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OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.10.2013 - 12 S 106.13 - asyl.net: M21641
https://www.asyl.net/rsdb/M21641
Leitsatz:

1. Das Gericht ist auch in Eilrechtsschutzverfahren gehalten, das wirkliche Rechtsschutzziel, wie es sich aus dem gesamten Vorbringen und der Interessenlage des Antragstellers ergibt, zu ermitteln und zur Grundlage seiner Sachprüfung zu machen.

2. § 88 VwGO steht einer sachdienlichen Auslegung und ggf. Umdeutung eines Eilantrages auch bei anwaltlicher Vertretung des Antragstellers nicht entgegen, wenn sich eindeutig erkennen lässt, dass das wahre Antragsziel von der Antragsfassung abweicht.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, Reisefähigkeit, fachärztliche Stellungnahme, Stellungnahme, Arzt, Abschiebung, Schutzwirkung, aufenthaltsrechtliche Schutzwirkung, anwaltliche Vertretung, Rechtsanwalt, Rechtsschutzziel, Auslegung, vorläufiger Rechtsschutz,
Normen: VwGO § 88, VwGO § 123 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, GG Art. 6,
Auszüge:

[...]

Die damit erhobene Rüge einer Verletzung des § 88 VwGO greift nicht durch. Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Dem Gericht obliegt es danach, das tatsächliche Rechtsschutzbegehren zu ermitteln und zur Grundlage seiner Sachprüfung zu machen. Dabei ist maßgeblich auf das gesamte Parteivorbringen abzustellen. Unter Anwendung der für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze ist das wirkliche Rechtsschutzziel anhand des sich aus der prozessualen Erklärung und den sonstigen Umständen ergebenden Parteiwillens zu ermitteln; der Wortlaut der Erklärung tritt insoweit hinter deren Sinn und Zweck zurück. Zu berücksichtigen ist neben dem Klageantrag und der Klagebegründung insbesondere auch die Interessenlage des Klägers, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und sonstigen für das Gericht und den Beklagten als Empfänger der Prozesserklärung erkennbaren Umständen ergibt (vgl. zum Vorstehenden: BVerwG, Beschluss vom 12. März 2012 - 9 B 7/12 - juris Rn. 5; Beschluss vom 13. Januar 2012 - 9 B 56/11 - juris Rn. 7; jeweils m.w.N.).

Ist der Kläger bei der Fassung des Klageantrags anwaltlich vertreten, kommt der Antragsformulierung allerdings gesteigerte Bedeutung für die Ermittlung des tatsächlich Gewollten zu. Selbst dann darf die Auslegung jedoch vom Antragswortlaut abweichen, wenn die Klagebegründung, die beigefügten Bescheide oder sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche Klageziel von der Antragsfassung abweicht (BVerwG, a.a.O., Rn. 6 bzw. Rn. 8).

Die vorstehenden Grundsätze gelten auch in selbständigen Beschlussverfahren, in denen § 88 VwGO entsprechend anwendbar ist (§ 122 Abs. 1 VwGO). Das Gericht ist namentlich auch in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gehalten, Anträge nach § 88 VwGO sachdienlich auszulegen und mit Blick auf das erkennbare wahre Rechtsschutzziel gegebenenfalls umzudeuten. Das Festhalten an dem Wortlaut eines für unzulässig erachteten Antrages darf auch gegenüber einem anwaltlich vertretenen Antragsteller nicht zu einer mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht zu vereinbarenden unzumutbaren Erschwerung des Rechtswegs führen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. Oktober 2007 - 2 BvR 542/07 - NVwZ 2008, 417; hier zitiert nach juris Rn. 17).

Gemessen hieran hat das Verwaltungsgericht die Grenzen zulässiger Auslegung nicht überschritten. Zwar weist der Antragsgegner zu Recht darauf hin, dass die anwaltlich vertretenen Antragsteller ausdrücklich einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt haben, der auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 6. Februar 2013 gerichtet war. Nach der mit der Beschwerde nicht angegriffenen Auffassung des Verwaltungsgerichts war ein derartiger Antrag unzulässig, weil mit dem die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen ablehnenden Bescheid keine im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO verteidigungsfähige Rechtsstellung eines erlaubten Aufenthalts beseitigt wurde. Entgegen dem Beschwerdevorbringen trifft es jedoch nicht zu, dass sich Inhalt und Gegenstand des anwaltlich verfassten Antrags in der Geltendmachung eines Anspruchs auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen erschöpfte, ohne sich auch nur ansatzweise auf die Erteilung von Duldungen zu beziehen.

