VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 10.10.2013 - AN 11 K 13.30497 - asyl.net: M21637
https://www.asyl.net/rsdb/M21637
Leitsatz:

Im Einzelfall teilweise begründeter Rechtsschutz im Folgeverfahren eines im Mai 2010 eingereisten Hazara aus Afghanistan;

Glaubhaft gemachte Homosexualität im Folgeverfahren;

Zwar keine Wiederaufgreifensgründe hinsichtlich Asylanerkennung und Flüchtlingszuerkennung, da insoweit schon die besonderen Zulässigkeitsanforderungen des § 51 Abs. 2 und 3 VwVfG entgegenstehen;

Aber unionsrechtlicher Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 AufenthG;

Insoweit zwar kein strikter, aber ermessensmäßiger und auf Null reduzierter Wiederaufgreifensanspruch.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Hazara, homosexuell, Wiederaufnahmegründe, Wiederaufgreifensgrund, Asylfolgeantrag,
Normen: VwVfG § 51 Abs. 2, VwVfG § 51 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

1. Der Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (im Sinne der begehrten Asylanerkennung und der Flüchtlingszuerkennung) wurde nämlich zu Recht abgelehnt. Zur Begründung wird zunächst auf die insoweit zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bundesamtsbescheid verwiesen, § 77 Abs. 2 AsylVfG, § 117 Abs. 5 VwGO. Ergänzend und vertiefend wird noch ausgeführt: Der mit Schriftsatz seiner nunmehrigen Bevollmächtigten vom 27. Juni 2012 (Bl. 1 ff. BFA) nach rechtskräftigem Abschluss des Asylerstverfahrens mit Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. November 2012 Az.: 13a B 11.30465 (Bl. 206 ff. BEA) erneut gestellte Asylantrag des Klägers ist ein Asylfolgeantrag, der an den Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG zu messen ist. Stellt danach der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag, so ist dieser Asylfolgeantrag nur beachtlich, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Danach ist dieses Verfahren dann wiederaufzugreifen, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage zugunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) oder neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG). Dabei ist der Antrag nur zulässig, wofür der Folgeantragsteller die Darlegungslast trägt, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außer Stande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren insbesondere durch Rechtsbehelf geltend zu machen und der Antrag innerhalb von drei Monaten ab dem Tag, an dem der Betroffene von dem Grund des Wiederaufgreifens Kenntnis erhalten hat, gestellt wurde, § 51 Abs. 2 und 3 VwVfG, wobei beide Zulässigkeitsanforderungen selbständig nebeneinander stehen und grobes Verschulden nur bei Abs. 2 relevant ist (Renner § 71 AsylVfG Rn. 23, Hofmann/Hoffmann § 71 AsylVfG Rn. 37). Grobes Verschulden liegt in diesem Sinne insbesondere vor, wenn trotz Kenntnis oder sich aufdrängendem Kennenmüssen eines möglichen Verfolgungsgrunds unter grobem Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht im Verfahren dieser nicht rechtzeitig vorgebracht wird (BeckOK § 51 VwVfG Rn. 57). Dabei ist die Regelung in § 51 Abs. 2 VwVfG als gerechter Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und Verfahrensökonomie verfassungsgemäß (BVerfG, B.v. 30.5.1986 – 2 BvR 500/86 – juris). Die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG beginnt mit der Kenntnisnahme des Wiederaufgreifensgrunds. Dazu gehört, dass dem Betroffenen die Tatsachen, die den Wiederaufgreifensgrund ausfüllen, bekannt sind. Nicht erforderlich ist die rechtlich zutreffende Würdigung (BeckOK § 51 VwVfG Rn. 60). Auch bei Dauersachverhalten ist grundsätzlich die erstmalige Kenntnisnahme vom Dauersachverhalt maßgeblich (GK-AsylVfG § 71 AsylVfG Rn. 120.1). Gegenstand der Prüfung im Wiederaufgreifensverfahren sind nur solche Wiederaufgreifensgründe, die vom Antragsteller auch vorgetragen wurden. Es muss sich weiter aus dem substantiierten und glaubhaften Vortrag ergeben, dass sich die zugrunde gelegte Sachlage tatsächlich verändert hat (GK § 71 AsylVfG Rn. 87). Eine Änderung der Sachlage ist dann anzunehmen, wenn sich entweder die allgemeinen politischen Verhältnisse oder Lebensbedingungen im Heimatstaat oder aber die das persönliche Schicksal des Asylbewerbers bestimmenden Umstände verändert haben (Renner § 71 AsylVfG Rn. 24; Stelkens/Bonk/Sachs § 51 VwVfG Rn. 71). Wurde das Vorbringen des Ausländers im Asylerstverfahren als unglaubwürdig gewertet, muss er sich im Folgeverfahren mit der dortigen Begründung konkret und detailliert auseinandersetzen und im Einzelnen deutlich machen, ob und in welcher Weise das neue Vorbringen die früheren Zweifel an seinen Angaben auszuräumen vermag (Marx § 71 AsylVfG Rn. 251). Zusammenfassend ist eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Feststellungen aus dem Asylerstverfahren gefordert, wobei die Änderung der Sachlage konkret und nachvollziehbar auf die individuelle Situation des Ausländers zu beziehen ist (Marx a.a.O. Rn. 250 ff.). Nach § 71 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG hat der Ausländer in dem Asylfolgeantrag seine Anschrift sowie Tatsachen und Beweismittel anzugeben, aus denen sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ergibt.

