VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 03.04.2013 - 12a K 3979/10.A - asyl.net: M21782
https://www.asyl.net/rsdb/M21782
Leitsatz:

Eine Person, die bereits unter dem Verdacht einer regierungskritischen Haltung inhaftiert wurde, ist von erneuten Verfolgungshandlungen bedroht, auch wenn sie ohne Anklageerhebung freigelassen wurde.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Russische Föderation, Russland, Tschetschenien, politische Verfolgung, Folter, Kausalität, Vorverfolgung, Beweiserleichterung, interne Fluchtalternative,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3 Abs. 4, AsylVfG § 3 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Das Gericht ist aufgrund der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung sowie seiner Angaben vor dem Bundesamt zu der Überzeugung gelangt, dass dessen Leben und Freiheit auf dem Gebiet der Russischen Föderation i.S.d. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit der GFK wegen seiner politischen Haltung bedroht ist. Der Kläger vertrat eine regimekritische Haltung, indem er auf einer Beerdigung im September 2009 in seinem Dorf in ... öffentlich äußerte, dass drei getöteten Jugendliche zuvor gefoltert worden seien und es nicht angehen könne, diese Praxis weiter hinzunehmen. Daraufhin haben Sicherheitskräfte den Kläger am nächsten Morgen verhaftet und ihn 28 Tage lang in einem Autowrack in einer Basis in der Nähe der Stadt Argun festgehalten. Während dieser Zeit wurde der Kläger mehrfach verhört. Dabei wurde er geschlagen und war Misshandlungen - unter anderem durch Stromschläge - ausgesetzt. Er wurde freigelassen, nachdem er sich bereit erklärt hatte, Spitzeldienste zu leisten, insbesondere darüber Auskunft zu geben, wer Kenntnisse über feindliche Kämpfer - Boewiken - habe.

Die Schilderungen des Klägers reichen aus, dem Einzelrichter die volle Gewissheit über den Sachverhalt zu vermitteln. Der Kläger hat den Sachverhalt in den entscheidungserheblichen Punkten sowohl bei seiner. Anhörung vor dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung widerspruchsfrei vorgetragen, wobei die Darstellung in der mündlichen Verhandlung detailreich, zusammenhängend, plausibel und deshalb glaubhaft war. Auf Nachfragen war der Kläger in der Lage, detaillierte Schilderungen der Vorkommnisse und Örtlichkeiten abzugeben. Auf die Frage, wie das Autowrack ausgesehen habe, in dem der Kläger gefangen gehalten gewesen sei, hat er nicht nur das Interieur detailliert beschrieben, sondern spontan ausgeführt, dieses habe einseitig an einer Mauer gelehnt, auf der der Mauer gegenüberliegenden Seite habe sich ein Fenster befunden, durch das er heraus gesehen und dabei die das Gelände passierenden Fahrzeuge beobachtet habe, die mit wechselnden Kennzeichen versehen gewesen seien. Gerade auch durch die Benennung nicht auf das Kerngeschehen beschränkter Details wirkte der Kläger glaubwürdig.

Der Vortrag des Klägers, in einem Autowrack festgehalten worden zu sein, kann nicht, wie das Bundesamt meint, per se als unglaubhaft angesehen werden. Nach einem am 10. Juli 2008 in der Moskauer Zeitung "Novaja Gazeta" erschienen Artikel führte ... gegenüber Amnesty International aus, im Jahre 2008 von tschetschenischen Sicherheitskräften in Tsenteroi einen Monat lang in einem Bus ohne Heizung und sanitäre Einrichtungen gefangen halten worden zu sein (vgl. Amnesty International: Russische Föderation, Rule without law: Human rights violations the North Caucasus, Juli 2009, S. 16 f.).

Das Vorbringen des Klägers fügt sich in die allgemeinen Erkenntnisse bezüglich Tschetscheniens (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Stand: Juli 2012) vom 6. Juli 2012, S. 14). [...]

Widersprüche zwischen den Angaben im Anhörungsprotokoll vor dem Bundesamt und denen in der mündlichen Verhandlung konnte der Kläger ausräumen. [...]

Soweit der Kläger sich bei seiner Anhörung, worauf das Bundesamt abstellt, hinsichtlich der Daten seiner Einschulung und seines Schulabschlusses Widersprüche verstrickt haben sollte, ist nicht ersichtlich, welche Rückschlüsse hieraus auf die Glaubhaftigkeit der Schilderung des Verfolgungsschicksals folgen sollen.

Aufgrund dieses Sachverhalts hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er wäre, wenn er heute in die Russische Föderation zurückkehren müsste, in allen Teilen des Landes nicht sicher, aufgrund von in seiner Person liegenden Umständen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 und 6 AufenthG i.V.m. Artikel 10 Qualifikationsrichtlinie Maßnahmen des russischen Staates ausgesetzt zu sein, denen im Sinn von § 60 Abs. 1 Satz 1 und 5 AufenthG i.V.m. Artikel 9 Qualifikationsrichtlinie Rechtserheblichkeit zukommt.

