OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 12.09.2013 - A 3 A 845/11 (= ASYLMAGAZIN 1-2/2014, S. 29 ff.) - asyl.net: M21360
https://www.asyl.net/rsdb/M21360
Leitsatz:

Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, dass ein türkischer Staatsangehöriger, der sich in exponierter Funktion exilpolitisch für die PKK betätigt hat (hier zuletzt als Leiter eines Sektors) und gegen den deshalb aktuell in der Türkei noch ermittelt und gefahndet wird, bei Rückkehr in die Türkei die in § 60 Abs. 2 AufenthG bezeichnete Gefahr beachtlich wahrscheinlich droht.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Türkei, PKK, Rückkehrgefährdung, Exilpolitik, exilpolitische Betätigung, exponiert, exponierte Funktion, Folter, Abschiebungsverbot, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

b) Zur tatsächlichen Rückkehrgefährdungslage in der Türkei hat der Senat in seinem jüngsten Urteil vom 22. März 2012 (- 3 A 428/11 -, juris Rn. 26 f.) folgende Feststellungen getroffen:

"Bei der Einreise in die Türkei hat sich jedermann, gleich welcher Volkszugehörigkeit, einer Personenkontrolle zu unterziehen. Das gilt auch für abgeschobene oder freiwillig dorthin zurückkehrende Asylbewerber. Abgelehnte kurdische Asylbewerber müssen dabei an der Grenze und insbesondere auf den Flughäfen in Istanbul und Ankara mit Polizeihaft rechnen, während derer überprüft wird, ob sie sich politisch gegen den türkischen Staat betätigt haben oder ob sie zumindest Informationen über politische Organisationen im Ausland geben können. Hierbei haben sie aber, jedenfalls soweit in ihrer Person keine Besonderheiten vorliegen, nicht mit asylrelevanter Verfolgung zu rechnen (vgl. SächsOVG, Urt. v. 8. Juli 2010 - A 3 A 503/07 -; Urt. v. 4. Februar 2011 - A 3 A 706/09 -; Urt. v. 12. Dezember 2011 - 3 A 292/10 -, jeweils juris; Lagebericht Auswärtiges Amt vom 8. April 2011, S. 28 f.).

Auch nach den sonstigen Erkenntnissen des Senats ist eine andere Beurteilung der Frage einer etwaigen Rückkehrgefährdung von abgelehnten Asylbewerbern nicht geboten. In seinem Lagebericht vom 8. April 2011 (S. 27 f.) hat das Auswärtige Amt ausgeführt, dass in den letzten Jahren kein Fall bekannt worden sei, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit seinen früheren Aktivitäten - dies gelte auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen sowie als solche eingestufte Rückkehrer - gefoltert oder misshandelt worden sei. Diese Feststellung werde auch von türkischen Menschenrechtsorganisationen sowie von Auskünften anderer EU-Staaten geteilt. In Polizeigewahrsam werde bei der Einreise lediglich genommen, wer in das Fahndungsregister eingetragen sei; werde festgestellt, dass gegen den Rückkehrer ein Ermittlungsverfahren anhängig sei, werde dieser in Polizeigewahrsam genommen und vernommen. Wenn ein Strafverfahren anhängig sei, werde der Betroffene festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt. Hierzu werde ein Anwalt hinzugezogen und eine ärztliche Untersuchung vorgenommen. Diese Einschätzung wird, jedenfalls soweit kein konkreter Tatverdacht gegen den Rückkehrer besteht, auch von anderen Gutachtern bestätigt (insb. Kaya, Stellungnahme v. 22. Juli 2009 an das OVG NW). Allerdings geht das Auswärtige Amt weiterhin davon aus, dass sich die Sicherheitsbehörden bei der Einreise mit Personen befassen, jedenfalls soweit sie im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig waren und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben (Lagebericht vom 8. April 2011, S. 18). Trotz erheblicher Anstrengungen ist es der Türkei dabei nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden (Lagebericht vom 8. April 2011, S. 21). Daher hat sich an der Situation, wie sie sich dem erkennenden Senat in diesem Jahr (vgl. Urt. v. 4. Februar 2011 und Urt. v. 12. Dezember 2011 a.a.O) dargestellt hat, nichts Grundlegendes verändert. Eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung kann nach alledem weiterhin bei Personen bestehen, bei denen Besonderheiten vorliegen, etwa weil sie in das Fahndungsregister eingetragen sind, gegen sie Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig sind, oder die sich in besonders exponierter Weise exilpolitisch betätigt haben, und deshalb in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie als potenzielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden (SächsOVG, Urt. v. 4. Februar 2011 a.a.O. und v. 12. Dezember 2011 a. a. O; ebenso jüngst OVG Schl.-H., Urt. v. 6. Oktober 2011 - 4 LB 5/11 -, und OVG Rh.-Pf., Urt. v. 14. Oktober 2011 - 10 A 10416/11 -, jeweils juris m.w.N.)."