Ausgehend von diesen Grundsätzen stehen der begehrten Asylanerkennung und Flüchtlingszuerkennung, wobei das Erstbegehren schon deshalb nicht gewährt werden kann, weil der Kläger nach eigenen Angaben, zuletzt in der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2013, auf dem Landweg über einen sicheren Drittstaat in das Bundesgebiet eingereist ist, was zum Ausschluss des Asylgrundrechts führt, und weil die Verpflichtung zur Asylanerkennung mit dem Folgeantrag vom 27. Juni 2013 gar nicht beantragt wurde und mangels Antrags insoweit schon kein Rechtsschutzbedürfnis besteht, schon die besonderen Zulässigkeitsanforderungen des § 51 Abs. 2 und 3 VwVfG entgegen. Den möglicherweise relevanten Vortrag, er habe bereits im Alter von 14 Jahren im Iran - also schon vor Einreise in das Bundesgebiet - bemerkt, dass er homosexuell und ein Leben als Homosexueller in Afghanistan nicht möglich sei, und er auch nach der Einreise hier homosexuelle Kontakte geknüpft und verschiedene Sexpartner gefunden habe, hätte der Kläger bereits im Asylerstverfahren, das mit rechtskräftigem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. November 2012 abgeschlossen wurde, bringen müssen. Hierzu war der Kläger auch nicht ohne grobes Verschulden außerstande im Sinne des vorgenannten Abs. 2. Nicht überwindbare Schamgefühle reichen nach Ansicht des Gerichts dabei nicht aus (aA VG Frankfurt/Main, U.v. 23.11.2010 – 7 K 2790/10.F.A – juris und VG Augsburg, U. v. 29.7.2013 – Au 6 K 13.30158 – juris). Abgesehen davon, dass solche hier schon nicht ausreichend glaubhaft gemacht wurden, muss vom Asylbewerber nämlich grundsätzlich verlangt werden, dass er sich entsprechend offenbart, weshalb nur die absolute Unzumutbarkeit hierzu, etwa wenn er als Opfer von Gewalt (aufgrund der Umstände des Einzelfalls) nicht fähig war, die erlittenen Misshandlungen vorzutragen (Hofmann/Hoffmann § 71 AsylVfG Rn. 37), ihn entschuldigen kann. Solche sind nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere aufgrund des Eindrucks in der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2013 nicht gegeben. Vielmehr hat der Kläger bereits seit der Einreise in das Bundesgebiet seine sexuelle Ausrichtung relativ offen ausgeübt und auch gewusst, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan bei ihrem Bekanntwerden große Schwierigkeiten hätte. Demgegenüber hatte er bei seiner Bundesamtsanhörung am 13. Juli 2010 und in der mündlichen Verhandlung vom 2. März 2011 im Zusammenhang mit einer Verfolgung in Afghanistan lediglich angebliche Schwierigkeiten von Verwandten angegeben. Hier drängt sich auf, dass der Kläger zunächst nur diese Geschichte zur Entscheidung stellen wollte. Hinzu kommt - als insoweit selbständig tragende Begründung - dass auch die Antragsfrist des Abs. 3 nicht eingehalten wurde. Diese begann hier frühestens mit dem rechtskräftigen Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. November 2012 zu laufen, da der Kläger schon nach eigenen Angaben damals homosexuell war und die Asylrelevanz seiner Neigung kannte, aber aus Scham sie nicht bereits früher offenbart haben will. Aber selbst wenn den eigenen Angaben des Klägers gefolgt würde, wäre das Einbringen im Asylerstverfahren zeitlich noch möglich gewesen bzw. ergäbe sich die Antragsverfristung. So gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2013 ausdrücklich an, es bis vor einem Jahr in Deutschland heimlich gemacht zu haben, aber seither wüssten fast alle seine Freunde, dass er homosexuell sei, was nichts anderes bedeute, dass er sich geoutet habe und spätestens zu diesem Zeitpunkt seine Scham verloren habe. Dies wäre dann im September/Oktober 2012 gewesen. Der entsprechende Asylfolgeantrag mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 27. Juni 2013 ist damit aber ebenfalls verfristet.

