OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 30.01.2014 - 3 A 247/13 - asyl.net: M21715
https://www.asyl.net/rsdb/M21715
Leitsatz:

Die Auswahl unter der gesamtschuldnerisch haftenden Mutter und ihrem minderjährigen Kind für die Kosten der Abschiebung des Kindes ist nach pflichtgemäßem Ermessen vorzunehmen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Abschiebungskosten, Gesamtschuldner, Ermessen, Auswahlermessen, Kostenschuldner,
Normen: AufenthG § 69 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 67 Abs. 1, AufenthG § 67 Abs. 3, AufenthG § 66 Abs. 1, AufenthG § 66 Abs. 4 S. 2, SächsVwKG § 2 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

1. Rechtsgrundlage für den Leistungsbescheid ist § 67 Abs. 3 Satz 1, Abs. 1 Nr. 1 und 3 AufenthG. Hiernach werden die in den ersten beiden Absätzen genannten Kosten von der nach § 71 AufenthG zuständigen Behörde durch Leistungsbescheid in Höhe der tatsächlich entstandenen Kosten erhoben. Wer Kostenschuldner ist, regelt zunächst § 66 Abs. 1 AufenthG. Hiernach hat der Ausländer die Kosten i. S. v. § 67 AufenthG zu tragen. Das Bundesverwaltungsgericht hat allerdings verdeutlicht, dass diese Vorschrift nicht die nach allgemeinen Grundsätzen, hier nach § 2 Abs. 1 SächsVwKG, bestehende Veranlasserhaftung begrenzt, sondern den Kreis der Kostenschuldner gegenüber dem Veranlasserprinzip erweitert (vgl. auch § 69 Abs. 2 Satz 2 AufenthG). Bezogen auf das Verhältnis von minderjährigem Kind und Eltern lässt sich eine durch das Veranlasserprinzip bewirkte Mithaftung der Eltern allerdings nicht allein daraus ableiten, dass diese vermutlich bei der illegalen Einreise des Kindes mitgewirkt haben. Vielmehr bedarf es eines aus der Ausübung des Aufenthaltsbestimmungsrechts abgeleiteten Verursachungsbeitrags im Hinblick auf die Aufenthaltsbeendigung ihres Kindes. Typischerweise ist dabei aus dem Aufenthaltsbestimmungsrecht die Vermutung abzuleiten, dass die Eltern die notwendig gewordenen Abschiebungsmaßnahmen auch mitveranlasst haben. Denn es ist in der Regel davon auszugehen, dass die Eltern ihre Kinder auch zur freiwilligen Ausreise hätten veranlassen können. Diese Regelvermutung lässt sich allerdings entkräften, wenn die Eltern darlegen können, dass sie aufgrund besonderer Umstände nicht in der Lage gewesen waren, ihr Aufenthaltsbestimmungsrecht gegenüber dem ausreisepflichtigen Kind durchzusetzen. Mit dem Abstellen auf das gesetzlich begründete, nur in Bezug auf minderjährige Kinder bestehende Aufenthaltsbestimmungsrecht der Eltern wird die Veranlasserhaftung begrenzt und der Befürchtung entgegengewirkt, sie könne zur Heranziehung jedes Dritten führen, der irgendeinen Kausalbeitrag zur Nichtausreise ausreisepflichtiger Ausländer geleistet hat. (BVerwG, Urt. v. 14. Juni 2005 - 1 C 15.04 -, juris Rn. 22 ff. m.w.N.; bestätigt in Beschl. v. 29. August 2013 - 1 B 10.13 -, juris Rn. 6).

Ein irgendwie gearteter Verursachungsbeitrag reicht daher nicht aus, sondern es bedarf des Nachweises einer "spezifische(n) Verknüpfung (…), kraft derer der Aufenthalt des Ausländers, der zu einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nach (§ 66 Abs. 1 AufenthG) Anlass gibt, in den Verantwortungsbereich des Dritten fällt" (Heilbronner, Ausländerrecht, Loseblatt-Kommentar, Stand: Dezember 2013, § 66 Rn. 2 f. m.w.N.; zustimmend Funke-Kaiser, in: Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Stand: September 2013, § 66 Rn. 4 f.).

