VG Düsseldorf

Merkliste
Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 05.02.2014 - 18 K 1934/13.A - asyl.net: M21570
https://www.asyl.net/rsdb/M21570
Leitsatz:

Nahen Angehörigen einer Person, die von einer mächtigen, verfeindeten Familie bedroht wurde, droht bei Rückkehr unmenschliche Behandlung, vor der der afghanische Staat keinen hinreichenden Schutz gewähren kann.

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungsverbot, subsidiärer Schutz, ernsthafter Schaden, unmenschliche Behandlung, Familienangehörige, Pakistan, Iran, interner Schutz, Herat, Blutrache, Zwangsehe, interne Fluchtalternative,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2, AsylVfG § 4 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylVfG § 4 Abs. 3, AsylVfG § 3e,
Auszüge:

[...]

Hingegen steht den Klägern zu 3) bis 6) ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG hinsichtlich Afghanistans zu, da sie subsidiär Schutzberechtigte im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylVfG sind (vgl. EGMR, Urteil vom 28. Juni 2011 - 8319/07 (Sufi u. Elmi/UK) -, NVwZ 2012, 681 RN 282).

Hiernach darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Abs. 1 AsylVfG bezeichnete Schaden ernsthaft droht. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2). Dies setzt eine individuell konkrete Gefahr und ein geplantes vorsätzliches auf eine bestimmte Person gerichtetes Handeln voraus (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. April 1997 - 9 C 38/96 -, NVwZ 1997, 1127; OVG NRW, Urteil vom 16. Februar 1996 - 23 A 5339/94.A -, Bl. 6 ff. m.w.Nachw.).

Die Kläger müssen mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit befürchten, dass ihnen durch die Familie, der die bei der Geburt verstorbene junge Frau angehörte, zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt eine unmenschliche Behandlung bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht, vor der ihnen der afghanische Staat keinen hinreichenden Schutz gewähren kann.

Der Schutz des § 60 Abs. 2 AufenthG in Verb. mit § 4 AsylVfG entspricht dem sog. "subsidiären Schutz" vor ernsthaftem Schaden gem. Art. 15 der Qualifikationsrichtlinie.

Der Grad der willkürlichen Gewalt, der vorliegen muss, damit ein Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, ist umso geringer, je mehr er belegen kann, dass er auf Grund der seine persönliche Situation prägenden Umstände spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH, a.a.O.).

Die Kläger haben zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht, dass sie die begründete subjektive Verfolgungsfurcht haben, dass ihnen bei einer Rückkehr nach Herat ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer unmenschlichen Behandlung durch die Familie des bei der Geburt verstorbenen Mädchens drohen könnte. Dafür spricht zum einen die überstürzte Ausreise der Kläger aus ihrem Heimatland nach Pakistan, die nach dem glaubhaften Vortrag der Kläger zu 1) und 3), der mit dem Vorbringen ihrer Tochter ... in deren Asylverfahren übereinstimmt, unmittelbar nach der Entdeckung der Leiche des Schwiegersohnes und Ehemannes erfolgte. Dabei haben die Kläger in der mündlichen Verhandlung einen plausiblen Grund dafür angegeben, warum sie von Herat nicht in den näherliegenden Iran ausgereist sind, sondern sich in das weiter entfernte Pakistan begeben haben. Des weiteren sprechen die bei den Klägern zu 1) und 3) sowie bei deren Tochter ... im Rahmen der Behandlung ihrer psychischen Erkrankungen festgestellten Traumatisierungen dafür, dass die von ihnen vorgetragenen Geschehnisse (Tod der schwangeren Frau bei der Geburt, Tod des Schwiegersohnes und Ehemannes, Bedrohung durch die Familie der verstorbenen Frau, überstürzte Flucht aus dem Heimatland) tatsächlich stattgefunden haben. Zudem ist der Vortrag der Kläger zu 1) und 3) mit dem Vortrag ihrer Tochter ... in deren Asylverfahren im Kerngeschehen deckungsgleich. Abweichungen sind lediglich dann festzustellen, wenn diese von Geschehnissen berichten, die sie nicht selbst erlebt haben, sondern die ihnen lediglich von anderen übermittelt worden sind. Zudem ist bei Abweichungen im Detail zu Gunsten der Kläger in Rechnung zu stellen, dass sich vor allem die Klägerin zu 3) sowie deren Tochter ... durch den Tod der jungen Frau und den nachfolgenden Tod des Schwiegersohnes/Ehemannes nachweislich in einer psychischen Ausnahmesituation befunden haben, der dazu geführt haben mag, dass sie sich nicht mehr an jeden Handlungsablauf im Einzelnen folgerichtig erinnern können. Das von diesen drei Personen während ihres gesamten Asylverfahrens gleichbleibend vorgetragene Vorbringen steht zudem im Einklang mit ihrem Vorbringen gegenüber ihren jeweiligen Therapeuten im Rahmen der Feststellung und Behandlung ihrer psychischen Erkrankungen.