2. Zwar hat das BAMF weiter hinsichtlich der Abschiebungsverbote in der nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 24.6.2008 – 10 C 43/07 – juris, U.v. 27.4. 2010 – 10 C 4/09 – juris und U.v. 29.6.2010 – 10 C 10/09 – juris) zu prüfenden Reihenfolge des § 60 Abs. 2, Abs. 7 Satz 2 bzw. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG das Vorliegen eines strikten Wiederaufgreifensanspruchs zu Recht abgelehnt, weil auch in diesem Zusammenhang die bereits genannten besonderen Zulässigkeitsanforderungen wiederum nicht erfüllt sind. Es ist jedoch der dann zu prüfende Ermessensanspruch gegeben, der hier zu einer positiven Feststellung hinsichtlich des Abschiebungsverbots des § 60 Abs. 2 AufenthG führt, weil vorliegend eine Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen ist.

Das - hier begehrte - (isolierte) Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich der früheren (negativen) Feststellung zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG richtet sich (unmittelbar) nach der allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschrift des § 51 Abs. 1 bis 5 VwVfG (BVerwG, U.v. 7.9.1999 – 1 C 6/99 – juris, 417, U.v. 21.3.2000 – 9 C 41/99 – juris, B.v. 23.11.1999 – 9 C 3/99 – juris, U.v. 20.10.2004 – 1 C 15/03 – juris, Hofmann/Hoffmann § 71 AsylVfG Rn. 50). Danach hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zu Grunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zu Gunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) oder neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) oder Wiederaufgreifensgründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG). Gegenstand der Prüfung im Wiederaufgreifensverfahren sind dabei nur solche Wiederaufgreifensgründe, die vom Antragsteller auch vorgetragen wurden. Es muss sich weiter aus dem substantiierten und glaubhaften Vortrag ergeben, dass sich die zu Grunde gelegte Sachlage tatsächlich verändert hat. Der Antragsteller hat eine besondere Darlegungspflicht hinsichtlich der näheren tatsächlichen Voraussetzungen des Wiederaufnahmegrunds (BVerwG a.a.O.). Er muss jedenfalls Tatsachen dazu vortragen; allgemeine Behauptungen genügen nicht (Kopp/Ramsauer § 51 VwVfG Rn. 16).

Ausgehend von diesen Grundsätzen wurde das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen im engeren Sinne hier schon nicht glaubhaft gemacht. Denn im vorliegenden Fall stehen einem solchen Wiederaufgreifensanspruch - wie bereits vorstehend zu den Asylansprüchen ausgeführt - schon die besonderen Zulässigkeitsanforderungen des § 51 Abs. 2 und 3 VwVfG entgegen. Auch in diesem Zusammenhang war dem Kläger die Relevanz seiner Homosexualität als Abschiebungsverbot bekannt, die er aus angeblicher Scham im Asylerstverfahren nicht vorgetragen habe, dieser Gesichtspunkt dort also nicht eingebracht wurde, und auch insoweit die Antragsfrist versäumt wurde.