Besteht nach den vorgenannten Grundsätzen eine Mehrheit von Kostenschuldnern, so haften diese, da kein Rangverhältnis zwischen ihnen besteht, als Gesamtschuldner gemäß § 421 BGB (arg. e § 66 Abs. 4 Satz 2 AufenthG). In diesem Fall muss die Auswahl unter den Schuldnern nach pflichtgemäßem Ermessen getroffen werden. Dabei muss der jeweilige Schuldner nicht nur anteilsmäßig in Anspruch genommen werden, sondern die zuständige Behörde darf einen Gesamtschuldner auf die volle Summe in Anspruch nehmen, sofern etwa dadurch die Gesamtforderung rasch und sicher verwirklicht werden kann (BVerwG, Urt. v. 23. Oktober 1979 - I C 48.75 -, juris Rn. 27).

2. Ausgehend von diesen Grundsätzen haftet auch die vormalige Klägerin für die Kosten der gescheiterten Abschiebungen am 20. März und 2. Mai 2006, die die nach § 71 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, § 3 Abs. 1 Nr. 1 SächsAAZuVO auch für die Kostenerhebung zuständige Beklagte gegenüber dem Kläger geltend gemacht hat.

Zum Zeitpunkt der Abschiebungsversuche war der Kläger noch minderjährig (§ 80 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, § 2 BGB); angesichts der Umstände der Einreise der Kläger in die Bundesrepublik Deutschland und der Tatsache, dass der Kläger in den Reisepass der Mutter aufgenommen war, ist auch davon auszugehen, dass diese das Sorgerecht und damit gemäß Art. 21 EGBGB, der nicht durch vorrangiges Völkervertragsrecht verdrängt wird, auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht gemäß § 1631 Abs. 1 BGB über den Kläger innehatte, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat (zur Reichweite von Art. 21 EGBGB Palandt, BGB, 73. Aufl. 2014, Art. 21 EGBGB Rn. 5 m.w.N).

Der Kläger und seine Mutter waren seit dem 8. November 2005 (einmonatige Ausreisefrist seit Bestandskraft der die Asylbegehren ablehnenden Bescheide vom 28. Oktober 2002) vollziehbar ausreisepflichtig, ohne dass sie dieser Pflicht freiwillig nachgekommen waren. Daher ließe sich möglicherweise schon aus der unterlassenen Ausübung des Aufenthaltsbestimmungsrechts durch eine gemeinsame freiwillige Ausreise der im Regelfall bestehende Verursachungsbeitrag der Klägerin bejahen.

Allerdings ist hier zu berücksichtigen, dass das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Mutter durch die Inhaftierung des Klägers ab dem 19. Januar 2006 zeitweise mit der Folge "ausgesetzt" war, dass ihr die Entscheidung darüber, ob ihr Sohn, der Kläger, zusammen mit ihr ausreisen sollte, genommen war. Ob sich die Klägerin möglicherweise deshalb hier von dem Regelfall der durch das elterliche Aufenthaltsbestimmungsrecht vermittelten Haftung befreien konnte, kann vorliegend offen bleiben.

