EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12, Diakité gegen Belgien (= ASYLMAGAZIN 3/2014, S. 76 ff.) - asyl.net: M21476
https://www.asyl.net/rsdb/M21476
Leitsatz:

EuGH zu den Voraussetzungen für das Vorliegen eines innerstaatlichen, bewaffneten Konfliktes im Sinne von Art. 15 c QRL:

Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass für die Anwendung dieser Bestimmung vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts auszugehen ist, wenn die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Vorabentscheidungsverfahren, Vorabentscheidungsersuchen, humanitäres Völkerrecht, ernsthafter Schaden, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, willkürliche Gewalt, Grad willkürlicher Gewalt, internationaler Schutz, bewaffneter Konflikt,
Normen: RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c,
Auszüge:

[...]

17 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Buchst. c der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die Frage, ob ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt, auf der Grundlage der im humanitären Völkerrecht festgelegten Kriterien zu beurteilen ist, und wenn nicht, welche Kriterien bei der Beurteilung der Frage, ob ein solcher Konflikt vorliegt, heranzuziehen sind, um festzustellen, ob ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser Anspruch auf subsidiären Schutz hat.

18 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die drei in Art. 15 der Richtlinie definierten Arten eines ernsthaften Schadens als Tatbestandsmerkmale erfüllt sein müssen, um den Anspruch einer Person auf subsidiären Schutz zu begründen, sofern gemäß Art. 2 Buchst. e der Richtlinie stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr in das betreffende Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, einen solchen Schaden zu erleiden (Urteil Elgafaji, Rn. 31).

19 Der in Art. 15 Buchst. c der Richtlinie definierte Schaden besteht in einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

20 Hierzu ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber den Ausdruck "internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt" verwendet hat, der von den Begriffen abweicht, die dem humanitären Völkerrecht zugrunde liegen, wonach "internationale bewaffnete Konflikte" einerseits und "bewaffnete Konflikte, die keinen internationalen Charakter aufweisen", andererseits unterschieden werden.

21 Der Unionsgesetzgeber wollte daher den Betroffenen nicht nur bei internationalen bewaffneten Konflikten und bewaffneten Konflikten, die keinen internationalen Charakter aufweisen, wie sie im humanitären Völkerrecht definiert sind, subsidiären Schutz gewähren, sondern auch bei innerstaatlichen bewaffneten Konflikten, wenn bei diesen Konflikten willkürliche Gewalt eingesetzt wird. Insoweit brauchen nicht alle Kriterien gegeben zu sein, auf die sich der gemeinsame Art. 3 der vier Genfer Abkommen und Art. 1 Abs. 1 des Zusatzprotokolls II vom 8. Juni 1977, der diesen Artikel weiterentwickelt und ergänzt, beziehen.

22 Darüber hinaus regelt das humanitäre Völkerrecht die Austragung internationaler bewaffneter Konflikte und bewaffneter Konflikte, die keinen internationalen Charakter aufweisen, was auch bedeutet, dass das Vorliegen eines solchen Konflikts Voraussetzung für die Anwendung seiner Vorschriften ist (Urteil der Berufungskammer des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien vom 2. Oktober 1995, Ankläger/Dusko Tadic alias "Dule", Rechtssache Nr. IT-94-1-AR72, Rn. 67).

23 Wenngleich das humanitäre Völkerrecht vor allem dadurch der Zivilbevölkerung im Konfliktgebiet Schutz bieten soll, dass die Kriegsfolgen für Menschen und Vermögenswerte begrenzt werden, sieht es anders als Art. 2 Buchst. e der Richtlinie in Verbindung mit deren Art. 15 Buchst. c nicht vor, dass bestimmten Zivilpersonen außerhalb des Konfliktgebiets und des Gebiets der am Konflikt beteiligten Parteien internationaler Schutz gewährt wird. Mit den Definitionen des Begriffs des bewaffneten Konflikts im humanitären Völkerrecht sollen demnach nicht die Fälle bestimmt werden, in denen ein solcher Schutz erforderlich wäre und von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten gewährt werden sollte.

24 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 66 und 67 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, verfolgen das humanitäre Völkerrecht und die Regelung des subsidiären Schutzes nach der Richtlinie, allgemeiner formuliert, unterschiedliche Ziele und führen klar voneinander getrennte Schutzmechanismen ein.

