VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 21.11.2013 - 6 A 122/10 - asyl.net: M21358
https://www.asyl.net/rsdb/M21358
Leitsatz:

Jeder Ruander, der sich dem herrschenden Staats- und Gemeinverständnis entzieht oder zu entziehen scheint, muss mit Sanktionen rechnen. Die Bandbreite reicht vom korrigierenden Gespräch über den öffentlichen Tadel bis hin zu Gefängnisstrafe.

Schlagwörter: Ruanda, RPF, Ruandische Patriotische Front, RNC, Rwandan National Congress, Asylantrag, Antragstellung als Asylgrund, Fälschung, Fälschung von Dokumenten, Politmalus, exilpolitische Betätigung, Exilpolitik, exilpolitische Aktivitäten,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Im vorliegenden Einzelfall drohen dem Kläger aufgrund seiner individuellen Situation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit relevante Verfolgungsmaßnahmen im Fall einer Rückkehr nach Ruanda. Er hat unter falschen Angaben ein Schengen-Visum von der Bundesrepublik Deutschland erlangt. Durch das Anbringen des entsprechenden Vermerkes in seinem ruandischen Reisepass ist die Tatsache, dass dieses Visum von den deutschen Behörden annulliert wurde, ohne weiteres auch den ruandischen Behörden im Fall der Wiedereinreise erkennbar. Zudem hat der Kläger nach Einreise mit diesem Visum einen Asylantrag gestellt. Ausweislich der vorgelegten Unterlagen ist der Kläger außerdem mittlerweile dem Rwandan National Congress (RNC) in Deutschland beigetreten, er nimmt an Veranstaltungen teil und ist in verschiedenen Funktionen aktiv geworden.

In seinen Stellungnahmen vom 6. August 2013 an das Verwaltungsgericht Hannover sowie an das Verwaltungsgericht Oldenburg hat das Auswärtige Amt zwar angegeben, dass keine Fälle bekannt geworden seien, bei denen abgelehnte Asylbewerber allein wegen der illegalen Ausreise und der Asylantragstellung in Deutschland strafrechtlich verfolgt oder sonstigen Repressalien ausgesetzt waren. Noch am 23. August 2012 hatte das Auswärtige Amt jedoch in einer Stellungnahme an das Verwaltungsgericht Braunschweig auf die Frage, ob die Klägerin in dem dortigen Verfahren wegen ihrer Flucht aus Ruanda und Asylantragstellung in Deutschland bei einer Rückkehr mit Inhaftierung, Folter, anderen Eingriffen in ihre körperliche Unversehrtheit oder sonstigen Nachteilen rechnen müsse, mitgeteilt, dass Ruander bei Rückkehr regelmäßig Befragungen über ihre Fluchtgründe unterzogen werden. Festnahmen und Inhaftierungen könnten nicht ausgeschlossen werden.

Außerdem hat Dr. Gerd Hankel in seiner gutachterlichen Stellungnahme vom 10. August 2013 an das Verwaltungsgericht Oldenburg ausgeführt, dass jeder, der sich dem herrschenden Staats- und Gemeinschaftsverständnis entzieht oder zu entziehen scheint, mit Sanktionen zu rechnen hat. Die Bandbreite reiche vom korrigierenden Gespräch über den öffentlichen Tadel bis hin zur Gefängnisstrafe. Unter Ausnutzung eines Schengen-Visums einen Asylantrag zu stellen, gehöre wegen der einem Asylantrag immanenten notwendigen Kritik an der Politik und/oder an den Organen des Herkunftslandes zu den Verhaltensweisen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer fühlbaren Sanktion, d.h. mit Gefängnisstrafe, bestraft würden. Die Höhe des Strafmaßes hänge davon ab, welches Gesetz herangezogen würde. Möglich wäre es, Art. 451 des ruandischen Strafgesetzbuches (RStGB) heranzuziehen, der über Art. 481 RStGB auch bei im Ausland begangenen Taten anwendbar sei. Danach sei jede Person, die falsche Informationen über Ruanda verbreite, die international eine feindliche Meinung über den ruandischen Staat entstehen lasse, mit einer Gefängnisstrafe von sieben bis zehn Jahren zu bestrafen. Als weitere Rechtsgrundlagen kämen Art. 135 RStGB, der für die Verbreitung genozidaler Ideologie und anderer, damit zusammenhängende Rechtsverstöße eine Freiheitsstrafe von mehr als fünf bis zu neun Jahren sowie eine empfindliche Geldstrafe vorsieht, sowie Art. 136 RStGB, der ethnische Diskriminierung in Wort und Tat mit einer Freiheitsstrafe von mehr als fünf bis zu sieben Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe in gleicher Höhe wie bei Art. 135 RStGB, belege. Nach Art. 13 RStGB sie die im Ausland begangene Tat (Vergehen oder Verbrechen) eines ruandischen Staatsangehörigen so zu bestrafen, als sei sie im Inland begangen worden. Die schärfste Bestrafung sei dem Sondergesetz zur Bekämpfung genozidaler Ideologie zu entnehmen, das über seine Begriffsbestimmungen ("genocide ideology" und "charactenstics of genocide ideology") sehr weit gefasst sei und eine Freiheitsstrafe zwischen zehn und 25 Jahren sowie eine hohe Geldstrafe erlaube. Zwar gebe es derzeit auf internationalen Druck hin Bestrebungen, das inhaltlich sehr unbestimmte "Gesetz zur Bekämpfung genozidaler Ideologie" aus dem Jahr 2008 klarer zu fassen, doch sei der entsprechende Gesetzesentwurf noch nicht endgültig angenommen worden.