Die Klägerin hat nämlich dadurch, dass sie von der Polizei nicht in ihrer Wohnung angetroffen wurde, einen im Sinn der obigen Zurechnungskriterien maßgeblichen Verursachungsbeitrag dafür geleistet, dass auch die geplante Abschiebung des Klägers scheiterte und hierfür erhebliche Kosten angefallen sind. Denn aufgrund der Tatsache, dass der Kläger, der nach iranischem Recht gemäß einer Auskunft der iranischen Botschaft in Berlin vom 23. Februar 2006 (vgl. AS 243 der Behördenakte) erst ab dem 18. Lebensjahr einen eigenen Reisepass benötigte, im Reisepass seiner Mutter miteingetragen war und daher nur zusammen mit dieser zusammen ausreisen konnte, scheiterte eine gesonderte Abschiebung des Klägers in sein Heimatland. Der Mutter war zumindest der die höchsten Kosten verursachende Abschiebungsversuch am 20. März 2006 mit ihr am 17. März 2006 persönlich ausgehändigtem Schreiben vom 15. März 2006 (vgl. in der Behördenakte befindlicher Rückschein, AS 411 [Rückseite]) schriftlich angekündigt worden; dieser Abschiebung hat sie sich dadurch entzogen, dass sie entgegen der schriftlichen Aufforderung nicht in ihrer Wohnung anzutreffen war. In dem vorbezeichneten Schreiben wurde die Mutter auch auf die Folgen, insbesondere die Möglichkeit, sie in Abschiebungshaft zu nehmen, für den Fall hingewiesen, dass sie zum angekündigten Termin nicht anwesend sei. In der Folge entzog sich die Mutter mehreren Versuchen, sie wie angedroht in Abschiebungshaft zu nehmen, so dass auch ein weiterer Abschiebungsversuch scheiterte; nach Auskunft eines Hausbewohners sollte sich die Mutter bei einem Verwandten in den Altbundesländern aufgehalten haben und seit Wochen nicht mehr unter ihrer Wohnanschrift angetroffen worden sein; vielmehr sollte in der Wohnung ein älterer Herr wohnen (vgl. AS 495, 501, 511 der Behördenakte). Obwohl sich der Reisepass der Mutter bei der Beklagten befand, war wegen der passrechtlichen Abhängigkeit des Klägers von der gemeinsamen Einreise mit der Mutter in sein Heimatland damit eine gesonderte Durchführung der Abschiebung des Klägers unmöglich. Damit hatte die Mutter zumindest dadurch, dass sie sich ihrer Abschiebung entzogen hatte, einen maßgeblichen Verursachungsbeitrag dazu geleistet, dass für die gescheiterte Abschiebung des Klägers, dessen Sicherheitsbegleitung angesichts der ihm vorgeworfenen Straftaten auch aus Sicht des Senats im Sinne von § 67 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG erforderlich erschien, hohe Kosten entstanden sind.

Die Heranziehung der Mutter scheitert nicht etwa deshalb, weil die Kosten für die Abschiebung des Klägers auch dann angefallen wären, wenn sich die Mutter nicht der Abschiebung entzogen und sich rechtstreu verhalten hätte. Denn zum einen ist zu berücksichtigen, dass die Kosten schon deshalb entstanden sind, weil die Mutter und in ihrer Begleitung der Kläger nicht bereits früher ihrer Ausreisepflicht freiwillig nachgekommen waren; zum anderen beruht gerade die Höhe der dem Kläger in Rechnung gestellten Kosten für mehrere vergebliche Abschiebungsversuche auf dem Verhalten der Mutter. Schließlich würde die Berücksichtigung eines hypothetischen Kausalverlaufs der auf das Vorliegen eines maßgeblichen Verursachungsbeitrags zur konkret vorgenommenen Abschiebung abstellenden Sichtweise der vorbezeichneten Rechtsprechung widersprechen.

3. Der Beklagte hat verkannt, dass bei der Heranziehung zu den Kosten der gescheiterten Abschiebungsversuche neben dem Kläger auch dessen Mutter haftet; damit hat er fehlerhaft kein Auswahlermessen ausgeübt.

