nicht entgegensteht. Denn die Freundschaft der beiden bestand im Jahr 2011. In dem Gutachten wurde für den Kläger im Jahr 2012 ein Alter von 17 bis 19 Jahren als wahrscheinlich festgestellt.

Das Bundesamt hält es für unglaubhaft, dass sich zwischen dem Kläger und ... trotz ihrer Religionsunterschiede und dem Umstand, dass ... aus einer Taliban-Familie stamme, eine Freundschaft hätte entwickeln können. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung jedoch glaubhaft versichert, dass sie zu Beginn ihrer Beziehung über die Religion nicht gesprochen hätten. Zudem ist festzustellen, dass der Kläger niemals behauptet hat, die Familie von ... gehöre den Taliban an oder sei streng religiös. Er hat in seiner Anhörung vor dem Bundesamt lediglich erklärt, ... Familie sei sehr einflussreich und habe auch "mit den Mujaheddin" und "mit den Taliban zu tun".

Das Bundesamt hält es weiter für realitätsfremd, dass sich der Kläger mit seiner Freundin ausgerechnet in deren Elternhaus getroffen haben will. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass es für die beiden Jugendlichen keine andere Möglichkeit gab, als sich in den jeweiligen Elternhäusern zu treffen. In Afghanistan dürfte es außerhalb des privaten Bereichs keine Örtlichkeiten geben, an denen sich nicht miteinander verheiratete Paare treffen können. Dabei hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung auch überzeugend dargelegt, dass er Angst gehabt habe, das Haus der Familie ... zu betreten. Er habe auch gewusst, dass die Freundschaft zu ... für ihn gefährlich werden könnte. Dass er dennoch die Beziehung fortgeführt hat, hält das Gericht unter Berücksichtigung des damals jugendlichen Alters des Klägers für nachvollziehbar. Gleiches gilt für den vom Bundesamt in Zweifel gezogenen Umstand, dass die Beziehung zwischen dem Kläger und ... von deren Schwägerin mitgetragen worden ist. Denn auch die Schwägerin war damals gerade einmal 17 Jahre alt.

Schließlich hält es das Bundesamt für undenkbar, dass sich die Frauen in dem Freizeitpark, in dem sich der Kläger und ... kennengelernt haben, entschleiern würden. Auch das Gericht hält ein solches Verhalten unter Berücksichtigung der Moralvorstellungen in Afghanistan für undenkbar. Allerdings hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung überzeugend dargelegt, dass er ein solches Verhalten der Frauen in seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt niemals behauptet habe. Richtig sei, dass einige der Frauen unter ihrer Burka noch ein Kopftuch tragen würden. Diese Frauen würden dann in dem Freizeitpark die Burka ablegen. Das darunter liegende Kopftuch bleibe aber selbstverständlich aufbehalten. Das Gericht glaubt dem Kläger auch diese Erklärung. Denn die Niederschrift der Anhörung enthält auch an anderer Stelle, die nicht das Kerngeschehen betrifft, eine Ungenauigkeit. So heißt es auf Seite 2 der Niederschrift: "Mein Vater ist Arzt, er hört auch nicht richtig." Diese Aussage ist unlogisch und wurde von dem Kläger später richtiggestellt. Der Kläger erläuterte nämlich, dass sein Vater kein Arzt sei, sondern in ärztlicher Behandlung stehe. Das Gericht hält es daher für nicht fernliegend, dass das Protokoll auch hinsichtlich der Passage des angeblichen Entschleierns die Ausführungen des Klägers nicht richtig wiedergibt. Hierfür spricht auch, dass die Niederschrift dem Kläger nach dem Ende der Befragung nicht noch einmal vorgespielt und rückübersetzt worden ist. Hinzu kommt, dass der Kläger aus Afghanistan stammt und mit den dortigen Gepflogenheiten daher bestens bekannt ist. Das Gericht hält es daher für nahezu ausgeschlossen, dass der Kläger, der in der mündlichen Verhandlung einen intelligenten Eindruck erweckt hat, dem Bundesamt gegenüber ein solch absolut realitätsfremdes Verhalten geschildert hat.

b. Da "Zina"-Vergehen als schwere Ehrverletzungen der Familien, vor allem der Familie der Frau gesehen werden, ist das Gericht zudem der Überzeugung, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan drastische Vergeltungshandlungen der männlichen Familienmitglieder der drohen. Dies gilt umso mehr, als die genannte Familie in Afghanistan einflussreich ist.

c. Dem Kläger steht schließlich auch keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Es kann nämlich nicht der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Einfluss der Familie ... landesweit gilt und der Kläger daher überall in Afghanistan von ihr aufgespürt würde. Angesichts des in Afghanistan geltenden Verhaltens- und Ehrenkodexes ist zu befürchten, dass die ... den Kläger bei einer Rückkehr auch in anderen Teilen und Orten Afghanistans ausfindig machen und verfolgen und insoweit nicht eher ruhen wird, als bis die ihr zugefügte "Schande" gesühnt ist. [...]