Es liegen hier aber hinsichtlich des vorrangig zu prüfenden Abschiebungsverbots des § 60 Abs. 2 AufenthG die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen im weiteren Sinne vor. Auch in den von § 51 (Abs. 1 bis 3) VwVfG nicht erfassten Fällen ist ein Wiederaufgreifen zwar grundsätzlich zulässig, steht jedoch im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde (BVerwG, B.v. 22.10.1984 – 8 B 56/84 – juris). Dies folgt aus § 51 Abs. 5 VwVfG und gilt auch für das - hier begehrte - (isolierte) Wiederaufgreifen hinsichtlich einer früheren (negativen) Feststellung zu § 60 Abs. 2 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG (BVerwG a.a.O. zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG). Danach bleiben die Vorschriften des § 48 Abs. 1 Satz 1 und des § 49 Abs. 1 VwVfG unberührt. Die Rechte aus § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG und aus §§ 48 ff. VwVfG stehen daher selbstständig und unabhängig nebeneinander (Kopp/Ramsauer § 51 VwVfG Rn. 6 und 50; König/Meins Art. 51 BayVwVfG Rn. 48). Das formell subjektiv-öffentliche Recht auf fehlerfreie Ermessensentscheidung hinsichtlich der Rücknahme oder des Widerrufs eines Verwaltungsakts unterliegt der Ermessenskontrolle nach § 40 VwVfG und soll nach § 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG begründet werden (Kopp/Ramsauer § 48 VwVfG Rn. 53). Bei ihrer Ermessensentscheidung hat die Behörde die Gründe der Rechtssicherheit, die für die Aufrechterhaltung des bestandskräftigen Bescheids sprechen, gegen die Gründe der materiellen Einzelfallgerechtigkeit, die für seine Aufhebung streiten, wobei beide Prinzipien grundsätzlich gleichwertig sind, sofern sich aus dem materiellen Recht keine andere Wertung ergibt (BVerwG, U.v. 30.1.1974 – VIII C 20.72 – juris) gegeneinander und untereinander abzuwägen. Die Behörde hat dabei die maßgebenden Ermessenserwägungen hinreichend darzulegen, wobei sie die Besonderheiten des Einzelfalls sowie die Eigenarten gerade dieses Ausgangsverfahrens in Rechnung stellen muss (König/Meins Art. 51 BayVwVfG Rn. 49). Dabei kommt es vor allem auf die Schwere und Offensichtlichkeit des Rechtsverstoßes, die Zumutbarkeit der durch den Verwaltungsakt eingetretenen Situation und die Umstände an, warum keine Rechtsbehelfe gegen den Erstbescheid ergriffen wurden (Kopp/Ramsauer § 48 VwVfG Rn. 55). Es ist daher in der Regel nicht ermessensfehlerhaft, wenn die Behörde in den von § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG erfassten Fällen die Eröffnung eines Verfahrens nach §§ 48, 49 VwVfG von Amts wegen unter Hinweis auf die Möglichkeit der Antragstellung nach § 51 VwVfG bzw. die Rücknahme oder den Widerruf mit der Begründung ablehnt, dass der Betroffene von dieser Möglichkeit nicht rechtzeitig Gebrauch gemacht hat (Kopp/Ramsauer § 51 VwVfG Rn. 6 und 51). Dann kann sich das Gericht grundsätzlich auch nicht - etwa im Wege einer Durchentscheidung - an die Stelle der Behörde setzen und über den Ermessensanspruch sachlich entscheiden. Bei besonders gelagerten Sachverhalten kann sich aber das genannte Ermessen "auf Null" verengen, sodass es ausnahmsweise (so auch hier) zu einem Anspruch auf Wiederaufgreifen kommen kann. Dies ist dann anzunehmen, wenn die Aufrechterhaltung des Erstbescheids schlechthin unerträglich wäre, der Erstbescheid über seine Rechtswidrigkeit hinaus offensichtlich fehlerhaft wäre oder Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit des Erstbescheids als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (BVerwG a.a.O.; Kopp/Ramsauer §§ 48 VwVfG Rn. 56 und 51 VwVfG Rn. 7; König/Meins Art. 51 BayVwVfG Rn. 49). In diesem Zusammenhang kann ein derartiger Fall vor allem dann vorliegen, wenn die bei der Interpretation von Abschiebungsverboten zu beachtenden Ausstrahlungen des Grundrechts aus Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 2 GG (BVerfG, B.v. 3.4.1992 – 2 BvR 1837/91 – juris zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) dazu führen können, dass von einer Abschiebung in das Heimatland abgesehen wird. Bei einer derartigen extremen Gefahr liegt eine Ermessensreduzierung auf Null vor (BVerwG a.a.O.).

