VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Beschluss vom 22.08.2013 - 10 L 995/13 - asyl.net: M21533
https://www.asyl.net/rsdb/M21533
Leitsatz:

Das Visumerfordernis des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ist mit der Richtlinie 2003/86/EG vereinbar.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Visum, Visumspflicht, Familienzusammenführung, Familienzusammenführungsrichtlinie, Familiennachzug, nationales Visum, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Schutz von Ehe und Familie, Achtung des Privatlebens,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2 Nr. 1, AufenthG § 23 Abs. 1, EMRK Art. 8,
Auszüge:

[...]

Dass die Ehefrau des Antragstellers derzeit über eine bis zum 26.08.2014 befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG verfügt, steht einem rechtlichen Rückkehrhindernis wie einer Asylanerkennung oder einem Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG nicht gleich und begründet bereits von daher keine Unzumutbarkeit ihrer Rückkehr in ihr Heimatland (vgl. OVG des Saarlandes, Beschlüsse vom 19.12.2011, 2 B 405/11, und vom 20.12.2010, 2 B 281/10, m.w.N.).

Ebenso wenig rechtfertigt der Hinweis des Antragstellers auf das Beschäftigungsverhältnis seiner Ehefrau bei der Islamischen Gemeinde Saarland e.V. sowie deren Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse die Annahme einer über die reine Aufenthaltsbeendigung in Deutschland hinausgehenden Unzumutbarkeit einer Rückkehr zusammen mit dem Antragsteller und den beiden gemeinsamen Kindern nach Tunesien. Allein der Umstand, dass ein Ausländer von der ihm eröffneten Möglichkeit Gebrauch macht, sich in der Bundesrepublik Deutschland eine wirtschaftliche oder soziale Existenz aufzubauen, und mit zunehmender Aufenthaltsdauer und wachsender Einbindung in die hiesigen Lebensverhältnisse regelmäßig einer entsprechenden Entfremdung von den Lebensverhältnissen seines Heimatlandes ausgesetzt ist, führt nicht dazu, dass ihm ein Verlassen des Bundesgebietes generell nicht zuzumuten wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.03.2010, 1 C 8.09, NVwZ 2010, 964; ferner BayVGH, Beschluss vom 21.02.2013, 10 CS 12.2679, zitiert nach juris).

Dies gilt vorliegend umso mehr, als die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen Art. 8 EMRK mit Blick auf den Schutz des "Privatlebens" weitgehend in die hiesigen Lebensverhältnisse integrierten Ausländern in ganz eng begrenzten Ausnahmefällen unter dem Aspekt des "faktischen Inländers" eigenständig Bleiberechte zu vermitteln vermag, bei der Ehefrau des Antragstellers offensichtlich nicht vorliegen (vgl. dazu etwa OVG des Saarlandes, Beschlüsse vom 19.12.2011, 2 B 405/11, und vom 20.04.2011, 2 B 208/11, wonach die Annahme einer nach Art. 8 Abs. 1 EMRK schützenswerten Rechtsposition eine abgeschlossene und "gelungene" Integration des Ausländers in die Lebensverhältnisse in Deutschland voraussetzt, von der nicht bereits ausgegangen werden kann, wenn sich ein Ausländer für einen bestimmten, auch längeren Zeitraum im Bundesgebiet aufgehalten hat und eine Aufenthaltsbeendigung nur dann einen konventionswidrigen Eingriff in das "Privatleben" dem Verständnis von Art. 8 Abs. 1 EMRK beinhaltet, wenn der Ausländer aufgrund seines (längeren) Aufenthalts über so starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte zum "Aufnahmestaat" verfügt, dass er aufgrund der Gesamtentwicklung "faktisch zu einem Inländer" geworden ist, dem ein Leben in dem Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug (mehr) hat, schlechterdings nicht mehr zugemutet werden kann).