Der von ihnen befürchtete ernsthafte Schaden droht nach Überzeugung des Gerichts auch nicht nur der Klägerin zu 3) als derjenigen, die der jungen Frau, die bei der Geburt gestorben ist, als Hebamme zur Seite stand, sondern auch den übrigen Klägern. Denn auf Grund der glaubhaften Angaben des Klägers zu 5), dass diejenigen, die den Schwiegersohn bzw. Ehemann der Tochter ... entführt und getötet haben, zunächst nach der Klägerin zu 3) bzw. dem Kläger zu 1) gefragt haben, ist zu schließen, dass jede nach afghanischen Vorstellungen erwachsene Person, die zur unmittelbaren Familie zählte, weil sie sich in deren Lebenskreis aufhielt, der Gefahr unterliegt, einen ernsthaften Schaden wegen des Todes der jungen Frau zu erleiden. Dies betrifft damit zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf Grund seines Alters auch den Kläger zu 5). Den Klägerinnen zu 4) und 6) droht darüber hinaus zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt die Gefahr der Übergabe in die Familie der toten jungen Frau. Das Gericht hält es für glaubhaft, dass die Familie der toten Frau zur Vermeidung weiteren Blutvergießens gefordert hat, dass die Kläger zu 1) bis 3) eine ihrer Töchter in die gegnerische Familie abgeben sollen. Dass die Kläger zu 1) und 3) dieses Ansinnen, das ihnen vom Bruder der Klägerin zu 3) übermittelt worden ist, der nach ihren Angaben als einziger die Leiche sowie den bei ihr befindlichen Zettel gesehen hat, auf dem dieses Ansinnen formuliert war, zunächst nur auf ihre älteste Tochter ... bezogen haben, mag am damaligen Alter der Töchter gelegen haben. Es ist jedenfalls zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht auszuschließen, dass dieses Ansinnen bei einer Rückkehr der Kläger nach Afghanistan nunmehr auch die Klägerinnen zu 4) und 6) betreffen könnte, zumal die volljährige Tochter ... auf Grund dessen, dass ihr ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG zuerkannt worden ist, nicht verpflichtet wäre, gemeinsam mit den Klägern nach Afghanistan zurückzukehren und daher nicht für eine Abgabe in die andere Familie zur Verfügung stünde. Zudem könnten die Kläger zu 4) und 6) bei einer Weigerung ihrer Eltern, diese als Kompensation in die andere Familie abzugeben, anderweitige menschenrechtswidrige Behandlungen durch diese Familie erleiden.

Dass den noch in Herat lebenden übrigen Verwandten der Kläger zu 1) und 3) ein solcher unmittelbarer Schaden durch die Familie der toten jungen Frau offensichtlich bisher nicht zugefügt worden ist, hindert die Annahme der Gefahr des Eintritts eines ernsthaften Schadens hinsichtlich der Kläger zu 3) bis 6) nicht. Denn es kann den Klägern nicht widerlegt werden, dass die Familie der toten jungen Frau sich nur an der Klägerin zu 3) und deren Kernfamilie (Ehemann und gemeinsamen Kindern mit deren Ehemännern) rächen will oder sie in einer Großstadt wie Herat möglicherweise keine Kenntnis von der Existenz und dem Wohnort weiterer Verwandte, die mit den Klägern nicht zusammengelebt haben, hat.

Die Kläger können nach Überzeugung des Gerichts vor der von ihnen befürchteten unmenschlichen Behandlung auch keinen internen Schutz gemäß § 4 Abs. 3 AsylVfG in Verb. mit § 3e AsylVfG in anderen Teilen ihres Heimatlandes, in denen derartige Gefahren nicht bestehen, finden. Danach benötigt ein Antragsteller keinen internationalen Schutz, wenn in einem Teil seines Herkunftslandes keine tatsächliche Gefahr besteht, dass er einen ernsthaften Schaden erleidet, er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Nach § 4 Abs. 3 AsylVfG in Verb. mit § 3e Abs. 2 AsylVfG sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Antragstellers zum Zeitpunkt der Entscheidung zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2008 -10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198 = NVwZ 2008, 1241 und vom 14. Juli 2009 - 10 C 9.08 -, a.a.O.).

Bei dieser Beurteilung kann auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalles dahin gestellt bleiben, ob die Familie der bei der Geburt verstorbenen jungen Frau die Macht und die Möglichkeit hat, die Kläger zu 3) bis 6) bei einer Rückkehr nach Afghanistan im ganzen Land zu verfolgen, insbesondere, ob sie von deren Rückkehr in einen anderen Landesteil überhaupt erfahren würde. Denn den Klägern zu 3) bis 6), die auf Grund der familiären Lebensgemeinschaft gemeinsam mit den Klägern zu 1) und 2) nach Afghanistan zurückkehren würden, ist vom Bundesamt wegen der von der Klägerin zu 3) geltend gemachten psychischen Erkrankung ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG zuerkannt worden. Hinsichtlich der Kläger zu 1) und 2) hat das Bundesamt schriftlich zugesagt, zu deren Gunsten ebenfalls ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans wegen der geltend gemachten psychischen Erkrankung des Klägers zu 1) festzustellen. Da die Kläger glaubhaft während ihres gesamten Asylverfahrens angegeben haben, dass sie in ihrem Heimatland nur in Herat Verwandte haben, ist davon auszugehen, dass sie trotz der möglichen finanziellen Unterstützung durch Verwandtschaft im westlichen Ausland auf Grund ihrer Beeinträchtigungen durch die festgestellte psychische Erkrankung sowohl der Klägerin zu 3) als auch des Klägers zu 1) als mögliche Ernährer der Familie darauf angewiesen sind, sich bei einer Rückkehr in ihr Heimatland in ihre Herkunftsregion, mithin nach Herat zu begeben, um zur Existenzsicherung die Unterstützung der dort lebenden Verwandten in Anspruch zu nehmen. Nach Überzeugung des Gerichts ist nach dem glaubhaften Vortrag der Kläger für diese Region jedoch mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Familie des getöteten Mädchens die Möglichkeit hat, von einer Rückkehr der Familie zu erfahren und eine etwaige Rache ihnen gegenüber auszuüben, vor der die örtliche Polizei sie nicht schützen kann. Auf die Verhältnisse in Kabul kommt es mithin nicht an, so dass dem hilfsweise gestellten Beweisantrag zu 5) ebenfalls nicht nachzugehen ist. [...]