In diesem Zusammenhang ist maßgeblich auf die einschlägige materielle Rechtslage abzustellen (Kopp/Ramsauer § 51 VwVfG Rn. 18 und 20 m.w.N.), hier auf § 60 Abs. 2 AufenthG.

Nach dieser Vorschrift in der durch Art. 1 Nr. 48 b) des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19. August 2007 geänderten Fassung, der die Vorgaben von Art. 15 b der QRL aufnimmt (BT-Drks. 16/5065 S. 186; BVerwG a.a.O.), darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Da der Wortlaut dieser Vorschrift dem Art. 3 EMRK vollständig und dem früheren § 53 Abs. 1 AuslG teilweise entspricht, kann zur Auslegung grundsätzlich auf die diesbezügliche Rechtsprechung, insbesondere auch des EGMR (Hailbronner § 60 AufenthG Rn. 107, BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris) und auf die Literatur verwiesen werden. Für die Feststellung dieses Abschiebungsverbots gelten nach § 60 Abs. 11 AufenthG die Art. 4 Abs. 4, Art. 5 Abs. 1 und 2 und Art. 6 bis 8 QRL. Damit werden die dortigen Bestimmungen über den Vorverfolgungsmaßstab, Nachfluchtgründe, Verfolgungs- und Schutzakteure und internen Schutz auch auf dieses Abschiebungsverbot für anwendbar erklärt (BT-Drks. a.a.O.). Es müssen konkrete Anhaltspunkte oder stichhaltige Gründe dafür glaubhaft gemacht werden, dass der Ausländer im Fall seiner Abschiebung einem echten Risiko oder einer ernsthaften Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre (Hailbronner § 60 AufenthG Rn. 108). Auch sind unzureichende Lebensbedingungen, eine mangelhafte medizinische Versorgung oder eine allgemeine Gewaltsituation wie Bürgerkriegssituationen, innere Unruhen und bewaffnete Konflikte im Heimatland des Ausländers nur bei exzeptionellen Umständen relevant (Hailbronner § 60 AufenthG Rn. 119 ff., BVerwG a.a.O.).