An dieser Einschätzung ist in Übereinstimmung mit neueren obergerichtlichen Entscheidungen, die auch jüngste Erkenntnismittel berücksichtigen (vgl. insbesondere OVG NRW, Urt. v. 2. Juli 2013 - 8 A 2632/06.A -, juris Rn. 74 ff.; HessVGH, Urt. v. 19. April 2013 - 4 A 28/12.A -, juris Rn. 60 ff.; BayVGH, Urt. v. 27. April 2012 - 9 B 08.3023 -, juris Rn. 29 ff.) festzuhalten.

Eine andere Beurteilung ist insbesondere nicht aufgrund des Einwands der Beklagten geboten, dass dem Auswärtigen Amt ausweislich seines letzten Lageberichts vom 26. August 2012 (S. 31) nach wie vor in den letzten Jahren kein Fall bekannt worden sei, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden sei. Die Feststellungen in diesem Lagebericht decken sich mit denen des früheren vom 8. April 2011 nicht nur in dieser Hinsicht, sondern auch soweit festgestellt wird, dass es der türkischen Regierung trotz der diesbezüglichen gesetzgeberischen Maßnahmen nicht gelungen sei, Folter und Misshandlungen vollständig zu unterbinden. Letzteres steht in Einklang mit den durch den Senat eingeholten Stellungnahmen von amnesty international und des Gutachters Taylan. Während dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26. August 2012 noch keine Angaben zu 2012 zu entnehmen sind, zitiert amnesty international die türkische Menschenrechtsstiftung TIHV, deren Angaben auch in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes als glaubhaft behandelt werden. Demnach haben sich im Jahr 2012 bis November 2012 insgesamt 506 Personen an die Stiftung gewandt, um sich wegen Folterfolgen behandeln zu lassen, davon 217, die angaben, in ebendiesem Zeitraum gefoltert oder unmenschlich behandelt worden zu sein. Für das gesamte Berichtsjahr 2012 werden die Angaben der TIHV im Human Rights Report (Turkey 2012) des United States Department of State mit insgesamt 553 Fällen von Foltervorwürfen, davon 220, die sich im Berichtsjahr 2012 ereignet haben sollen, zitiert. Des Weiteren verweist amnesty international in seiner Stellungnahme auf einen Bericht des Menschenrechtsvereins in Diyarbakir (IHD) von Ende Januar 2013, wonach im Vorjahr in den kurdischen Provinzen insgesamt 876 Foltervorwürfe registriert worden seien, davon 66 in Polizeihaft oder bei der Gendarmerie, 139 außerhalb des Gewahrsams und 186 im Gefängnis. Auch Taylan zitiert in seiner Stellungnahme vom 19. Januar 2013 eine gemeinsame Presseerklärung der Menschenrechtsvereinigung und der Anwaltskammer von Diyarbakir, wonach allein in den ersten vier Monaten 2012 281 Folterfälle registriert worden seien.

Vor diesem Hintergrund relativieren sich die Angaben im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26. August 2012:

Das gilt zunächst für die Einschätzung, dass die von der TIHV registrierten Fälle aktueller Foltervorwürfe in den vergangenen Jahren weiter zurückgegangen sei (2009: 252, 2010: 161, 2011: 207). Zwar entspricht dies tendenziell der Einschätzung im Turkey 2012 Progress Report der Europäischen Kommission vom 10. Oktober 2012 (S. 19), in dem von einem "downward trend" die Rede ist. Auch diesem Bericht liegen aber offenbar noch keine Erhebungen für das Gesamtjahr 2012 zugrunde. Die Anzahl von aktuellen Foltervorwürfen ist vielmehr seit dem Jahr 2010 bis 2012 (220) eher im Steigen begriffen und bleibt wie auch die jüngst gegen Demonstranten in der Öffentlichkeit angewandte Gewalt von Sicherheitsbehörden ein ernsthaftes Problem (vgl. auch Human Rights Watch, World Report 2013, Events of 2012, S. 489: a serious problem). Gründe dafür könnten in einer inkonsequenten und mit einer Null-Toleranz-Politik nicht zu vereinbarenden Strafverfolgungs- und Beförderungspraxis liegen. So werden übereinstimmend Fälle der Straflosigkeit der Täter bei Foltervorwürfen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26. August 2012 S. 24 f.; Turkey 2012 Progress Report der Europäischen Kommission vom 10. Oktober 2012 a.a.O.; Human Rights Report [Turkey 2012] des United States Department of State, S. 4) und die Beförderung eines Polizeichefs beklagt, gegen den Foltervorwürfe erhoben worden waren, deretwegen die Türkei durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt worden ist (vgl. Turkey 2012 Progress Report der Europäischen Kommission vom 10. Oktober 2012 a.a.O. S. 20; amnesty international, Amnesty Report 2013 Turkey, S. 2).

Vor diesem Hintergrund kommt aber auch dem Umstand, dass dem Auswärtigen Amt in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein exponiertes Mitglied einer terroristische Organisation bei Rückkehr in die Türkei gefoltert worden sei, nicht die Bedeutung zu, die die Beklagte ihm beimisst. Denn insoweit ist in Anlehnung an die Stellungnahmen von amnesty international und des Gutachters Taylan zu berücksichtigen, dass jedenfalls nicht genügend Fälle bekannt sind, in denen Personen mit einem exponiert exilpolitischen Hintergrund überhaupt in die Türkei abgeschoben worden sind. Solange hierüber keine repräsentativen Fallzahlen bekannt sind, bleibt die in Rede stehende Feststellung im Lagebericht des Auswärtigen Amtes wenig aussagekräftig (so auch OVG NRW, Urt. v. 2. Juli 2013 a.a.O. Rn. 85 ff.).