Anhaltspunkte, dass der Ehefrau des Antragstellers ansonsten ein Leben in Tunesien nicht zumutbar wäre, bestehen nicht. Die Ehrfrau des Antragstellers hat vor ihrer erneuten Einreise nach Deutschland im Jahr 2005 seit 1984, mithin über einen Zeitraum von 21 Jahren, bei ihrer Großmutter in Tunesien gelebt und dort den Angaben des Antragstellers zufolge neben dem Abitur auch erfolgreich ein Studium abgeschlossen. Weshalb es dieser ungeachtet des Umstandes, dass ihre Großmutter zwischenzeitlich verstorben sein soll und sie keine sonstigen Verwandten mehr in Tunesien haben will, nicht möglich sein soll, mit Hilfe des Antragstellers sich wieder in die Lebensverhältnisse in Tunesien einzugliedern und ihren Lebensunterhalt zu sichern, ist weder aus dem Vorbringen des Antragstellers noch sonst ersichtlich. Dass dem Antragsteller selbst unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten eine Wiedereingliederung in die Lebensverhältnisse in Tunesien nicht möglich wäre, hat er selbst nicht behauptet. Dafür gibt es mit Blick darauf, dass er vor seiner Ausreise aus Tunesien dort als Elektriker bzw. Elektrotechniker gearbeitet hat, auch keine begründeten Anhaltspunkte, so dass davon auszugehen ist, dass der Antragsteller grundsätzlich selbst dazu in der Lage ist, auch ohne Unterstützung von Familienangehörigen seiner Ehefrau, für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie in Tunesien zu sorgen.

Zu keiner anderen Beurteilung gibt auch der Hinweis des Antragstellers darauf Anlass, seine Ehefrau pflege ihre ebenfalls in Deutschland lebende Mutter und nehme mit dieser zusammen auch Arztbesuche wahr. Davon abgesehen, dass eine Pflegebedürftigkeit der Mutter der Ehefrau des Antragstellers bereits nicht nachgewiesen ist, ist weder dargetan, geschweige denn glaubhaft gemacht, dass diese zwingend auf den Beistand gerade der Ehefrau des Antragstellers im Bundesgebiet angewiesen ist.

Ist dem Antragsteller sowie seiner Ehefrau und den beiden gemeinsamen Kindern danach die Herstellung bzw. Fortsetzung der familiären Lebensgemeinschaft auch in Tunesien zumutbar und die Abschiebung des Antragstellers demzufolge mit Art. 6 Abs. 1 GG sowie Art. 8 EMRK vereinbar, gilt im Ergebnis nichts anderes mit Blick auf die von dem Antragsteller angeführte Vorschrift des Art. 4 Abs. 1 Richtlinie 2003/86/EG –sog. Familienzusammenführungsrichtlinie-, der Familienangehörigen bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen und Bedingungen ein Recht auf Einreise und Aufenthalt gewährt. Einem entsprechenden Anspruch des Antragstellers auf Familienzusammenführung unmittelbar aus Art. 4 Abs. 1 Richtlinie 2003/86/EG steht entgegen, dass der Antragsteller im Jahr 2012 ohne das erforderliche Visum und damit illegal in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Auch wenn die Genehmigung der Familienzusammenführung nach der Richtlinie 2003/86/EG die Grundregel darstellt, können die Mitgliedsstaaten sie doch an bestimmte Voraussetzungen knüpfen (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.06.2013, 10 C 16.12, m.w.N., zitiert nach juris).

Insoweit sieht Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Richtlinie 2003/86/EG ausdrücklich vor, dass der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zu stellen und zu prüfen ist, wenn der Familienangehörige noch außerhalb des Hoheitsgebietes des Mitgliedsstaates weilt, in dem sich der Zusammenführende aufhält. Dem entspricht § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, der grundsätzlich die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis von einer Einreise erst nach Erteilung des erforderlichen Visums abhängig macht (ebenso BayVGH, Beschluss vom 21.02.2013, 10 CS 12.2679, a.a.O.).

Entgegen der Auffassung des Antragstellers steht seiner Abschiebung schließlich auch nicht die nach Art. 17 Richtlinie 2003/86/EG geforderte Einzelfallprüfung entgegen, bei der alle zu berücksichtigenden Interessen, insbesondere die der betroffenen Kinder, ausgewogen und sachgerecht bewertet werden müssen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 13.06.2013, 10 C 16.12, a.a.O., unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 06.12.2012, Rs C-356/11 und 357/11, InfAuslR 2013, 58).

Bei der Gewichtung der insoweit betroffenen Belange ist fallbezogen nämlich nicht nur zu berücksichtigen, dass der Ehefrau des Antragstellers und den beiden gemeinsamen Kindern ein Aufenthalt in Tunesien zur Fortführung der familiären Lebensgemeinschaft möglich und zumutbar ist, sondern auch, dass der Antragsteller und seine Ehefrau vor dem Hintergrund der illegalen Einreise des Antragstellers ersichtlich kein schutzwürdiges Vertrauen auf ein gemeinsames Leben in Deutschland haben entwickeln können. Vor diesem Hintergrund kommt dem Interesse der Familie des Antragstellers, die Lebensgemeinschaft gerade im Bundesgebiet führen zu können, aber kein maßgebliches, eine Abschiebung des Antragstellers hinderndes Gewicht zu. [...]