EuGH

Merkliste
Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 27.02.2014 - C?79/13 - asyl.net: M21591
https://www.asyl.net/rsdb/M21591
Leitsatz:

EuGH zu den Aufnahmebedingungen für Asylbewerber:

1. Art. 13 Abs. 5 der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass Geldleistungen oder Gutscheine, wenn ein Mitgliedstaat dafür optiert hat, die materiellen Aufnahmebedingungen in dieser Form zu gewähren, gemäß Art. 13 Abs. 1 dieser Richtlinie ab dem Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags zu gewähren sind und den in Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie festgelegten Mindestnormen genügen müssen. Der betreffende Mitgliedstaat hat darauf zu achten, dass der Gesamtbetrag der Geldleistungen, durch die die materiellen Aufnahmebedingungen gewährt werden, für ein menschenwürdiges Leben ausreicht, bei dem die Gesundheit und der Lebensunterhalt der Asylbewerber gewährleistet sind, indem sie insbesondere in die Lage versetzt werden, eine Unterkunft zu finden, wobei gegebenenfalls die Wahrung der Interessen besonders bedürftiger Personen im Sinne von Art. 17 der Richtlinie zu berücksichtigen ist. Die Mitgliedstaaten sind nicht an die in Art. 14 Abs. 1, 3, 5 und 8 der Richtlinie 2003/9 vorgesehenen materiellen Aufnahmebedingungen gebunden, wenn sie entschieden haben, diese Bedingungen ausschließlich in Form von Geldleistungen zu gewähren. Die betreffenden Leistungen müssen jedoch so hoch sein, dass minderjährige Kinder von Asylbewerbern bei ihren Eltern wohnen können, so dass die familiäre Gemeinschaft der Asylbewerber aufrechterhalten werden kann.

2. Die Richtlinie 2003/9 ist dahin auszulegen, dass sie die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, Asylbewerber im Fall der Vollauslastung der Strukturen für ihre Unterbringung auf Einrichtungen des allgemeinen Sozialhilfesystems weiterzuverweisen, sofern dieses System dafür sorgt, dass die in dieser Richtlinie vorgesehenen Mindestnormen für Asylbewerber beachtet werden.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufnahmebedingungen, Barleistungen, Asylbewerber, Asylantrag, Sachleistungen, Menschenwürde, minderjährige Kinder, Mindestnormen,
Normen: RL 2003/9/EG Art. 13 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

31 Mit seinen ersten beiden Fragen, die zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 13 Abs. 5 der Richtlinie 2003/9 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, wenn er dafür optiert hat, die materiellen Aufnahmebedingungen in Form von Geldleistungen zu gewähren, verpflichtet ist, diese Leistungen ab dem Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags zu gewähren und dafür zu sorgen, dass die Leistungen hoch genug sind, damit die Asylbewerber eine Unterkunft finden können, die den in Art. 13 Abs. 1 und 2 sowie Art. 14 Abs. 1, 3, 5 und 8 dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen genügt.

32 Zunächst ist festzustellen, dass nach dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 5 der Richtlinie 2003/9 die materiellen Aufnahmebedingungen in Form von Sachleistungen, Geldleistungen oder Gutscheinen oder einer Kombination dieser Leistungen gewährt werden können.

33 Was erstens den Zeitpunkt angeht, ab dem die Mitgliedstaaten die materiellen Aufnahmebedingungen zu gewähren haben, hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass der Zeitraum, in dem den Asylbewerbern die materiellen Aufnahmebedingungen gewährt werden müssen, mit der Antragstellung beginnt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2012, Cimade und GISTI, C-179/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 39).

34 Bereits aus dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2003/9 geht nämlich hervor, dass Asylbewerbern die materiellen Aufnahmebedingungen, ob als Sachleistungen oder als Geldleistungen, ab Antragstellung gewährt werden müssen.