Einer solchen unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung durch den afghanischen Staat, traditionsbewusste und religiös im Sinn der Scharia orientierte Mitbürger und Nachbarn oder gar die Taliban kann der Kläger im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan entsprechend der Auskunftslage wegen seiner glaubhaft gemachten Homosexualität mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sein, wenn diese jenen bekannt wird. Der Kläger müsste nach der Auskunftslage wegen seiner glaubhaft gemachten homosexuellen Handlungen bei einer Rückkehr nach Afghanistan im Fall ihres Bekanntwerdens mit Verfolgung rechnen, ohne dass er Schutz vom afghanischen Staat erhalten könnte, vielmehr dieser ihn selbst verfolgen könnte, oder ohne dass ihm eine interne Fluchtmöglichkeit zur Verfügung stünde, da die Gefährdung des Klägers aufenthaltsbezogen wäre. Homosexuelle dürften - ohne dass dies in diesem Zusammenhang entscheidungserheblich wäre - in Afghanistan auch eine bestimmte soziale Gruppe darstellen, weil sie als solche ausgegrenzt, von Staat und Gesellschaft geächtet und im Rechtssinn verfolgt werden. Über die staatliche bzw. nichtstaatliche Behandlung Homosexueller berichten die Auskunftsstellen weitgehend übereinstimmend. Nach der ständigen Lageberichterstattung des AA, zuletzt vom 4. Juni 2013, werden Formen homosexuellen Lebens von der Gesellschaft abgelehnt. Sexualpraktiken, die üblicherweise mit Homosexualität in Verbindung gebracht werden, seien mit langjähriger Haftstrafe sanktioniert. Neben der sozialen Ächtung verstärkten Bestimmungen und die Auslegung der Scharia mit Androhungen von Strafen bis hin zur Todesstrafe den Druck auf die Betroffenen. Eine systematische Verfolgung durch staatliche Organe sei zwar nicht festzustellen, was aber auch an der vollkommenen Tabuisierung des Themas liegen könne. Über die Durchführung von Strafverfahren wegen homosexueller Handlungen lägen daher keine Erkenntnisse vor. Nach der SFH, Update vom 3 September 2012 müssten Homosexuelle mit Verfolgung durch die eigene Familie, Gemeindemitglieder und regierungsfeindliche Gruppierungen rechnen. Nach den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 14. März 2011 verstießen Homosexuelle gegen die Scharia und seien daher der Gefahr ausgesetzt, Opfer von sozialer Ausgrenzung und Gewalt durch Familien- und Gemeinschaftsangehörige sowie durch die Taliban zu werden. Bei Auswertung und Würdigung dieser Auskunftslage kann wegen der weitgehenden Tabuisierung des Themas eine relevante staatliche und nichtstaatliche Verfolgungsgefahr allenfalls dann nicht angenommen werden, wenn die behauptete Homosexualität im staatlichen und gesellschaftlichen Bereich nicht bekannt geworden ist, insbesondere nicht zu entsprechenden Maßnahmen geführt hat. Eine Verfolgungsgefahr besteht demgegenüber bei einem beachtlich wahrscheinlichen Bekanntwerden der Homosexualität (VG Meiningen, U.v. 7.1.2013 – 8 K 20272/11 Me), wobei auf die dortige Auswertung von Erkenntnismitteln verwiesen wird.

Derartiges ist hier mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aber anzunehmen. Wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2013 überzeugend angegeben hat, ist er von seiner Homosexualität eindeutig geprägt, deren Auftreten er im Alter von 14 Jahren im Iran bemerkt habe und die er in Deutschland auch aktiv lebe. Er hat glaubhaft angegeben, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan trotz des dargestellten realen Risikos einer Verfolgung oder gar Tötung hierauf nicht verzichten werde. Dabei müsste er sich individuell einen Mann suchen, da es heimlich geschehen müsste, was zu einer erhöhten Gefährdungssituation führen würde, zumal er sich an seinen zuletzt freien Umgang mit seiner Homosexualität in Deutschland gewöhnt haben dürfte und ggfs. nicht vorsichtig genug vorgehen würde. Aus all diesen Umständen folgt die Überzeugung, dass die homosexuelle Hinwendung des Klägers zu Männern in der afghanischen Gesellschaft auf Dauer nicht verheimlicht werden könnte und er einer beachtlich wahrscheinlichen Entdeckungsgefahr ausgesetzt wäre. Dieser Gefährdung könnte sich der Kläger zwar dadurch entziehen, dass er sich im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan überhaupt nicht oder jedenfalls nicht anlagegemäß sexuell betätigten würde. Ein Verzicht wäre für den Kläger aber unzumutbar. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob ein solcher Verzicht schon wegen der Rechtswirklichkeit im europäischen und internationalen Menschenrechtsschutz allgemein zu verneinen wäre (Titze, Sexuelle Orientierung und die Zumutung der Diskretion, ZAR 2012,93; Markard, Sexuelle Orientierung als Fluchtgrund - Das Ende der Diskretion, Asylmagazin 2013, 74; Schlussanträge der Generalanwältin beim EuGH vom 11.7.2013 in den Verfahren C-199 bis 201/12) oder nur im Einzelfall abgelehnt werden kann, wenn eine Identitätsprägung vorliegt und dadurch die Verfolgungswahrscheinlichkeit erhöht wird (VGH BW, U.v. 7.3.2013 – A 9 S 1873/ 12 – juris zur Flüchtlingszuerkennung bezüglich Nigeria). Denn nach den konkreten Umständen des Einzelfalls - ersichtlich identitätsprägende Homosexualität des Klägers, grundsätzlich ablehnende Haltung der afghanischen Gesellschaft hierzu und schwere Folgen bei Bekanntwerden der Homosexualität in Afghanistan - darf eine Abschiebung des Klägers nach Afghanistan nicht erfolgen. [...]