Der Antragsbegründung lässt sich eine derartige Einschränkung des wirklichen Rechtsschutzbegehrens nicht entnehmen. Auf den abgelehnten Antrag der Antragsteller auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen "aufgrund der bestehenden Reiseunfähigkeit" wird lediglich im Zusammenhang mit der bereits erhobenen und "umfänglich begründeten" Klage im Hauptsacheverfahren verwiesen. Zur Begründung des Eilrechtsschutzbegehrens wird dagegen vorgetragen, dass die den Antragstellern in der Vergangenheit erteilten Duldungen erstmalig am 8. Juli 2013 nicht verlängert worden seien; mit den ausgehändigten Grenzüberschrittsbescheinigungen seien sie zur Ausreise bis spätestens 5. August 2013 aufgefordert worden. Insoweit wird ausdrücklich geltend gemacht, dass die Antragsteller aufgrund der bestehenden psychischen Erkrankung der Antragstellerin nicht ausreisen könnten. Im Falle einer Abschiebung drohe unmittelbar der psychische Kollaps der Antragstellerin, die erst kurz zuvor wegen des Erscheinens der Polizei im Wohnheim einen Zusammenbruch erlitten habe und mit der Feuerwehr ins Krankenhaus gebracht worden sei. Im Anschluss an die geltend gemachte Lebensgefahr im Falle der Abschiebung wird um Zusicherung gebeten, dass bis zur Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen ergriffen werden.

Für die Annahme, die Erteilung von Duldungen im Wege einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO finde in der Antragsbegründung keine Stütze, ist danach kein Raum. Ein Fall, in dem der Wesensgehalt einer nach § 88 VwGO zulässigen Auslegung überschritten wird, wenn das Gericht an die Stelle dessen, was eine Partei erklärtermaßen will, das setzt, was sie - nach Meinung des Gerichts - "wollen sollte" (vgl. OVG Berlin, Beschluss vom 12. Mai 2003 - OVG 3 S 22.02 - juris Rn. 5 unter Hinweis auf BVerwG, Beschluss vom 29. August 1989 - 8 B 9/89 - juris Rn. 2), liegt nicht vor. Denn aus der Antragsbegründung und der zu berücksichtigenden Interessenlage der Antragsteller wird hinreichend deutlich, dass ihr Eilrechtsschutzbegehren auf eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung gerichtet ist. Diesem erkennbar gewordenen wahren Rechtsschutzziel hat das Verwaltungsgericht zu Recht durch eine Umdeutung des anwaltlich formulierten Antrags in einen auf Duldungserteilung zielenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Rechnung getragen.

2. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht auch einen Anordnungsanspruch der Antragsteller auf Erteilung von Duldungen bejaht. In nicht zu beanstandender Weise hat es dabei unter Berücksichtigung der vorliegenden fachärztlichen Atteste und gutachterlichen Stellungnahmen sowie des dokumentierten Vorfalls am 19. April 2013 angenommen, das mit einem Abschiebungsversuch einhergehende gesundheitliche Risiko für die Antragstellerin sei so hoch, dass bis zu einer weiteren Aufklärung im Hauptsacheverfahren von einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne des § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszugehen sei.

Die dagegen erhobenen Einwände greifen nicht durch. Eine psychische Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers kann ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis nicht nur dann begründen, wenn der Ausländer wegen der Erkrankung transportunfähig ist, sich sein Gesundheitszustand mithin durch und während des eigentlichen Vorgangs des Reisens wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinne). Ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis kann auch dann vorliegen, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers - außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs - unmittelbar durch die Abschiebung als solche wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne; vgl. Beschluss des Senats vom 6. September 2012 - OVG 12 S 37.12 - BA S. 3 m.w.N.). Entgegen dem Beschwerdevorbringen kann eine derartige unmittelbar abschiebungsbedingte Verschlechterung des Gesundheitszustands der Antragstellerin nicht allein deshalb verneint werden, weil es ihr - ebenso wie ihrem Ehemann - freistehe, freiwillig auszureisen und damit etwaigen mit der Abschiebung einhergehenden psychischen Belastungen entgegenzuwirken (vgl. zu einer im Ergebnis ausdrücklich offen gelassenen "Mitwirkungs- oder Gefahrenminderungspflicht" des ausreisepflichtigen Ausländers: VGH Mannheim, Beschluss vom 15. Oktober 2004 - 11 S 2297/04 - juris Rn. 4 und Rn. 9). Zu Recht hat bereits das Verwaltungsgericht dem Vorbringen des Antragsgegners entgegengehalten, dass es bei der Prüfung eines im Wege einstweiliger Anordnung sicherungsfähigen Anspruchs auf Erteilung einer Duldung nicht um Hindernisse gegen eine freiwillige Ausreise geht, sondern gerade die (zwangsweise) Abschiebung in Rede steht.

