OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2014 - 1 A 1139/13.A (= ASYLMAGAZIN 5/2014, S. 151 f.) - asyl.net: M21733
https://www.asyl.net/rsdb/M21733
Leitsatz:

Bei Verfolgung durch Private aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit ist der angolanische Staat entweder nicht in der Lage oder nicht willens, den Betroffenen Schutz zu bieten.

Schlagwörter: Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Angola, geschlechtsspezifische Verfolgung, politische Verfolgung, Genitalverstümmelung, körperliche Unversehrtheit, Frauen, Menschenwürde, interne Fluchtalternative, interner Schutz, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, GG Art. 16a Abs. 1,
Auszüge:

[...]

b) Die Klägerin ist wegen ihrer Geschlechtszugehörigkeit verfolgt worden. Ihre Menschenwürde ist grob missachtet worden, indem sie als Frau zum Handelsobjekt herabgewürdigt worden ist. Außerdem ist mit der angekündigten Genitalverstümmelung auch ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit bedroht worden. Beides erfolgte in Anknüpfung an ihre Geschlechtszugehörigkeit. Der ..., der nach den Angaben der Klägerin immer junge Frauen suchte, nur eine Zeitlang mit einer Frau zusammen war und ihrer dann wohl überdrüssig wurde, war an der Klägerin nur interessiert, weil sie eine Frau war und weil sie jung war. Auf diese Weise wurde die Klägerin als sozial minderwertiges Wesen ohne eigene Rechte behandelt und aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgegrenzt. Indem der ... ihr die Genitalverstümmelung ankündigte und diese plante, um zu verhindern, dass sie mit anderen Männern als mit ihm schläft, reduzierte er sie auf ein bloßes Sexualobjekt (vgl. zur drohenden Beschneidung bei Männern als asylrelevanter Verfolgung BVerwG, Urteil vom 5. November 1991 - 9 C 118.90 -, BVerwGE 89, 162 = NVwZ 1992, 582 = juris, Rn. 10: "... ergibt sich in rechtlicher Hinsicht, dass der Kläger politisch Verfolgter im Sinne des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG ist, weil ihm bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr droht, während des Wehrdienstes zwangsbeschnitten zu werden." und Rn. 13: "Es kann weiterhin auch nicht zweifelhaft sein, dass eine gegen den Willen des Betroffenen durchgeführte Beschneidung ihrer Intensität nach einen asylrechtlich erheblichen Eingriff in seine physische und psychische Integrität darstellt. Das Berufungsgericht führt in dieser Hinsicht zu Recht aus, dass - abgesehen von dem körperlichen Eingriff - der von einer Zwangsbeschneidung Betroffene unter Missachtung seines religiösen und personalen Selbstbestimmungsrechts zum bloßen Objekt erniedrigt wird.")

Durch die Bedrohung mit dem Tod war auch das Recht der Klägerin auf Leben gefährdet. Auch dies hängt unmittelbar mit ihrer Verfolgung als Frau zusammen. Der ... nahm es der Klägerin nach ihren glaubhaften Angaben persönlich übel, dass sie ihn ablehnte, und drohte ihr deshalb mit dem Tod. Dabei handelte es sich nicht nur um einen privaten kriminellen Racheakt ohne politische Motive. Die Todesdrohung ist hier vielmehr vor dem Hintergrund der sie begleitenden politischen Verfolgung wegen des Geschlechts zu sehen. Ohne diese hätte der ... die Klägerin nicht mit dem Tod bedroht. Bei lebensnaher Betrachtung ist davon auszugehen, dass die Todesdrohung sich nicht durch die Ausreise der Klägerin und eine mehrjährige Abwesenheit im Ausland erledigt hat. Denn der ... hatte bereits nach der Klägerin suchen lassen, nachdem sie aus der Sekte entkommen war. Er hatte für sie bezahlt und wollte sich die Gegenleistung nicht entgehen lassen. Außerdem dürfte er es in seiner Stellung als hoher Vertreter des Militärs gewohnt sein, seine Interessen und Ziele durchzusetzen, und war beleidigt wegen der Flucht der Klägerin. Es erscheint plausibel, dass er seine Rache auch aus Gründen der Machtdemonstration in jedem Fall durchzusetzen versucht. Die vorverfolgt ausgereiste Klägerin wäre bei einer Rückkehr nach Angola aus diesen Gründen nicht hinreichend sicher vor erneuter Verfolgung wegen ihres Geschlechts, zumindest in Form der Bedrohung mit dem Tod.

c) Diese Verfolgung ist dem angolanischen Staat zuzurechnen. Dieser ist entweder nicht in der Lage oder nicht willens, der Klägerin Schutz zu bieten. Wenn die Klägerin sich an die Polizei oder Gerichte gewandt hätte, wäre nicht zu erwarten gewesen, dass sie als Waise von dort effektive Hilfe gegen ihren Onkel als ihren Betreuer und gegen den General als einen hohen Vertreter des Militärs, dem als solchen wesentlich mehr gesellschaftliche und finanzielle Einflussmöglichkeiten zustehen dürften als der Klägerin, erhält. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Kindesmissbrauch ("child abuse") ist weit verbreitet und von den angolanischen Behörden weitgehend toleriert. Insbesondere schutzbedürftige Kinder ("vulnerable children") wie Waisen laufen Gefahr, von ihren Betreuern missbraucht zu werden. Die angolanische Regierung verfügt über keine Strategie, um solche Kinder zu schützen. Sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern zwischen 12 und 18 Jahren sind zwar als sexueller Missbrauch strafbewehrt. Eingeschränkte Ermittlungsmöglichkeiten und ein unzureichendes Justizsystem verhindern jedoch in den meisten Fällen eine Strafverfolgung (vgl. United States Department of State, Country Reports an Human Rights Practices for 2012, zu Angola, S. 32 f.; Bundesamt, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 51).