Soweit sich in der Rechtsprechung vereinzelte Fälle finden, in denen bei besonderer exilpolitischer Betätigung die Gefahr der Folter oder unmenschlicher Behandlung bei Abschiebung in die Türkei nicht als beachtlich wahrscheinlich eingestuft wurde, wurde dabei auf einen hohen Bekanntheitsgrad des Betroffenen und die Publizität seines Verfahrens abgestellt (vgl. z.B. OVG NRW, Urt. v. 26. Mai 2004 - 8 A 3852/0 3.A - Kaplan -, juris; VG Bremen, Urt. v. 11. Februar 2010 - 2 K 1351/09.A -, juris). Bei entsprechender Prominenz eines abzuschiebenden türkischen Staatsangehörigen kann die Gefahr menschenrechtswidriger Übergriffe im jeweiligen Einzelfall wesentlich herabgesetzt sein, weil der Fall unter der intensiven Beobachtung deutscher Stellen und von Menschenrechtsorganisationen steht und sich türkische Behörden und Gerichte hierüber auch bewusst sind.

c) Ausgehend davon droht dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer der in § 60 Abs. 2 AufenthG genannten Behandlungsweisen. Der Kläger war im Bundesgebiet als ehemaliger Leiter der Region ... und später Leiter des Sektors ... in exponierter Funktion für die PKK tätig und ist deshalb im Jahr 2006 durch das Oberlandesgericht Düsseldorf wegen Rädelsführerschaft in einer kriminellen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt worden. Dies ist den türkischen Behörden unstreitig bekannt geworden. Über den Fall des Klägers ist seinerzeit ausweislich der Stellungnahme von Taylan in der türkischen Presse berichtet worden, wobei er in der türkischen Tageszeitung Hürriyet vom 10. Mai 2004 als einer der obersten Anführer der Terrororganisation PKK bezeichnet worden sei. Das Interesse der Türkei am Fall des Klägers zeigt sich ferner daran, dass nach Angaben seines Prozessbevollmächtigten türkische Sicherheitsbeamte 2006 an der Verhandlung vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf teilgenommen haben. Außerdem soll der Kläger aktuell noch im September dieses Jahres in einem Strafverfahren gegen den Verantwortlichen des Finanzierungsbüros der PKK als Zeuge auftreten, an dem ebenfalls ein erkennbar hohes Interesse bei den türkischen Sicherheitsbehörden bestehen soll. Schließlich steht nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 14. Februar 2013 fest, dass nach dem Kläger seit 2008 bei der Oberstaatsanwaltschaft Diyarbakir wegen PKK-Mitgliedschaft und Aktivitäten für die PKK unter dem Aktenzeichen ... ermittelt und deshalb aufgrund eines Festnahmebeschlusses nach ihm gefahndet wird.

Aus alledem folgt, dass bei dem Kläger Besonderheiten vorliegen, die ihn der Gefahr aussetzen, bei seiner Rückkehr in das Blickfeld der türkischen Sicherheitsbehörden zu geraten, festgenommen und Verhören unterzogen zu werden. Die Gefahr, dabei der Folter ausgesetzt zu werden, sieht der Senat gerade auch aufgrund seines Aussageverhaltens in der mündlichen Verhandlung als gegeben an. Der Kläger erwies sich wie bereits in der Vorinstanz als wenig offen, teilweise unglaubwürdig, insbesondere bei seinem korrigierten Vortrag zu seiner PKK-Nähe im Irak, und wich eindeutigen Informationen aus. Insoweit könnten türkische Vernehmungsbeamte, die nicht willens sind, sich an die türkische Rechtslage zu halten, verstärkt Anlass sehen, Aussagen mit unerlaubten Mitteln zu erpressen.

Der Senat sieht diese Rückkehrgefährdung des Klägers auch unter dem Gesichtspunkt der Prominenz nicht auf ein unbeachtliches Maß als reduziert an. Ein ernst zu nehmender Schutz durch Publizität seines Falls erscheint nicht gewährleistet. Dazu liegt die Berichterstattung über die Festnahme des Klägers im Jahr 2004 und seine Verurteilung im Jahr 2006 in türkischen und deutschen Medien bereits zu lange zurück. Überdies hatte das Verfahren nie ein dem sog. Kalifen von Köln vergleichbares Maß an Aufmerksamkeit auf sich gezogen (vgl. dazu OVG NRW, Urt. v. 26. Mai 2004 a. a. O.). Selbst wenn türkische Menschenrechtsorganisationen gegen den Kläger gerichtete Misshandlungen bei den zuständigen Stellen zur Anzeige bringen würden, kämen Informationen über solche Maßnahmen erst nachträglich und folglich zu spät. [...]