VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 24.09.2013 - 11 K 210.13 - asyl.net: M21470
https://www.asyl.net/rsdb/M21470
Leitsatz:

Es besteht ein Anspruch auf Wiederaufgreifen eines Befristungsverfahrens, wenn der Abgeschobene über vier Jahre aus dem Ausland Kontakt zu seinem Kind gehalten hat und zwischenzeitlich nicht erneut straffällig geworden ist.

Schlagwörter: Wiederaufnahme des Verfahrens, Wiederaufgreifen, Befristung, Ausweisung, Eltern-Kind-Verhältnis, Straffreiheit, Ermessensreduzierung auf Null, deutsches Kind, Sperrfrist, Einreisesperre, Wirkung der Ausweisung, Kind, Schutz von Ehe und Familie,
Normen: VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1, VwVfG § 51 Abs. 3, AufenthG § 11 Abs. 1, GG Art. 2 Abs. 1, GG Art. 6,
Auszüge:

[...]

1. Sofern es überhaupt eines Wiederaufgreifens des Befristungsverfahrens bedarf, was nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts fraglich erscheinen könnte (vgl. Urteil vom 13. Dezember 2012 – BVerwG 1 C 14.12 – juris, Rdnr. 16; Urteil vom 4. September 2007 – BVerwG 1 C 21.07 – juris, Rdnr. 16 ff.), haben die Kläger einen Anspruch auf Wiederaufgreifen.

a. Nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Bescheid vom 26. Juli 2010, mit dem die Ausländerbehörde eine Befristung von sieben Jahren ausgesprochen hat, ist unanfechtbar, die Kläger haben dessen Änderung beantragt. Zwar hat sich die Sach- und Rechtslage nicht schon deswegen – worauf der Beklagte zutreffend hinweist – zu Gunsten der Kläger verändert, weil sich die Rechtsprechung oder die Weisungslage verändert hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Januar 1994 – BVerwG 2 C 12.92 – juris, Rdnr. 22). Eine Änderung der Sachlage liegt aber deswegen vor, weil der Kläger nunmehr über einen Zeitraum von vier Jahren Kontakt zur Klägerin (und ihrer Mutter) hält und seit mehr als zehn Jahren nicht erneut straffällig wurde, während zum Zeitpunkt des Bescheides im Juli 2010 erst ein Kontakt zwischen Vater und Tochter für etwa ein Jahr bestand und die Straffreiheit erst sieben Jahre betrug, wovon sich der Kläger zum damaligen Zeitpunkt erst etwa ein Jahr außerhalb des Strafvollzugs befand. Zudem besuchte ihn seine Tochter in Gambia im Jahr 2011.

Dem Wiederaufgreifen steht auch nicht die Frist aus § 51 Abs. 3 VwVfG entgegen, wonach der Antrag binnen drei Monaten, nachdem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat, gestellt werden muss. Dies gilt grundsätzlich auch bei Dauersachverhalten, worum es sich bei der fortgesetzten Vater-Kind-Beziehung und Straffreiheit handelt. Da es bei solchen Sachverhalten maßgeblich auf deren zeitliche Entwicklung ankommt und nicht auf ein singuläres Ereignis, liegt die Nichteinhaltung der Antragsfrist regelmäßig nicht auf der Hand. Es stellt sich nämlich die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Schwelle zur Entscheidungserheblichkeit der geltend gemachten nachträglichen Sachverhaltsänderungen überschritten wurde und ob "Qualitätssprünge" festzustellen sind, die unter Umständen neue Fristläufe in Gang zu setzen vermögen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Februar 2008 – 2 BvR 1262/07 – juris, Rdnr. 15). Ein Beginn der Frist kann hier nicht festgestellt werden, so dass sie auch nicht abgelaufen ist. Es steht angesichts des andauernden täglichen Kontaktes zwischen den Klägern und der fortgesetzten Straffreiheit des Klägers, die ohnehin nur in einem Unterlassen besteht, nicht fest, zu welchem Zeitpunkt sich der für die Befristung relevante Sachverhalt qualitativ geändert haben könnte und sich diese Änderung den Klägern auch hätte aufdrängen müssen, so dass sie auf eine qualitative Änderung mit einem weiteren Befristungsantrag hätten reagieren müssen. Jedenfalls ist nicht ersichtlich, dass ein sog. "Qualitätssprung" mehr als drei Monate vor der Antragstellung am 17. August 2012 eintrat. Auch die beklagte Ausländerbehörde hat nicht angeben können, zu welchem konkreten Zeitpunkt die Kläger spätestens den geänderten Sachverhalt hätten geltend machen müssen.

b. Selbst wenn man dies anders sähe, hat die Ausländerbehörde jedenfalls nach § 51 Abs. 4 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG das Verfahren wiederaufzugreifen. Nach diesen Vorschriften kann ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, zurückgenommen bzw. widerrufen werden. Die Entscheidung über die Aufhebung des Verwaltungsaktes steht im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde; das Gericht kann dieses Ermessen nur begrenzt auf Ermessensfehler überprüfen (§ 114 Satz 1 VwGO), so dass grundsätzlich nur ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensentscheidung besteht. Im vorliegenden Fall ist das Ermessen jedoch dahin "auf Null" reduziert, dass sich allein das Wiederaufgreifen des Verfahrens als ermessensfehlerfrei darstellt.