Häusliche Gewalt gegenüber Frauen ist verbreitet und allgegenwärtig. Sie ist nicht illegal. Trotzdem wird sie gelegentlich als Vergewaltigung, Beleidigung oder Körperverletzung verfolgt (vgl. Bundesamt, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 51; UK Border Agency, Country of Origin Information Report, Angola, 1. September 2010, S.49).

Die meisten Fälle häuslicher Gewalt werden von den betroffenen Frauen jedoch nicht angezeigt. Dies geschieht wegen des den Behörden grundsätzlich entgegengebrachten starken Misstrauens und der unangemessenen Einstellung der Polizei zu Fällen häuslicher Gewalt. Die Anzeige eines solchen Falles würde für die betreffende Frau einen sie frustrierenden, beschämenden und zeitraubenden Vorgang darstellen. Zudem sind Richter häufig nachsichtig, wenn es um die Verurteilung eines Mannes geht, der sich der Gewalt gegenüber einer Frau schuldig gemacht hat (vgl. Bundesamt, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 51 f.).

Verfahrensrechte laufen aufgrund des materiell schlecht ausgestatteten, langsam arbeitenden und korruptionsanfälligen Justizsystems vielfach leer. Der Justizweg ist allenfalls eingeschränkt gewährleistet. Ermittlungsbehörden und Polizei sind überlastet, unterbezahlt, ineffektiv und korruptionsanfällig (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Angola vom 26. Juni 2007, S. 6; United States Department of State, Country Reports an Human Rights Practices for 2012, zu Angola, S. 9; United Kingdom Border Agency, Country of Origin Information Report, Angola, 1. September 2010, S. 28; nach den Informationen von Dalichau, Angola: Ungelöste innenpolitische Herausforderungen, Juni 2011, S. 4, gehört der Perzeptionsindex für Korruption zu den höchsten der Welt).

Da der angolanische Staat nach diesen Auskünften schon für den Regelfall einer Misshandlung einer jungen Frau durch ihre Familie bzw. einen hohen Militärangehörigen keinen wirksamen Schutz zur Verfügung stellt, entlastet es ihn nicht, dass kein Staat der Welt lückenlosen Schutz vor politischer Verfolgung durch Private bieten kann.

d) Der Klägerin stand keine inländische Fluchtalternative in anderen Landesteilen von Angola zur Verfügung. Es ist bei lebensnaher Betrachtung davon auszugehen, dass der ... als hoher Vertreter des Militärs im Hinblick auf seine gesellschaftliche Stellung und die allgegenwärtige Korruption im Land die Möglichkeit hat und diese nutzen würde, die Klägerin mit Hilfe des Militärs oder anderer Beziehungen auch in anderen Teilen von Angola ausfindig zu machen, um sich an ihr zu rächen. Er hatte bereits nach ihr suchen lassen, während sie in Luanda bei den katholischen Missionen versteckt war.

Unabhängig davon könnte die Klägerin als alleinstehende Frau ohne Unterstützung einer Familie ihren Lebensunterhalt nicht in zumutbarer Weise sichern. Der größere Teil der angolanischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze (vgl. Die Zeit: "Auf nach Afrika!" vom 18. April 2013: über die Hälfte; taz: "Je reicher das Land, desto mächtiger der Chef" - vom 5. April 2012: Zwei Drittel leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze von 2 Dollar am Tag; ebenso Dalichau: "Angola: Ungelöste innenpolitische Herausforderungen" von Juni 2011, S. 3; Der Spiegel: "Die Revolution ist beerdigt" vom 15. Juni 2009; Spiegel online: "Mit Hühnern gegen Raubtierkapitalismus" vom 29. März 2009; Le Monde diplomatique: "Reiches Land mit armen Leuten" vom 9. Mai 2008).

Die Lebenshaltungskosten in Angola und insbesondere in der Hauptstadt Luanda sind extrem hoch. Insbesondere, wenn kein familiärer Rückhalt besteht, der zumindest für den Beginn Unterstützung gewährt, ist es zum Teil äußerst schwierig, wenn nicht sogar ausgeschlossen (abhängig von den persönlichen Fähigkeiten/Verhältnissen), "Fuß zu fassen" (so die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Wiesbaden vom 22. September 2009).

Das Fehlen des wirtschaftlichen Existenzminimums in anderen Landesteilen von Angola ist hier auch asylerheblich, weil es verfolgungsbedingt ist. Die asylrechtlich relevante Verfolgung der Klägerin hatte ihren Ursprung darin, dass ihr Onkel sie dem ... zur Verfügung stellte, u.a. zur sexuellen Ausbeutung. Daher ist es ihr unzumutbar, zu ihrem Onkel zurückzukehren. Zu dem einzigen anderen Familienangehörigen der Klägerin in Angola, ihrem Zwillingsbruder, hat sie keinen Kontakt mehr, weil sie seinen Aufenthalt nicht mehr kennt. Die Klägerin verfügt zwar über eine 8-jährige angolanische Schulbildung und ist nach ihren Aussagen in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat dabei, ihren Realschulabschluss zu erwerben. Auch spricht sie ziemlich gut Deutsch. Allerdings verfügt sie nicht über eine Berufsausbildung. Wenn sie nach Angola zurückkehrte, ist ohne familiäre Unterstützung und ohne gesicherte Anlaufstelle nicht ersichtlich, wie sie in ihrem besonderen Einzelfall ihren Lebensunterhalt, gerade in der ersten Zeit nach der Rückkehr, in zumutbarer Weise sichern könnte. [...]