Der Kläger hat in seinem Heimatland politische Verfolgung erlitten und ist vorverfolgt ausgereist. Die 28-tägige Inhaftierung des Klägers in der Nähe der Stadt Argun und die körperlichen Übergriffe durch die Sicherheitskräfte - Schläge und Misshandlungen mit einem elektrischen Gerät - stellen Verfolgungshandlungen im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Artikel 9 Abs. 1 a) und Abs. 2 a) Qualifikationsrichtlinie dar.

Der Vorverfolgung steht nicht entgegen, dass der Kläger sein Herkunftsland erst rund sechs Wochen nach der Freilassung verlassen hat. Dem Zeitraum zwischen dem Abschluss der politischen Verfolgung und der Ausreise kommt entscheidende Bedeutung zu. Je länger der Ausländer nach erlittener Verfolgung in seinem Heimatland unbehelligt verbleibt, umso mehr schwindet der objektive äußere Zusammenhang mit seiner Ausreise dahin (vgl. BayVGH, Urteil vom 15. Mai 2009 - 11 B 06.30901 Rn. 49 (bejaht für einen Zeitraum von zwei Monaten zwischen Freilassung und Ausreise).

Bei objektiver Betrachtungsweise hat der Kläger den Herkunftsstaat unter Umständen verlassen, die das "äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck der erlittenen Verfolgung stattfindenden Flucht" bieten. Aufgrund der Umstände des Einzelfalles ist die rund sechswöchige Zeitspanne zwischen Haftentlassung und endgültiger Ausreise unschädlich. Der Kläger hat während der Haft Verletzungen - Prellungen und Rippenbrüche - erlitten, die er auskurieren musste. Dazu hat er im Verwaltungsverfahren eine Bescheinigung eines Arztes vorgelegt, wonach er diesen am 26. Oktober 2009 besucht habe. Überdies hat der Kläger seinen letzten Wohnort und seine Familie bereits nach neun Tagen verlassen. Sein Vortrag, in Rostov weitere rund vier Wochen benötigt zu haben, um die Ausreise vorzubereiten, ist aufgrund seines Vortrages, einen Schlepper beauftragt zu haben, ebenfalls plausibel.

Die Verfolgungshandlungen sind gegenüber dem Kläger aufgrund seiner politischen Überzeugung im Sinne des Artikel 10 Abs. 1 e) Qualifikationsrichtlinie ergriffen worden. Denn sie knüpften, wie der Kommandeur während der Inhaftierung des Klägers ausführte, an die Äußerung des Klägers anlässlich der Beerdigung in seinem Dorf an, der russische Staat bzw. die tschetschenischen Sicherheitskräfte müssten dagegen vorgehen, dass Jugendliche in Tschetschenien misshandelt und getötet werden. Die Verfolgungshandlungen waren erkennbar darauf ausgelegt, den Kläger einzuschüchtern und - weitere - oppositionelle Tätigkeiten im Keim zu ersticken. Ob der Kläger die ihm von den Verfolgern zugeschriebene politische Überzeugung tatsächlich hat, ist gem. Artikel 10 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie unerheblich.

Da der Kläger die Russische Föderation als individuell vorverfolgte Person verlassen hat, ist er gem. Artikel 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie privilegiert. Die Tatsache, dass er bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung. Die Vermutung des Artikel 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie kann im Einzelfall selbst dann widerlegt sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde. Dieser Maßstab hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung mehr (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 5.09 -, juris Rn. 23, BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 - 10 C 52.07 -, juris Rn. 29)

Nach diesen Maßgaben steht nicht zu erwarten, dass der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) in der Russischen Föderation keiner weiteren Verfolgung ausgesetzt sein wird, da keine stichhaltigen Gründe ersichtlich sind, die gegen erneute Verfolgungshandlungen sprechen. [...]

§ 60 Abs. 1 Satz 4 a. E. AufenthG steht dem Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift liegt keine Verfolgung vor, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht. Insoweit ist erneut Artikel 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zu beachten. Die Norm enthält, wenn der Betroffene vorverfolgt ausgereist ist, eine Beweislastumkehr auch für die Feststellung der inländischen Fluchtalternative (vgl. BayVGH, Urteile vom 27. April 2010 - 11 B 07.30511 - juris Rn. 119 und vom 9. August 2010 - 11 B 09.30091 -, juris Rn. 28).

