VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 16.11.2013 - M 23 K 11.30063 - asyl.net: M21620
https://www.asyl.net/rsdb/M21620
Leitsatz:

Die afghanische Polizei bietet keinen Schutz vor Todesdrohungen und Übergriffen einflussreicher Privatpersonen.

Schlagwörter: Afghanistan, Schutzfähigkeit, Schutzbereitschaft, Polizei, Korruption, Kriminalität, Afghan National Police, inländische Fluchtalternative, interne Fluchtalternative, interner Schutz, erhebliche individuelle Gefahr,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Im Einzelfall des Klägers liegen jedoch die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Bei den nationalen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich ebenfalls um einen einheitlichen, in sich nicht weiter teilbaren Streitgegenstand. Einer Entscheidung über das Vorliegen eines nationales Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG bedarf es vorliegend nicht, da der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind individuelle Gefahren, also solche Gefahren, die nur dem Ausländer drohen. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind gemäß § 60 Abs. 1 Satz 3 bei Anordnungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sowie dessen Ausschluss nach Satz 3 der Vorschrift einerseits und die verfassungskonforme Anwendung des Satzes 1 andererseits stehen in einem Rangverhältnis. Vorrangig zu prüfen ist die Frage, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung vorliegen (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2006 – 1 B 60.06 – juris und U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – DVBl 2007, 254).

Im hier zu entscheidenden Einzelfall des Klägers besteht nach Überzeugung des Gerichts in seinem Herkunftsland auf der Grundlage seines Vorbringens eine individuelle erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben und Freiheit im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung.

Unter Berücksichtigung seines Herkommens, seines Bildungsstands und seines Alters hält das Gericht den Vortrag des Klägers für glaubhaft. Der Kläger hat sowohl bei der Anhörung vor dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung fast gänzlich übereinstimmende Angaben zu seinem Fluchtgrund gemacht und verbliebene Unklarheiten im Rahmen der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung ohne Zögern nachvollziehbar erläutert. Das Gericht ist daher aufgrund des Vorbringens des Klägers und des persönlichen Eindrucks, den es in der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnen hat, davon überzeugt, dass sich die vom Kläger geschilderten Ereignisse tatsächlich zugetragen haben. Der Kläger hat die Geschehnisse sehr ruhig und ohne Übertreibungen dargestellt. Demnach ist davon auszugehen, dass der Kläger sein Herkunftsland bereits im Jahr 2004 aufgrund einer konkreten Todesdrohung durch einen ehemaligen Mudjahedin-Kommandanten verlassen hatte und nach Schweden geflohen war. Die Bedrohung war erfolgt, da der Kläger sich geweigert hatte, dem Kommandanten das Benzingeschäft, das er von diesem ca. sechs Jahre zuvor für den Preis von 4.000 US Dollar erworben hatte, zum gleichen Kaufpreis wieder zurückzugeben. Der Kläger wurde dabei verbal und auch körperlich angegriffen und erlitt Verletzungen. Als der Kläger im Jahr 2009 von Schweden nach Afghanistan abgeschoben worden war, wurde er dort erneut von dem Kommandanten konkret bedroht, woraufhin er wieder aus Afghanistan flüchtete.

Der Kläger unterliegt daher im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer konkreten Leibes- und Lebensgefahr.

Der Kläger wäre vor der ihm drohenden konkreten Gefahr auch durch den Staat nicht hinreichend geschützt. Eine Schutzfähigkeit des Staates vor Übergriffen Dritter ist im Hinblick auf die Verhältnisse im Herkunftsland des Klägers nicht gegeben. Wegen des schwachen Zustands des Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan häufig ohne Sanktionen (Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand: März 2013, S. 13 f). Die nationale Polizei (ANP) wird bei der Durchsetzung von Recht und Gesetz ihrer Aufgabe trotz erster Fortschritte insgesamt noch nicht gerecht. Auch wenn zwischenzeitlich der quantitative Aufwuchs der afghanischen Sicherheitskräfte voran geht, so kann der qualitative Aufwuchs hiermit nicht Schritt halten (Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand: Januar 2012, S. 11 f.). Dementsprechend muss weiterhin davon ausgegangen werden, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die ANP daher insgesamt noch kein Stabilitätsfaktor ist, sondern an vielen Orten sogar ein Unsicherheitsfaktor, in den die Bevölkerung wenig Vertrauen setzt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand: Februar 2011, S. 12 f). Schwächen der "Afghan National Police" sind dabei auch Korruption und Bestechung. In dem Themenpapier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe hierzu wird ausgeführt, die Tatsache, dass die Polizeikräfte äußerst korrupt seien, zeige sich auch darin, dass verhaftete Personen teilweise selbst dann, wenn Beweise für eine Tat vorlägen, am nächsten Tag wieder freigelassen würden. Diesbezüglich habe sich auch die deutsche Bundeswehr mehr als einmal empört gezeigt über die Freilassung von Verdächtigen, welche sie den afghanischen Behörden übergeben hätten. Weiter sei bekannt, dass afghanische Sicherheitskräfte, welche in abgelegenen Gebieten stationiert seien, den Taliban teilweise Informationen lieferten, um im Gegenzug dazu nicht von diesen angegriffen zu werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Schutzfähigkeit der Afghan National Police und Sicherheitssituation in Kabul, 20.10.2011; S. 5). Auch sei die Polizei in massive Menschenrechtsverletzungen verwickelt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe a.a.O., S. 6). Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger keinen wirksamen Schutz von staatlicher Seite, sei es durch die Polizei, sei es durch sonstige Strafverfolgungsbehörden, erlangen könnte.

