VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Beschluss vom 12.12.2013 - 2 B 856/13 - asyl.net: M21562
https://www.asyl.net/rsdb/M21562
Leitsatz:

1. Berechtigte Zweifel an der Reisefähigkeit eines Asylbewerbers rechtfertigen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes. Solche Zweifel können sich aus einer amtsärztlich festgestellten bedingten Reisefähigkeit minderjähriger Asylbewerber ergeben.

2. Zur Wahrung der Familieneinheit ist die aufschiebende Wirkung der Klage auch zugunsten der Eltern der eingeschränkt reisefähigen minderjährigen Asylbewerber anzuordnen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: berechtigte Zweifel, Reisefähigkeit, aufschiebende Wirkung, Suspensiveffekt, Abschiebungsanordnung, minderjährig, Kind, Familieneinheit, Dublinverfahren,
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG hängt unter anderem davon ab, ob die Überstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden Gründen rechtlich oder tatsächlich möglich ist. Eine Abschiebungsanordnung darf erst ergehen, sobald feststeht, dass die Abschiebung bzw. Überstellung durchgeführt werden kann. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 13. Senat - hat hierzu in seinem Beschluss vom 2. Mai 2012 - 13 MC 22/12 -, InfAuslR 2012 S. 298 ff., zit. nach juris Rn. 27, Folgendes ausgeführt:

"Bei Fällen, in denen der Asylbewerber in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, hat das Bundesamt vor Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG auch zu prüfen, ob Abschiebungshindernisse bzw. -verbote oder Duldungsgründe vorliegen. Anders als bei der Entscheidung über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG im Zusammenhang mit dem Erlass einer Abschiebungsandrohung (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383, und vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322) ist es nicht auf die Prüfung von sogenannten "zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen" beschränkt. § 34a AsylVfG bestimmt ausdrücklich, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet "sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann". Die Abschiebungsanordnung darf als Festsetzung eines Zwangsmittels erst dann ergehen, wenn alle Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung nach § 26a oder § 27a AsylVfG i.V.m. § 34a AsylVfG erfüllt sind. Das bedeutet, dass das Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsanordnung gegebenenfalls sowohl "zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse" als auch der Abschiebung entgegenstehende "inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse" zu berücksichtigen hat. Es ist in diesem Zusammenhang unter anderem verpflichtet zu prüfen, ob die Abschiebung in den Dritt- bzw. Mitgliedstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden und damit vom System der normativen Vergewisserung nicht erfassten Gründen - wenn auch nur vorübergehend - rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 30. August 2011 - 18 B 1060/11-, Juris; VGH BW, Beschl. v. 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 -, InfAuslR 2011, 310; Hamb. OVG, Beschl. v. 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, Juris; OVG MV, Beschl. v. 29. November 2004 - 2 M 299/04 -; Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, a.a.O., § 34a, Rdnr. 15; Hailbronner, AuslR, § 34a AsylVfG, Rdnrn. 15 f., 43 ff., Loseblatt, Stand August 2006; jew. m.w.N.)."

Dieser Rechtsprechung hat sich die erkennende Kammer angeschlossen (vgl. Beschlüsse vom 6. November 2013 - 2 B 848/13 -, zit. nach juris Rn. 6; und vom 7. November 2013 - 2 B 783/13 -, zit. nach juris Rn. 8).

Der von der zuständigen Ausländerbehörde - Landkreis J. - mit einer Untersuchung der Antragsteller zu 3.) bis 5.) beauftragte Amtsarzt hat nach den vorgelegten Bescheinigungen vom 2. Und 6. Dezember 2013 festgestellt, dass der 5-jährige Antragsteller zu 5.) nur unter der Bedingung reisefähig ist, dass die erforderliche Hilfsmittelversorgung (Reha-Karre, dynamische Fußorthesen) zuvor umgesetzt wurde und die eingeleitete medikamentöse Behandlung einschließlich der kinderärztlichen Betreuung im zuständigen Mitgliedsstaat (Polen) fortgesetzt wird. Mit der Anfertigung der erforderlichen Hilfsmittel soll nach einem Vermerk der Ausländerbehörde bis spätestens 20. Januar 2014 zu rechnen sein. Die 9- bzw. 14-jährigen Antragsteller zu 3.) und 4.) sind nur mit der amtsärztlichen Maßgabe reisefähig, dass die dringend erforderliche Psychotherapie im zuständigen Mitgliedsstaat fortgesetzt wird. Die Ausländerbehörde hat mit Schreiben vom 9. Dezember 2013 das Bundesamt um Abklärung gebeten, ob diesen amtsärztlichen Maßgaben von den übernehmenden polnischen Stellen entsprochen wird; die Antwort des Bundesamtes steht bislang aus. Diese ist vorliegend einzelfallbezogen insbesondere deshalb notwendig, weil das das Office for Foreigners of the Republic Poland, Department for Refugee Procedures, gegenüber dem Bundesamt mit Schreiben vom 25. September 2013 seine Zuständigkeit für die Antragsteller gem. Art. 16 Abs. 1 d) der Dublin-II-Verordnung erklärt hat, es demzufolge davon ausgeht, dass die Antragsteller ihren in Polen gestellten (ersten) Asylantrag zurückgenommen haben bzw. insoweit eine Rücknahmefiktion zu deren Lasten greift. Das Bundesamt kann sich diesbezüglich nicht auf allgemeine Auskünfte seiner Liaisonbeamtin in Warschau zur medizinischen Versorgung von Asylbewerbern beschränken und darauf verweisen, die polnischen Stellen würden ggf. eigene medizinischen Feststellungen zum weiteren Behandlungsbedarf der Antragsteller treffen, sodass eine dahingehende Zusage nicht erlangt werden könne.

Da derzeit nicht sicher abschätzbar ist, innerhalb welchen Zeitraumes die vorstehend beschriebenen Schritte vom Bundesamt bzw. dem mit der Hilfsmittelversorgung beauftragten Sanitätshaus umgesetzt sein werden, sieht die Kammer von einer befristeten Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ab.

Da die Antragsteller zu 1.) und 2.) die Eltern der minderjährigen Antragsteller zu 3.) bis 5.) sind, nehmen auch diese Antragsteller unter Berücksichtigung des Schutzes der Familieneinheit durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK - der Grundsatz der Familieneinheit ist zudem ein tragendes Prinzip der Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin-II- Verordnung, vgl. Art. 6 bis 8, 14 und 15 Abs. 1 und 2 EGV 343/2003, der ggf. eine Selbsteintrittspflicht der Antragsgegnerin zur Folge haben kann (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 4. Juli 2012 - 2 LB 163/10 -, InfAuslR 2012 S. 383 ff., zit. nach juris Rn. 42) - an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage teil. Die Trennung der offensichtlich nur bedingt reisefähigen Antragsteller zu 3.) bis 5.) von ihrer Familie ist unzumutbar; die Überstellung der übrigen Antragsteller nach Polen somit rechtlich unmöglich i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (vgl. VG München, Beschluss vom 26. März 2013 - M 1 S 13.30170 -, zit. nach juris Rn. 17; VG Aachen, Beschluss vom 15. April 2013 - 2 L 145/13.A -, zit. nach juris Rn. 17). [...]