VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Urteil vom 16.05.2013 - A 4 K 294/11 - asyl.net: M21798
https://www.asyl.net/rsdb/M21798
Leitsatz:

Einer Frau, die von türkischen Sicherheitskräfte in Anknüpfung an das Merkmal der politischen Überzeugung vergewaltigt wurde, kommt bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft die Beweiserleichterung zugute.

Schlagwörter: Kurden, Türkei, Mersin, politische Verfolgung, geschlechtsspezifische Verfolgung, PKK, Yeziden, Vergewaltigung, sexuelle Gewalt, sexualisierte Gewalt, Sicherheitskräfte, nichtstaatliche Verfolgung, interner Schutz, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Beweiserleichterung,
Normen: RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

In Anwendung dieser Grundsätze hat die Klägerin eine nach § 60 Abs. 1 AufenthG relevante Vorverfolgung sowohl im Hinblick auf die politische Überzeugung wie auch im Hinblick auf die Geschlechtszugehörigkeit glaubhaft gemacht. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung eingehend und detailliert geschildert, dass sie in Zusammenhang mit einer Durchsuchung bzw. Razzia der Sicherheitskräfte in dem von Kurden bewohnten Stadtteil Caymihal von Mersin im November 2011 vergewaltigt worden ist. Bei der Befragung hat sie ausführlich und - auch im Hinblick auf das Rahmengeschehen - nachvollziehbar geschildert, dass sie von zwei Mitgliedern der insgesamt drei Personen starken Einheit der Sicherheitskräfte vergewaltigt worden ist. Für die Glaubwürdigkeit der Klägerin in diesem Zusammenhang spricht dabei nicht nur ihre detaillierte Schilderung der Vorgänge, sondern auch der Umstand, wie sie nachhaltig und überzeugend unter großer Angst erklärte, dass sie nach diesen beiden Vergewaltigungen nun von ihrer yezidischen Verwandtschaft als des Todes würdig angesehen wird. Hinzu kommt, dass die Klägerin sich im Zeitpunkt der Vergewaltigung alleine im Hause aufgehalten hat. Auch die Anknüpfung der Verfolgung an die nach § 60 Abs. 1 AufenthG relevanten Merkmale der politischen Überzeugung und des Geschlechts sind von ihr glaubhaft gemacht worden. Für die diesbezügliche Glaubhaftmachung spricht zum einen der Umstand, dass diese Wohngegend vor allem von Kurden bewohnt war und so regelmäßig von Razzien türkischer Sicherheitskräfte betroffen war, die mutmaßlichen PKK-Unterstützern galten. Des Weiteren fällt in ihrem Fall auf, dass sie auch äußerlich als Yezidin erkennbar ist, auch wenn sie selber angegeben hat, dass sie nicht glaubt, dass die Vergewaltigungen unmittelbar damit in Zusammenhang stehen. Das Gericht konnte sich jedoch davon überzeugen, dass sich die Klägerin auch äußerlich von nichtyezidischen Kurden unterscheidet; so hat sie sich unter anderem erst später ein entsprechendes sie als Yezidin kennzeichnendes Tattoo entfernen lassen. Vor dem Hintergrund, dass auch die Angaben der Klägerin im Hinblick auf die bereits zum Zeitpunkt der Vergewaltigung bestehenden Schwangerschaft aufgrund der gesamten zeitlichen Umständen nachvollziehbar sind, kann danach für das Gericht kein Zweifel bestehen, dass die Klägerin tatsächlich Opfer von zwei Vergewaltigungen geworden ist, die von Angehörigen der türkischen Sicherheitskräfte begangen worden sind und die in Anknüpfung an die Merkmale der politischen Überzeugung und des Geschlechtes erfolgt sind. Damit kommt ihr die Beweiserleichterung zugute, mit der Folge, dass davon auszugehen ist, dass ihr auch im Falle einer Rückkehr mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit die Wiederholung einer solchen Verfolgung droht. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin, deren Vergewaltigung in der yezidischen Verwandtschaft bekannt ist, nun zusätzlicher Gefahr von dieser Seite im Falle einer Rückkehr in die Türkei ausgesetzt ist. Damit ist zusätzlich davon auszugehen, dass ihr nun mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit auch eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure in Anknüpfung an ihre Geschlechtszugehörigkeit droht, wobei nicht davon auszugehen ist, dass im vorliegenden Fall - die Klägerin ist, wie festgestellt, yezidischer Religionszugehörigkeit - ihr von staatlicher Seite hinreichender Schutz gewährt werden wird. [...]