Danach kann ein Vorverfolgter nur dann auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden, wenn in Bezug auf diese Gebiete stichhaltige Gründe gegen eine dortige Verfolgung sprechen. Wenn Tschetschenen jedoch politisch verdächtigt worden sind, sich in der Tschetschenien-Frage besonders engagiert zu haben und von der russischen Staatsgewalt wegen dieses Engagements oder einer nur vermuteten Involvierung konkret verdächtigt bzw. gesucht werden, kann eine inländische Fluchtalternative nicht ohne weiteres bejaht werden (OVG NRW, Urteil vom 12. Juli 2005 - 11 A 2307/03.A -, juris Rn. 171; vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15. Februar 2012 - A 3 S 1876/09 -, juris Rn. 43: Fluchtalternative allein für "politisch unverdächtige" Tschetschenen; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 7. November 2011 - 6a K 2827/10.A -, juris Rn. 39: Fluchtalternative für Personen ohne besondere, aus der Masse der Binnenflüchtlinge heraushebende Risikomerkmale).

Die Voraussetzungen eines solchen Ausnahmefalles sind erfüllt. Der Kläger ist in das Fadenkreuz tschetschenischer und russischer Sicherheitskräfte geraten. Er war massiven Verfolgungshandlungen ausgesetzt und ist der - weiteren - Inhaftierung dadurch entgangen, dass er sich zu Spitzeldiensten bereit erklärt hat. Dem hat er sich durch die Ausreise widersetzt. Es liegen keine Erkenntnisse dahingehend vor, dass derart politisch Verfolgte in anderen Teilen der Russischen Föderation vor Verfolgung sicher wären. Insoweit fällt ins Gewicht, dass die Sicherheitskräfte über umfangreiche personenbezogene Daten des Klägers verfügen. Der Kläger ist im Haus seiner Familie abgeholt worden, und die Kontaktdaten seines Mobiltelefones und die Daten seines privaten Computers wurden ausgelesen. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Daten - wie diejenigen der Tschetschenienkämpfer, die auf Listen des Föderalen Sicherheitsdienstes geführt werden (vgl. etwa: VG Frankfurt, Urteil vom 15. Juni 2011 - 1 K 342/11.F.A , juris Rn. 17 m.w.N.), - derart zentral gespeichert wurden, dass Sicherheitskräfte auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation Zugriff auf sie haben.

Die Beweiserhebung hat stichhaltige Gründe, die eine abweichende Bewertung des Klägers gegenüber der Situation ehemaliger Tschetschenienkämpfer nahelegen, nicht hervortreten lassen. Auf das Auskunftsersuchen des Gerichts, ob russische Sicherheitskräfte Listen - ähnlich den Listen des FSB über Tschetschenienkämpfer - über in Tschetschenien inhaftiert gewesene Personen führen, auch wenn deren politische Gegnerschaft nicht bestätigt wurde, hat das Auswärtige Amt mit Schreiben vom 31. Oktober 2012 - Gz. 508-9-516.80/47305 - ausgeführt, dass hierüber keine Erkenntnisse vorliegen. Das Auswärtige Amt hat mitgeteilt, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass aus der Haftentlassene von Sicherheitskräften beobachtet oder angesprochen werden. Nicht einschätzbar sei, ab wann nach der Haftentlassung der Betreffende möglicherweise von den Sicherheitskräften beobachtet oder entsprechenden Kontrollen unterzogen wird. Nicht beurteilt werden könne, ob russische Sicherheitskräfte gegen Personen, die durch ihre Ausreise einer Verpflichtung, Spitzeldienste zu leisten, nicht nachkommen, Repressalien ausüben.

Nach der Auskunft von Amnesty International vom 24. Mai 2012 können erneute Verfolgungshandlungen gegenüber dem Kläger ebenfalls nicht ausgeschlossen werden. Amnesty International sind zahlreiche Fälle bekannt, in denen Personen, die einmal die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich gelenkt haben, weiterhin von Sicherheitskräften beobachtet und verfolgt worden sind. Einige dieser Personen wurden nach ihrer ersten Verhaftung Opfer von Verschwindenlassen und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen. Darunter sind auch Fälle, in denen die betroffenen Personen freigelassen wurden, ohne dass Anklage gegen sie erhoben worden wäre. Unbekannt ist, ob die Behörden Listen über Personen führen, die in der Vergangenheit in Tschetschenien inhaftiert wurden. Die allgemeine Lage in Tschetschenien sei jedoch nach wie vor besorgniserregend, Trotz der Ankündigung der russischen Regierung im April 2009, die Antiterrormaßnahmen in Tschetschenien zu beenden, habe sich keine bedeutende Verbesserung der Menschenrechtslage in Tschetschenien eingestellt. Aus dem Nordkaukasus seien nach wie vor regelmäßig Berichte über außergerichtliche Hinrichtungen, Verschwindenlassen, Folter und anderweitige Misshandlungen sowie willkürliche Verhaftungen bekannt. [...]