Dies ergibt sich zum einen daraus, dass die Ausländerbehörde dem Kläger im Bescheid vom 26. Juli 2010, in dem sie die Befristung auf sieben Jahre festsetzte, zusagte, im Februar 2013 eine weitergehende Verkürzung der Sperrfrist auf seinen Antrag hin zu prüfen. Damit hat sich die Behörde selbst gebunden, der Kläger durfte sich darauf verlassen, dass jedenfalls im Jahr 2013 die Befristungsentscheidung erneut sachlich geprüft wird. Ermessenserwägungen der Ausländerbehörde, weshalb sie entgegen ihrer Zusage aus dem Jahr 2010 keine erneute Sachprüfung vorzunehmen habe, sind von ihr nicht aufgezeigt worden und auch sonst nicht ersichtlich.

Zum anderen ist die Ermessensentscheidung deswegen auf Null reduziert, weil die Aufrechterhaltung des ablehnenden bestandskräftigen Bescheides "schlechthin unerträglich" wäre. Zwar begründet nicht allein die Rechtswidrigkeit eines Bescheides einen Anspruch auf Rücknahme, da der Rechtsverstoß lediglich die Voraussetzung einer Ermessensentscheidung der Behörde ist. Etwas anderes gilt aber dann, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 27. Juni 2011 – 12 A 2096/10 – juris, Rdnr. 5). Im vorliegenden Fall liegt auf der Hand, dass die Sperrfrist von sieben Jahren jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt keinen Bestand mehr haben kann. Vielmehr ist eine deutlich niedrigere Frist festzusetzen (vergleiche sogleich unter 2.). Davon geht auch die Ausländerbehörde in ihren Verfahrenshinweisen vom 11. September 2013 (VAB) aus: Danach hält die Behörde bei einer Lebensgemeinschaft mit deutschen Kindern, die über sechs Jahre alt sind, einer zwingenden Ausweisung und einer geringen bis durchschnittlichen Wiederholungsgefahr regelmäßig eine Frist von fünf Jahren für angemessen (Nr. 11.1.4.2), während bei deutschen Kindern unter sechs Jahren – wie hier – regelmäßig eine niedrigere Frist festzusetzen ist. Darüber hinaus lag dem früheren VAB, auf deren Grundlage der Bescheid vom 26. Juli 2010 erlassen wurde, das Konzept zu Grunde, nach Ausreise zunächst eine recht hohe Sperrfrist festzusetzen (wie hier mit sieben Jahren geschehen) und diese nachfolgend bei Wohlverhalten des Ausländers abzukürzen (Nr. 11.1.3). Damit stimmt auch die Erfahrung des Gerichts aus zahlreichen ausländerrechtlichen Verfahren überein, dass die beklagte Ausländerbehörde bei ähnlichen Sachverhalten eine deutlich kürzere Sperrfrist festsetzt.

2. Die Kläger haben nach § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) einen Anspruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung des Klägers auf den Tag der mündlichen Verhandlung. Danach darf ein Ausländer, der ausgewiesen oder abgeschoben worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten; ihm wird auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Diese Wirkungen werden auf Antrag befristet. Die Frist ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Bei der Bemessung der Länge der Frist wird berücksichtigt, ob der Ausländer rechtzeitig und freiwillig ausgereist ist. Sie beginnt mit der Ausreise.

Die Frist begann mit der Abschiebung des Klägers aus der Haft am 3. Februar 2009. Ein Überschreiten der bis zum Tag der mündlichen Verhandlung abgelaufenen Frist von fast vier Jahren und acht Monaten ist nicht angemessen. Ob seinerzeit eine kürzere Frist festgesetzt hätte werden müssen – wofür einiges spricht –, kann offen bleiben, weil die Kläger dies nicht beantragt haben und ihnen für eine rückwirkende Befristungsentscheidung das Rechtsschutzbedürfnis fehlt.

Bei der Bestimmung der Länge der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist sind das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezial- und generalpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Höchstfrist muss sich aber in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 7 GRCh, Art. 8 EMRK messen und ggf. relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie ggf. seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 55 Abs. 3 Nrn. 1 und 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2012 – BVerwG 1 C 19.11 – juris, Rdnr. 42; Urteil vom 13. Dezember 2012 – BVerwG 1 C 14.12 – juris, Rdnr. 14 f.).