Eine Reiseunfähigkeit der Antragstellerin im weiteren Sinne wird auch durch den Einwand, den im Zusammenhang mit dem Vorfall am 19. April 2013 eingereichten Berichten der Berliner Feuerwehr, der Elisabeth Klinik und des St. Hedwig-Krankenhauses lasse sich nicht entnehmen, dass die Antragstellerin durch das zufällige Zusammentreffen mit Polizeibeamten in Lebensgefahr geraten sei, nicht mit Erfolg in Frage gestellt. Abgesehen davon, dass ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis - wie dargelegt - nicht zwangsläufig eine drohende Lebensgefahr voraussetzt, sondern auch dann vorliegen kann, wenn die ernsthafte Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes besteht, vermag die Auswertung der vorgenannten Unterlagen nicht zu überzeugen. Nach den eigenen Angaben des Antragsgegners ist bei dem im Notarzt-Protokoll vom 19. April 2013 in der Rubrik "NACA-Store" angegebenen PESA-Wert nur "in der Regel" eine ambulante ärztliche Abklärung ohne notärztliche Maßnahmen ausreichend. Dass bei der Antragstellerin ein derartiger Regelfall gegeben war, ist aus dem Protokoll indes nicht hinreichend ersichtlich. Ausweislich der Angaben zur Einsatzart erfolgte der Einsatz der Feuerwehr jedenfalls in Begleitung eines Notarztes; die bei der Antragstellerin festgestellten krisenhaft erhöhen Blutdruckwerte konnten zudem durch die Gabe von Nitrospray nicht gesenkt werden. Dass nach der Einlieferung in die Rettungsstelle der Elisabeth Klinik ein stabiler Kreislauf und "normotone RR Werte" festgestellt worden sind, stellt die Tatsache, dass die Antragstellerin anlässlich des vermeintlich ihr und ihrem Ehemann geltenden Erscheinens von Polizeibeamten im Wohnheim in eine hypertensive Krise geraten ist, gleichfalls nicht in Frage. Zu diesem Zeitpunkt dürfte auch für die Antragstellerin erkennbar gewesen sein, dass das Erscheinen der Polizei nicht im Zusammenhang mit ihrer oder der Abschiebung ihres Ehemannes stand.

Bei der im vorliegenden Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung kann die Gefahr einer psychischen Dekompensation der Antragstellerin und einer erneuten hypertensiven Krise bei künftigen Abschiebungsversuchen schließlich nicht mit Blick auf die vom Antragsgegner angeführten Widersprüche verneint werden, die sich aus den eingereichten fachärztlichen Stellungnahmen und dem ablehnenden Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 1. Oktober 2010 ergeben. Die Ausführungen des Bundesamtes beziehen sich auf das Vorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse und beruhen im Übrigen lediglich auf zwei im damaligen Verfahren eingereichten ärztlichen Unterlagen (Seite 15 des Bescheides). Die vom Verwaltungsgericht im angegriffenen Beschluss angeführten Atteste des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Genieser vom 28. September 2012 und 26. Juni 2013 sind ebenso wie die gutachterliche Stellungnahme der Dipl. Psych. Rothkegel vom 25. Januar 2012 erst nach dem ablehnenden Asylbescheid erstellt worden. Zu diesen Unterlagen verhält sich die Beschwerde nicht. Soweit bereits im Attest des behandelnden Facharztes Genieser vom 28. September 2012 ein schweres psychiatrisches Krankheitsbild bei der Antragstellerin diagnostiziert und auf die Gefahr einer psychischen Dekompensation bei einer Abschiebung verwiesen worden ist, ist diese Gefahr letztlich durch den notwendigen ärztlichen Einsatz am 19. April 2013 bestätigt worden. Nach alledem muss die Frage, ob bei der Antragstellerin krankheitsbedingt ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis vorliegt, nach der zutreffenden Auffassung des Verwaltungsgerichts der weiteren Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Daran vermag auch der erneute Hinweis des Antragsgegners auf eine mögliche ärztliche Betreuung der Abschiebung nichts zu ändern. Mit den Gründen, aus denen das Verwaltungsgericht eine ärztliche Untersuchung der Antragstellerin vor sowie eine ärztliche Begleitung während des Fluges nicht als ausreichend erachtet hat, um der Gefahr einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung wirksam zu begegnen, setzt sich die Beschwerde nicht auseinander.

In nicht zu beanstandender Weise ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass auch dem Antragsteller wegen der aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG ein Duldungsanspruch zusteht. Der bloße Einwand, es sei den Antragstellern zuzumuten, die familiäre Lebensgemeinschaft in ihrem Heimatland zu leben, bietet keinen Anlass für eine abweichende rechtliche Beurteilung. Da eine Abschiebung der Antragstellerin derzeit rechtlich unmöglich ist, kommt auch eine zwangsweise Durchsetzung der Ausreisepflicht ihres Ehemannes zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in Betracht. [...]