25 Darüber hinaus begründen bestimmte Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, wie der Generalanwalt in Nr. 70 seiner Schlussanträge festgestellt hat, eine individuelle strafrechtliche Verantwortung. Daher ist das humanitäre Völkerrecht sehr eng mit dem internationalen Strafrecht verknüpft, wohingegen bei dem in der Richtlinie vorgesehenen Mechanismus subsidiären Schutzes keine solche Beziehung besteht.

26 Daher würden die jeweiligen Bereiche jeder der beiden Regelungen, die im humanitären Völkerrecht bzw. in Art. 2 Buchst. e der Richtlinie in Verbindung mit deren Art. 15 Buchst. c festgelegt sind, verkannt, wenn ein Anspruch nach der letztgenannten Regelung von der Feststellung abhängig gemacht würde, dass die Voraussetzungen für die Anwendung der erstgenannten Regelung erfüllt sind.

27 Da der Begriff des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in der Richtlinie nicht definiert ist, ist die Bedeutung und Tragweite dieses Begriffs folglich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs entsprechend seinem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen, wobei zu berücksichtigen ist, in welchem Zusammenhang er verwendet wird und welche Ziele mit der Regelung verfolgt werden, zu der er gehört (Urteile vom 22. Dezember 2008, Wallentin-Hermann, C-549/07, Slg. 2008, I-11061, Rn. 17, und vom 22. November 2012, Probst, C-119/12, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 20).

28 Der Begriff des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bezieht sich entsprechend seinem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auf eine Situation, in der die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder in der zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen.

29 Während im Vorschlag der Kommission, der zum Erlass der Richtlinie geführt hat (KOM[2001] 510 endgültig), nach der Definition des ernsthaften Schadens in Art. 15 Buchst. c der Richtlinie vorgesehen war, dass eine Bedrohung des Lebens, der Sicherheit oder der Freiheit des Antragstellers in einem bewaffneten Konflikt oder bei systematischen oder allgemeinen Menschenrechtsverletzungen eintreten kann, hat der Unionsgesetzgeber beschlossen, letztlich nur den Fall einer Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu berücksichtigen.

30 Außerdem wird das Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nur zur Gewährung subsidiären Schutzes führen können, sofern die Auseinandersetzungen zwischen den regulären Streitkräften eines Staates und einer oder mehreren bewaffneten Gruppen oder zwischen zwei oder mehreren bewaffneten Gruppen ausnahmsweise als ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person, die die Gewährung des subsidiären Schutzes beantragt, im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie angesehen werden, weil der Grad willkürlicher Gewalt bei diesen Konflikten ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein (vgl. in diesem Sinne Urteil Elgafaji, Rn. 43).

31 Insoweit hat der Gerichtshof klargestellt, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (Urteil Elgafaji, Rn. 39).

32 In diesem Zusammenhang ist es nicht erforderlich, bei der Prüfung eines Antrags auf subsidiären Schutz die Intensität dieser Auseinandersetzungen speziell zu beurteilen, um unabhängig von der Bewertung des daraus resultierenden Grads an Gewalt zu bestimmen, ob die Voraussetzung des Vorliegens eines bewaffneten Konflikts erfüllt ist.

33 Darüber hinaus geht aus den Erwägungsgründen 5, 6 und 24 der Richtlinie hervor, dass durch die Mindestkriterien für die Gewährung des subsidiären Schutzes die Möglichkeit geschaffen werden soll, die in dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge festgelegte Schutzregelung für Flüchtlinge dadurch zu ergänzen, dass die Personen, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen, bestimmt werden und ihnen ein angemessener Status verliehen wird.

34 Deshalb darf die Feststellung des Vorliegens eines bewaffneten Konflikts, wie der Generalanwalt in Nr. 92 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht von einem bestimmten Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder von einer bestimmten Dauer des Konflikts abhängig gemacht werden, wenn diese dafür genügen, dass durch die Auseinandersetzungen, an denen die Streitkräfte beteiligt sind, der in Rn. 30 des vorliegenden Urteils beschriebene Grad an Gewalt entsteht, und der Antragsteller, der tatsächlich Gefahr läuft, einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, somit tatsächlich internationalen Schutz benötigt. [...]