Für den Kläger besteht auch keine inländische Fluchtalternative. Auch wenn es für ihn einen anderen Landesteil geben würde, in dem er vor einer Verfolgung sicher wäre, was vermutlich in Kabul oder einer anderen größeren Stadt der Fall wäre, könnte ihm nicht zugemutet werden, dass er sich dort – losgelöst von einem Familienverband und ohne reale Möglichkeit einer ausreichenden Existenzsicherung – niederlässt. Die Verweisung auf eine andere als die Herkunftsgegend oder die Heimat ist grundsätzlich nur dann zumutbar, wenn dorthin familiäre oder stammesbezogene Verbindungen bestehen (vgl. u. a. VG Ansbach, U.v. 3.3.2011 – AN 11 K 10.30475 – juris; VG Augsburg, U.v. 7.4.2011 – Au 6 K 10.30336 – juris). Diese Einschätzung entspricht der Auskunftslage. Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die größeren Städte bieten aufgrund ihrer Anonymität eher Schutz als kleine Städte oder Dorfgemeinschaften (Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand: 4.6.2013, S. 14). Die Familien- und Gemeindestruktur bildet in Afghanistan auch heute noch das wichtigste Netz für Sicherheit und das ökonomische Überleben. Ohne dieses ist ein Überleben kaum möglich (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update – Die aktuelle Sicherheitslage, 3.9.2012, S. 21). UNHCR betrachtet die interne Flucht grundsätzlich nur dann als eine zumutbare Alternative, wenn Schutz durch die eigene erweiterte Familie, durch die Gemeinschaft oder durch den Stamm des Betroffenen in dem für die Neuansiedlung vorgesehenen Gebiet gewährleistet ist. Die Rückkehr an Orte, die weder Herkunfts- noch einen ehemaligen Wohnort darstellen, kann afghanische Staatsangehörige unüberwindbaren Schwierigkeiten aussetzen, nicht nur in Bezug auf den Erhalt oder den Wiederaufbau der Existenzgrundlage, sondern auch in Bezug auf Sicherheitsrisiken. Die Anforderungen der Reintegration sind weiterhin immens und die städtischen Zentren sind nach wie vor mit zahlreichen Rückkehrern konfrontiert, die schwierig aufzufangen sind. Afghanistan hat, obwohl es arm und vom Krieg zerrüttet ist, seit 2002 eine Rückkehr von 20 % der Bevölkerung erlebt. Angesichts dieser besonderen Situation spricht sich UNHCR gegen die Rückkehr von Personen an einen Ort aus, der weder Herkunftsort noch früheren Wohnorten entspricht, wo keine tatsächlichen Familien- oder Stammesstrukturen und entsprechende Unterstützung bestehen – außer wenn es sich um eine rein freiwillige Rückkehr handelt (UNHCR, Auskunft an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 30.11.2009, S. 5).

Ein afghanischer Rückkehrer, der wie der Kläger außerhalb seiner Herkunftsprovinz nicht von einem aufnahmebereiten Familienverband sozial aufgefangen wird, wäre in Ermangelung anderer – insbesondere staatlicher – sozialer Netze darauf angewiesen, seine Lebensgrundlage durch eigene Erwerbstätigkeit zu sichern. Dies dürfte dem Kläger in Kabul, wohin er abgeschoben würde (vgl. zum Abschiebeweg Auswärtiges Amt, Lagebericht, Stand: März 2013, S. 19; so auch die Auskunft des Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 28.9.2011 in der Verwaltungsstreitsache M 23 K 11.30105, wonach eine Abschiebung ausschließlich nach Kabul erfolgen würde), nicht gelingen. In sämtlichen einschlägigen Erkenntnismitteln wird immer wieder auf die hohe Arbeitslosigkeit in Afghanistan hingewiesen. Die Arbeitsmöglichkeiten sind sehr begrenzt. Da es in Folge dessen in Afghanistan ausreichend Arbeitskräfte gibt, findet ein großer Verdrängungskampf um die knappen Arbeitsmarktressourcen statt. Die Experten gehen davon aus, dass am ehesten noch junge kräftige Männer einfache Jobs finden, bei denen harte körperliche Arbeit gefragt ist. In diesen Sektor, meist in das Baugewerbe, strömt nach der aktuellen Auskunftslage massiv die große Zahl junger Analphabeten. Bei den angebotenen Erwerbstätigkeiten handelt es sich allerdings meist um Tätigkeiten als Tagelöhner, die allenfalls das Existenzminimum der Arbeitssuchenden sichern. Daher wären die Chancen des Klägers, der lediglich über eine geringfügige Schulbildung verfügt und nur als Schweißer und Bezinverkäufer gearbeitet hat, in Kabul eine Erwerbstätigkeit zu finden, die nicht nur sein Existenzminimum gewährleistet, sondern ihm eine ausreichende Existenzgrundlage sichert, nach den vorliegenden Erkenntnismitteln als aussichtslos einzuschätzen. Infolge dessen ist nicht sichergestellt, dass der Kläger nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder Beschäftigungen finden wird, mit deren Hilfe er sich ohne familiäre Unterstützung eine ausreichende Lebensgrundlage sichern könnte (vgl. BayVGH, U.v. 20.1.2012 – 13a B 11.30427 – juris).

Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids war daher insoweit aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen. Infolge des Abschiebungsverbots war auch die Abschiebungsandrohung in Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids aufzuheben, da im Umkehrschluss zu § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylVfG eine Abschiebungsandrohung unzulässig ist, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen und kein atypischer Fall gegeben ist (vgl. BayVGH, U.v. 23.11.2012 – 13a B 12.30061 – juris). Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids ist daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VWGO). [...]