Die Gründe der in Streit stehenden Bescheide lassen keine andere Feststellung zu. Insbesondere ergibt sich aus ihnen, dass die vormalige Klägerin und der Kläger jeweils nur für solche Kosten haften sollen, die ihnen aus Behördensicht jeweils zuordenbar sind. So hält der Leistungsbescheid vom 16. Juni 2010 etwa auf Seite drei unten fest, dass "die hohen Kosten der für den 20. März 2006 organisierten Sicherheitsleistung (…) dagegen Herrn K. (dem Kläger) anzulasten (sind), da er durch sein Verhalten Anlass zu der Annahme, möglicherweise Widerstand gegen die Abschiebung zu leisten, gab." Die Kosten der Polizeidirektion Leipzig werden hiernach allein der vormaligen Klägerin zugerechnet, weil diese durch ihre Abwesenheit das Scheitern der gesamten Rückführungsbemühungen verursacht habe. Der Widerspruchsbescheid vom 12. Oktober 2010 nimmt keine andere Einschätzung vor, sondern verweist auf Seite sieben unten nur darauf, dass sich der Kläger das Verhalten seiner Mutter zurechnen lassen müsse. Mit dem weiteren Hinweis auf Seite acht (drittletzter Absatz), die Widerspruchsführer (d. h. die späteren Kläger) müssten sich sämtliche Kosten aufgrund ihres Verhaltens (Untertauchen, strafrechtliches Verhalten) zurechnen lassen und seien verpflichtet, diese Kosten zu tragen, sollte ersichtlich nur die im Leistungsbescheid vorgenommene Kostenzuordnung bestätigt, nicht aber darüber hinaus eine gesamtschuldnerische Haftung und davon ausgehend hier die Heranziehung des Klägers statt seiner Mutter begründet werden.

4. Schließlich sind auch keine Umstände erkennbar, nach denen die unterlassene Ermessensausübung deshalb ausnahmsweise unschädlich war, weil nur die Heranziehung des Klägers sachgerecht gewesen und im Hinblick auf die Schuldnerauswahl das Auswahlermessen auf Null reduziert wäre. Soweit der Beklagte hierzu anführt, dass der Kläger selbst dadurch eine von seiner Mutter getrennte und damit erfolgreiche Abschiebung verhindert habe, weil er sich trotz Aufforderung nicht um die Ausstellung eigener Reisedokumente bemüht hätte, ist festzustellen, dass dieser - soweit auch aus der vom Senat beigezogenen Behördenakte der örtlich zuständigen Ausländerbehörde ersichtlich - erstmalig mit Schreiben vom 11. Juli 2006 und damit erst nach Durchführung der Abschiebungsversuche zur Einleitung von Maßnahmen zur Passbeschaffung aufgefordert worden war; diese Aufforderung dürfte auch darauf zurückzuführen gewesen sei, dass der gemeinsame Reisepass der Mutter erst am 9. Mai 2006 ausgelaufen war (vgl. AS 103 der Behördenakte). Nachdem bis dahin diese Dokumentenlage von dem Beklagten gegenüber dem Kläger und seiner Mutter nicht beanstandet und auch seiner Vorgehensweise zugrunde gelegt worden war, ist dem Kläger nicht vorzuwerfen, sich bis dahin nicht um die Ausstellung eigener Personaldokumente bemüht zu haben. Weitere Verursachungsbeiträge, die denjenigen der Mutter hätten vollständig verdrängen können, sind nicht ersichtlich und auch nicht vorgetragen. Auch die Tatsache, dass wegen der Inhaftierung des Klägers gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 3 Nr. 1 AufenthG eine Überwachung seiner Ausreise und wegen der ihm vorgeworfenen Straftaten seine begleitete Abschiebung erforderlich war, können den Verursachungsbeitrag der Mutter nicht in einem für eine Ermessensreduzierung auf Null erforderlichen Umfang verdrängen, da diese der vollziehbaren Ausreisepflicht schon früher und damit zu einem Zeitpunkt, als sich der Kläger noch nicht in Haft befand, nicht freiwillig nachgekommen war.

Liegt demnach ein Ermessensausfall vor, bedarf es vorliegend keiner Entscheidung mehr, ob die dem Kläger in Rechnung gestellten Kosten auch in dem angesetzten Umfang gemäß § 66 Abs. 1, § 67 Abs. 1 Nr. 1, 3 AufenthG zutreffend festgesetzt worden waren. [...]