VG Göttingen

Merkliste
Zitieren als:
VG Göttingen, Beschluss vom 03.01.2014 - 2 B 763/13 - asyl.net: M21558
https://www.asyl.net/rsdb/M21558
Leitsatz:

1. An die Begründung der Ermessensentscheidung des Bundesamtes zu Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung sind bei Fehlen individueller Besonderheiten des Einzelfalls keine hohen Anforderungen zu stellen.

2. Russische Staatsangehörige, die gegenüber den polnischen Grenzschutzbehörden ein Asylgesuch nur zu dem Zweck äußern, sich hierdurch eine Weiterreisemöglichkeit nach Deutschland zu verschaffen und der Weisung zur unverzüglichen Meldung in der zugewiesenen Aufnahmeeinrichtung nicht Folge leisten, können sich auf systemische Mängel der Aufnahme- und Unterbringungsbedingungen für Flüchtlinge in Polen generell nicht berufen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ermessen, Ermessensentscheidung, Begründung, Dublin II-VO, Dublinverfahren, Polen, Grenzschutzbehörde, systemische Mängel, Asylantrag, Aufnahmebedingungen, Selbsteintritt,
Normen: AsylVfG § 34a Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts sind in der Dublin-II-Verordnung nicht ausdrücklich geregelt und bleiben daher dem innerstaatlichen Recht überlassen (vgl. Filzwieser/Sprung, Kommentar zur Dublin II-Verordnung, 3. Auflage, K 8 zu Art. 3). Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung wird i.V.m. Art. 15 der Dublin-II-Verordnung als eine Generalklausel für die Zuständigkeitsübernahme in Fällen angesehen, in denen außergewöhnliche humanitäre, familiäre oder krankheitsbedingte Gründe vorliegen, die nach Maßgabe der Wertordnung der Grundrechte einen Selbsteintritt erfordern (vgl. etwa Nds. OVG, Urteil vom 4. Juli 2012 - 2 LB 163/10 -, InfAuslR 2012, S. 383 ff., zit. nach juris Rn. 42 ff. m.w.N.).

Nach diesen Maßstäben ist die Ermessensentscheidung des Bundesamtes in dem angefochtenen Bescheid nicht zu beanstanden. Das Bundesamt hat dort ausgeführt, dass außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Antragsgegnerin veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO auszuüben, nicht ersichtlich seien. Diese pauschalen Ausführungen sind angesichts fehlender individueller Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls ausreichend, um einerseits dem Begründungserfordernis des § 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG gerecht zu werden, andererseits erlauben sie der erkennenden Kammer eine Überprüfung der getroffenen Entscheidung nach Maßgabe des § 114 Satz 1 VwGO mit dem Ergebnis, dass ein Ermessensausfall oder sonstige Ermessensfehler nicht ersichtlich sind. [...]

Soweit die Antragsteller unter Berufung auf die Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 und C-493/10 -, InfAuslR 2012, S. 108 ff., zit. nach juris) und unter Vorlage diverser Erkenntnismittel zur Situation tschetschenischer Flüchtlinge in Polen (u.a. UNHCR Briefing Notes vom 7. Juni 2013; Asylum Information Database (AIDA), National Country Report Poland vom 15. April 2013; Witold/Rusikowicz, Migration is not a Crime, 1. Auflage 2013, hrsg. Helsinki Foundation for Human Rights Warschau; Bota/Wahba, Grenzen der Barmherzigkeit, in: Zeit Online vom 14. Juni 2013; Simon, Gespenster gehen um in Europa, in: Le Monde Paris Online vom 18. Januar 2011; Gesellschaft für bedrohte Völker, Die Situation tschetschenischer Flüchtlinge in Polen, Stand Januar 2011; Bericht in www.faz.net "Jede Woche kommt ein Dorf"; ECRE-Studie zur Dublin II-Praxis vom März 2006, Bericht des Diakonischen Werkes und der Evangelischen Kirche über die 14. Europäische Asylkonferenz in Warschau; kleine Anfrage vom 6. Dezember 2004, BT-Drs. 15/4465) einwenden, dass in Polen systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber bestehen und daher die Annahme gerechtfertigt sei, sie liefen tatsächlich Gefahr, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 EUGrdRCh ausgesetzt zu werden, können die Antragsteller aufgrund der von ihnen geschilderten Einreisemodalitäten mit diesem Einwand generell nicht durchdringen. Sie haben angegeben, sich weniger als 24 Stunden auf dem Territorium der Republik Polen aufgehalten zu haben, nachdem sie gegenüber der polnischen Grenzschutzbehörde in K. ihr Asylgesuch angebracht hatten. Insbesondere sind sie durch eine freie und autonome Willensentscheidung nicht der wohlverstandenen Aufforderung der polnischen Grenzschutzbehörde gefolgt, sich binnen 2 Tagen in der ihnen zugewiesenen Aufnahmeeinrichtung zu melden. Den Hinweis, andernfalls gelte ihr Asylgesuch als zurückgezogen, haben sie ebenfalls verstanden. Die Antragsteller haben sich danach ohne aktuelle und gesicherte Erkenntnisse der Aufnahme- und Unterbringungsbedingungen tschetschenischer Flüchtlinge in Polen entschieden, sofort nach Deutschland weiterzureisen und dort ein weiteres Asylgesuch anzubringen. Sie haben damit bewusst das gegenüber der polnischen Grenzschutzbehörde in K. geäußerte Asylgesuch dazu missbraucht, sich eine Transitmöglichkeit über polnisches Territorium in die Bundesrepublik Deutschland zu verschaffen. Dieser Missbrauch des Rechts zur Stellung eines Asylgesuchs an einer EU-Außengrenze kann den Antragstellern im vorliegenden Verfahren nicht auch noch dazu verhelfen, die Aufnahme- und Unterbringungsbedingungen für tschetschenische Asylbewerber in Polen generell als mit systemischen Mängeln behaftet einzuwenden, obwohl sie diese nicht aus eigener Anschauung erfahren haben. Diese Art der Rechtsverfolgung liefe der Sache nach auf eine Popularklage hinaus, die in der Verwaltungsgerichtsordnung nicht vorgesehen ist. Die Antragsteller verkennen bzw. haben zum Zeitpunkt ihrer sofortigen Weiterreise nach Deutschland verkannt, dass ihnen das Unionsrecht keine Wahlmöglichkeit einräumt, in einem ihnen angenehmen Mitgliedsstaat der Europäischen Union ihr Asylverfahren zu betreiben. Die unionsrechtlichen Vorgaben der Dublin-II-Verordnung über die Zuständigkeit eines bestimmten Mitgliedsstaates für die Bearbeitung ihres Asylgesuchs sind auch für sie bindend. Der Versuch der Antragsteller, sich der Zuständigkeit der Republik Polen eigenmächtig und ohne Not, d.h. ohne unmenschliche oder erniedrigende Aufnahme- und Unterbringungsbedingungen selbst erfahren zu haben, zu entziehen, kann daher von vorn herein keine Verpflichtung der Antragsgegnerin zum Selbsteintritt gem. Art. 3 Abs. 2 EGV 343/2003 auslösen. [...]