35 Im Übrigen stehen die allgemeine Systematik und der Zweck der Richtlinie 2003/9 wie auch die Wahrung der Grundrechte, insbesondere das Gebot nach Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, dem entgegen, dass einem Asylbewerber, und sei es auch nur vorübergehend nach Einreichung eines Asylantrags, der mit den in dieser Richtlinie festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird (vgl. Urteil Cimade und GISTI, Rn. 56).

36 Was zweitens die Höhe der gewährten Geldleistungen betrifft, bemisst sich gemäß Art. 13 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/9, wenn die Mitgliedstaaten materielle Aufnahmebedingungen durch Geldleistungen oder Gutscheine gewähren, deren Wert nach den in diesem Artikel festgelegten Grundsätzen.

37 Insoweit ergibt sich aus Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie, dass die finanzielle Unterstützung für einen Lebensstandard ausreichen muss, der die Gesundheit und den Lebensunterhalt der Asylbewerber gewährleistet.

38 Ferner ist festzustellen, dass nach Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2003/9 der Ausdruck "materielle Aufnahmebedingungen" die Aufnahmebedingungen bezeichnet, die Unterkunft, Verpflegung und Kleidung in Form von Sach- und Geldleistungen oder Gutscheinen sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs umfassen.

39 Zudem geht aus dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie hervor, dass mit dieser Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern festgelegt werden sollen, die diesen im Normalfall ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und vergleichbare Lebensbedingungen in allen Mitgliedstaaten gewährleisten.

40 Daraus ergibt sich, dass die Höhe der finanziellen Unterstützung zwar von dem jeweiligen Mitgliedstaat festgelegt wird, aber für ein menschenwürdiges Leben ausreichen muss, bei dem die Gesundheit und der Lebensunterhalt der Asylbewerber gewährleistet sind.

41 Im Rahmen der Festlegung der materiellen Aufnahmebedingungen in Form von Geldleistungen sind die Mitgliedstaaten nach Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/9 verpflichtet, diese Aufnahmebedingungen der Situation besonders bedürftiger Personen im Sinne von Art. 17 der Richtlinie anzupassen. Die Geldleistungen müssen somit ausreichen, um die familiäre Gemeinschaft und das – nach Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie vorrangige – Wohl des Kindes zu bewahren.

42 Hat ein Mitgliedstaat dafür optiert, die materiellen Aufnahmebedingungen in Form von Geldleistungen zu gewähren, müssen diese Leistungen folglich für ein menschenwürdiges Leben ausreichen, bei dem die Gesundheit und der Lebensunterhalt der Asylbewerber gewährleistet sind, indem sie insbesondere in die Lage versetzt werden, eine Unterkunft zu finden, gegebenenfalls auf dem privaten Wohnungsmarkt.

43 Die Bestimmungen der Richtlinie 2003/9 sind allerdings nicht dahin auszulegen, dass Asylbewerber eine Unterkunft nach ihren persönlichen Vorlieben wählen können müssten.

44 Was drittens die Frage des vorlegenden Gerichts angeht, ob diejenigen Mitgliedstaaten, die die materiellen Aufnahmebedingungen in Form von Geldleistungen gewähren, dafür sorgen müssen, dass die in Art. 14 Abs. 1, 3, 5 und 8 der Richtlinie 2003/9 vorgesehenen Modalitäten der materiellen Aufnahmebedingungen eingehalten werden, ist festzustellen, dass Art. 14 Abs. 1 grundsätzlich die Formen der Unterbringung betrifft, die die Mitgliedstaaten wählen können, und bestimmt, dass die in dem betreffenden Artikel vorgesehenen Pflichten nur dann gelten, wenn die Mitgliedstaaten entschieden haben, dass die materiellen Aufnahmebedingungen als Sachleistungen gewährt werden.