Im vorliegenden Fall sprechen zunächst das recht hohe Gewicht des Ausweisungsanlasses und die daraus folgende Gefahr für bedeutende Rechtsgüter dafür, den Kläger für einen längeren Zeitraum vom Bundesgebiet fernzuhalten, um etwaige Folgetaten mit ausreichender Gewissheit auszuschließen. Seine Raubtaten wiegen schwer, da er sie in rascher Folge mit hoher krimineller Energie durchführte und dabei erheblich Freiheit und Eigentum anderer beeinträchtigte. Zudem handelte es sich nicht um Spontantaten aus einer wirtschaftlichen Notlage heraus, sondern um eine Straftatenserie, deren umfangreiche Beute er zu einem großen Teil für einen aufwändigen Lebensstil verbrauchte. Das Gewicht des Ausweisungsanlasses wird auch durch die ziemlich hohe Freiheitsstrafe von acht Jahren und drei Monaten belegt. Gegenläufig ist aber zu berücksichtigen, dass nur noch eine geringe Wiederholungsgefahr besteht. Nach Einschätzung der Justizvollzugsanstalt Tegel sind dem Kläger von seiner Persönlichkeitsstruktur her Straftaten eher fremd, sie sind "negativ im Selbstbild verankert" (vgl. Vollzugsplanfortschreibung vom 18. Oktober 2006, Bd. XI der Gefangenenpersonalakten). Dies erscheint plausibel, da er vor der zu Ausweisung führenden Verurteilung nur durch unbedeutendere Verfehlungen als Jugendlicher auffiel, die zu keiner strafrechtlichen Verurteilung führten. Des Weiteren geht die JVA davon aus, dass ihn die Haft sichtlich positiv beeindruckte, er wirkte deutlich nachgereift, setzte sich selbstkritisch und ohne Bagatellisierungstendenzen mit seinen Straftaten positiv, umfassend und intensiv auseinander und nahm regelmäßig an Gesprächen beim Gruppenleiter und beim Psychologischen Dienst teil, so dass keine Behandlungsnotwendigkeiten mehr bestand. Darüber hinaus schloss er in der Haft die Ausbildung zum Elektroniker erfolgreich ab. Die JVA gewährte ihm umfangreiche Vollzugslockerungen und Freigänge, die beanstandungslos abliefen; eine Verlegung in den offenen Vollzug schied allein wegen der drohenden Abschiebung des Klägers aus. Aufgrund dieses positiven Gesamteindrucks sprach sich die JVA am 4. November 2008 dafür aus, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen (Bl. 114, Bd. X der Gefangenenpersonalakten); zu einer Entscheidung der Strafvollstreckungskammer kam es augenscheinlich aufgrund der Abschiebung des Klägers nicht mehr. Gegen eine erneute Straffälligkeit des Klägers spricht zudem, dass durch die Geburt seiner Tochter M. eine Zäsur in seinem Leben eingetreten ist. Ferner hat er seit mehr als zehn Jahren keine Straftaten mehr begangen, wobei aber zu berücksichtigen ist, dass er davon einen Großteil in der recht engen Struktur des Strafvollzugs verbrachte.

Des Weiteren ist für die Bemessung der erforderlichen Dauer der Wirkungen von Ausweisung und Abschiebung zu berücksichtigen, dass der Kläger mit der Klägerin eine deutsche Tochter hat, mit der (und der Kindesmutter Frau S.) er nach Wiedereinreise ins Bundesgebiet in familiärer Lebensgemeinschaft leben möchte. Anhaltspunkte, dass diese Behauptung verfahrensangepasst ist, um dem Kläger eine ihm ansonsten verwehrte Rückkehr ins Bundesgebiet zu ermöglichen, sind nicht ersichtlich und von der beklagten Ausländerbehörde auch nicht geltend gemacht worden; aus diesem Grund ist in der mündlichen Verhandlung auf die Anhörung der Klägerin und der Vernehmung der Kindesmutter verzichtet worden. Dieser grundrechtlich durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG geschützten Vater-Kind-Beziehung kommt hier besonderes Gewicht zu, weil die Klägerin mit vier Jahren noch sehr jung ist und mit ihrem Vater überhaupt erst ein einziges Mal zusammentreffen konnte, so dass bei einer fortgesetzten Trennung die Gefahr besteht, dass ein gefestigtes Eltern-Kind-Verhältnis nicht mehr aufgebaut werden kann. Demgegenüber sind die mit der Sperrfrist derzeit noch verfolgten Zwecke geringwertiger und haben demgemäß hinter dem Grundrecht der Kläger auf Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft zurückzustehen. [...]