VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Beschluss vom 10.02.2014 - 8 B 123/14 - asyl.net: M21545
https://www.asyl.net/rsdb/M21545
Leitsatz:

Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Rücküberstellung nach Italien wegen systemischer Mängel des Aufnahmesystems.

Schlagwörter: Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, Italien, systemische Mängel, Aufnahmebedingungen, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a,
Auszüge:

[...]

Der streitgegenständliche Bescheid verstößt gegen Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin-II-Verordnung. Danach kann jeder Mitgliedsstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien dafür nicht zuständig ist. Durch die Ausübung dieses so genannten Selbsteintrittsrechts wird der Mitgliedsstaat gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin-II-Verordnung zum zuständigen Mitgliedsstaat im Sinne dieser Verordnung. Der Mitgliedsstaat hat das ihm im Rahmen des Selbsteintrittsrechts eingeräumte Ermessen unter Berücksichtigung der sonstigen Vorschriften auszuüben, die das im EU-Vertrag vorgesehene und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeitete "gemeinsame europäische Asylsystem" bilden. Hierzu zählen die europäischen Grundrechte, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und im Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31.01.1967 sowie in der europäischen Menschenrechtskonvention finden (vgl. VG Braunschweig, Urteil vom 20.09.2013 - 7 A 25/13-).

Die Prüfung der vorliegenden Berichtslage ergibt hinsichtlich Italien systemische Mängel der dortigen Aufnahmebedingungen für Asylbewerber und sog. Dublin-Rückkehrer mit der Folge der ernstlichen Gefahr für den Antragsteller, im Falle seiner Rückführung einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechte-Charta ausgesetzt zu sein. Insofern ergibt sich eine Ermessensverdichtung im Rahmen des Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-Verordnung hin zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts, ohne die eine Verletzung des Art. 3 EMRK und des Art. 4 EU-Grundrechte-Charta nicht vermeidbar wäre.

Ausgesprochen bedenklich ist bereits die Lage von Asylsuchenden in Italien während des eigentlichen Erst-Verfahrens (vgl. Urteil der Kammer vom 10.12.2013 - 6 A 1730/12 -). So existiert zwar ein staatliches Aufnahmesystem zur Unterbringung von Flüchtlingen, dieses ist jedoch völlig überlastet (insbesondere CARA und SPRAR, vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe/Juss-Buss, Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Italien - Bericht über die Situation von Asylsuchenden, Flüchtlingen und subsidiär oder humanitär aufgenommenen Personen, mit speziellem Fokus auf Dublin-Rückkehrende, Mai 2011, S. 5 ff.). Verschiedene Quellen berichten, dass zwischen dem ersten Kontakt mit den italienischen Behörden und der formellen Registrierung des Asylgesuchs (sog. Verbalizzazione, vgl. auch SFH, Italien: Aufnahmebedingungen - Aktuelle Situation von Asylsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin-Rückkehrenden, Oktober 2013, 4.1.2., S. 12) kein Zugang zu Unterbringungseinrichtungen besteht. Diese Periode kann wenige Wochen, in größeren Städten aber auch drei (Mailand) oder "mehrere" Monate (Rom) dauern (vgl. SFH, Italien: Aufnahmebedingungen - Aktuelle Situation von Asylsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin-Rückkehrenden, Oktober 2013, a.a.O.; vgl. auch VG Gießen, Urteil vom 25.11.2013 - 1 K 844/11.GI.A - m.w.N).

Den vorliegenden Erkenntnismitteln ist ebenfalls zu entnehmen, dass der Antragsteller bei einer Rücküberstellung nach Italien (geplant hier offensichtlich eine Rücküberstellung über den Flughafen Venedig, Projekt "Locanda Dublino") ernsthaft befürchten müsste, wegen der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien und der dort herrschenden schwerwiegenden systemischen Mängel eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren.

Das VG Braunschweig hat in seinem Urteil vom 21.02.2013 - 7 A 57/11 - zum "Bericht über die Situation von Asylsuchenden, Flüchtlingen und subsidiär oder humanitär aufgenommenen Personen, mit speziellem Fokus auf Dublin-Rückkehrende" von der SFH/Juss-Buss aus dem Mai 2011 ausgeführt: [...]

Diese Auffassung macht sich der Einzelrichter zu eigen (vgl. zuletzt: VG Braunschweig, Beschlüsse vom 07.01.2014 - 7 B 246/13 - und 27.01.2014 - 7 B 20/14 - m.w.N.).

Weiter berücksichtigt der Einzelrichter das umfangreiche, durch das VG. Braunschweig (2 A 126/11) in Auftrag gegebene Gutachten der Flüchtlingsorganisation borderline europe, Menschenrechte ohne Grenzen e.V. aus dem Dezember 2012. Hieraus ergibt sich, dass eine Unterbringung von Dublin-Rückkehrern in staatlichen Einrichtungen nicht sichergestellt ist. [...]

Schließlich ist der aktuelle Bericht "Italien: Aufnahmebedingungen - Aktuelle Situation von Asylsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin-Rückkehrenden" der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) aus dem Oktober 2013 zu berücksichtigen. Die dort angesprochenen FER-Projekte sind zahlenmäßig unbedeutend. Die FER-Projekte bieten insgesamt - italienweit - 220 Plätze für Dublin-Rückkehrende an. Diesen standen 3.551 Dublin-Rücküberstellte im Jahr 2012 gegenüber. [...]

Im Übrigen steigt die Anzahl der die Italienische Republik erreichenden Flüchtlinge offensichtlich weiter stark an. So sind in letzter Zeit mehrmals Tage mit mehr als 1.000 Flüchtlingen auf der sog. "Südroute" zu verzeichnen, die an der Seegrenze gerettet werden mussten [...].