45 Obwohl Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie nicht anwendbar ist, wenn die materiellen Aufnahmebedingungen ausschließlich als Geldleistungen gewährt werden, müssen diese Leistungen es jedoch gegebenenfalls minderjährigen Kindern von Asylbewerbern ermöglichen, bei ihren Eltern zu wohnen, so dass die in Rn. 41 des vorliegenden Urteils angesprochene familiäre Gemeinschaft aufrechterhalten bleibt.

46 Daher ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass Art. 13 Abs. 5 der Richtlinie 2003/9 dahin auszulegen ist, dass Geldleistungen oder Gutscheine, wenn ein Mitgliedstaat dafür optiert hat, die materiellen Aufnahmebedingungen in dieser Form zu gewähren, gemäß Art. 13 Abs. 1 dieser Richtlinie ab dem Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags zu gewähren sind und den in Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie festgelegten Mindestnormen genügen müssen. Der betreffende Mitgliedstaat hat darauf zu achten, dass der Gesamtbetrag der Geldleistungen, durch die die materiellen Aufnahmebedingungen gewährt werden, für ein menschenwürdiges Leben ausreicht, bei dem die Gesundheit und der Lebensunterhalt der Asylbewerber gewährleistet sind, indem sie insbesondere in die Lage versetzt werden, eine Unterkunft zu finden, wobei gegebenenfalls die Wahrung der Interessen besonders bedürftiger Personen im Sinne von Art. 17 der Richtlinie zu berücksichtigen ist. Die Mitgliedstaaten sind nicht an die in Art. 14 Abs. 1, 3, 5 und 8 der Richtlinie 2003/9 vorgesehenen materiellen Aufnahmebedingungen gebunden, wenn sie entschieden haben, diese Bedingungen ausschließlich in Form von Geldleistungen zu gewähren. Die betreffenden Leistungen müssen jedoch so hoch sein, dass minderjährige Kinder von Asylbewerbern bei ihren Eltern wohnen können, so dass die familiäre Gemeinschaft der Asylbewerber aufrechterhalten werden kann.

Zur dritten Frage

47 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2003/9 dahin auszulegen ist, dass sie die Mitgliedstaaten daran hindert, Asylbewerber im Fall der Vollauslastung der Strukturen für ihre Unterbringung auf Einrichtungen des allgemeinen Sozialhilfesystems weiterzuverweisen, die den Asylbewerbern die nötige finanzielle Unterstützung zu gewähren haben.

48 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2003/9 den Mitgliedstaaten, wenn sie nicht in der Lage sind, die materiellen Aufnahmebedingungen als Sachleistungen zu gewähren, die Möglichkeit lässt, für die Gewährung der materiellen Aufnahmebedingungen in Form von Geldleistungen zu optieren. Diese Leistungen müssen jedoch hoch genug sein, um die Grundbedürfnisse der Asylbewerber zu decken und ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, bei dem ihre Gesundheit gewährleistet ist.

49 Da die Mitgliedstaaten in Bezug auf die Frage, wie sie die materiellen Aufnahmebedingungen gewähren, über einen gewissen Beurteilungsspielraum verfügen, können sie die Geldleistungen somit von Einrichtungen auszahlen lassen, die zum allgemeinen Sozialhilfesystem gehören, sofern diese Einrichtungen dafür sorgen, dass die in der Richtlinie 2003/9 vorgesehenen Mindestnormen für Asylbewerber beachtet werden.

50 In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die Mitgliedstaaten darauf achten müssen, dass die betreffenden Einrichtungen die Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern einhalten. Die Vollauslastung der Aufnahmenetze rechtfertigt keinerlei Abweichung von diesen Normen.

51 Daher ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2003/9 dahin auszulegen ist, dass sie die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, Asylbewerber im Fall der Vollauslastung der Strukturen für ihre Unterbringung auf Einrichtungen des allgemeinen Sozialhilfesystems weiterzuverweisen, sofern dieses System dafür sorgt, dass die in dieser Richtlinie vorgesehenen Mindestnormen für Asylbewerber beachtet werden. [...]