Würden die ruandischen Sicherheitsbehörden dem Kläger außerdem die Fälschung von Dokumenten im Zusammenhang mit der Erteilung des Visums vorwerfen, wäre zusätzlich zu beachten, dass Dr. Gerd Hankel in seiner Stellungnahme vom 10. August 2013 ausgeführt hat, dass insoweit der Tatbestand von Art. 614 RStGB einschlägig sei. Diese Norm beschreibe verschiedene Formen der Urkundenfälschung, vorgesehen sei Freiheitsstrafe von mehr als fünf bis zu sieben Jahren und eine Geldstrafe zwischen 500.000 bis 2.000.000 ruandischen Franc (ca. 800 ruandische Franc = 1 EUR). Die Personen, die im März 2010 mit gefälschten Dokumenten in der Deutschen Botschaft Bali festgenommen worden seien, seien zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden. Eine Geldstrafe hätten seine beiden Informanten nicht erwähnt, auch nicht, ob die Freiheitsstrafe u.U. geringfügig "mehr als fünf Jahre beträgt", wie es das Gesetz als Mindeststrafe verlange. In Anbetracht dieses Umstands könne mit Gewissheit davon ausgegangen werden, dass bei der Konstellation "Erhalt des Schengen-Visums aufgrund gefälschter Dokumente und anschließender Asylantrag", das Strafmaß voll ausgeschöpft werden würde. Nicht auszuschließen sei zudem, dass die Strafe nach den Grundsätzen der Tatmehrheit noch weiter erhöht werde (vgl. Art. 84 RStGB). Die in der deutschen Botschaft Festgenommenen hätten keinen Asylantrag gestellt.

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil das Vorgehen der ruandischen Sicherheitsbehörden und der Justiz allein dem strafrechtlichen Rechtsgüterschutz diene und ausschließlich eine Verfolgung kriminellen Unrechts darstellen würde. Zwar ist eine Verfolgung dann keine politische, wenn die Maßnahme allein dem grundsätzlich legitimen staatlichen Rechtsgüterschutz dient oder sie nicht über das hinausgeht, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt wird. Auch eine danach nicht asylerhebliche Strafverfolgung kann aber in politische Verfolgung umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet ("Politmalus"). Diese Grundsätze gelten sowohl für die Asylanerkennung als auch für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss v. 4.12.2012 - 2 BvR 2954/09 -, zit. nach juris). Die Anwendung der von Dr. Hankel genannten Strafvorschriften (Art. 451, 135, 136 RStGB, Sondergesetz zur Bekämpfung genozidaler Ideologie), die für eine Bestrafung bei einer Asylantragstellung unter Ausnutzung eines Schengen-Visums zur Auswahl stehen, hat aber nach Überzeugung des Gerichts ausschließlich politischen Charakter. Die Vorschriften regeln nicht den Tatbestand der Asylantragstellung mit der Folge, dass die Annahme nicht gerechtfertigt ist, die staatliche Maßnahme diene allein dem staatlichen Rechtsgüterschutz.

Darüber hinaus wirkt sich aber im Fall des Klägers auch seine exilpolitische Betätigung gefahrerhöhend aus.

In seiner gutachterlichen Stellungnahme vom Juli 2013 an das Verwaltungsgericht Hannover führt Dr. Helmut Strizek aus, dass der besondere Hass des ruandischen Präsidenten Paul Kagame seinen abtrünnigen früheren Mitarbeitern General Nyamwasa Kayumba, dem früheren Geheimdienstchef Oberst Patrick Karegeya sowie dem langjährigen Kabinettsdirektor Kagames und Generalsekretär der faktischen Staatspartei Ruandische Patriotische Front (RPF) Dr. Théogène Rudasingwa gelte, die mit anderen RPF-Dissidenten die Oppositionspartei RNC zur Überwindung der Kagame-Diktatur gegründet hätten. RNC und die für die demokratische Hutu-Bewegung sprechende Partei FDU-Inkingi hätten sich verbündet und hätten z.B. im August 2012 beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag einen Antrag gestellt, Kagame wegen der im Kongo-Krieg 1996 durch die ruandische Armee begangenen Kriegsverbrechen sowie für die ruandische Unterstützung der M23-Rebellen im Ost-Kongo anzuklagen. Wer in dieser Partei Mitglied sei, würde daher bei seiner Abschiebung mit schwersten Repressionen zu rechnen haben. Es bestünde Gefahr für Leib und Leben.

Amnesty International nimmt in seiner Stellungnahme an das Verwaltungsgericht Braunschweig vom 15. März 2013 Bezug auf die Einschätzung des Gerichts in anderen Klageverfahren, die jeweiligen Kläger würden von den ruandischen Sicherheitsbehörden als Regimegegner angesehen, und Informationen über regimekritische Aktivitäten und Äußerungen würden den ruandischen Sicherheitsbehörden aufgrund von Befragungen durch die ruandischen Geheimdienste zu den Fluchtgründen bekannt werden. Amnesty International führt insoweit aus, dass dies auf alle ruandischen Staatsangehörigen, die in Ruanda und/oder im Ausland in der Opposition aktiv waren/sind, zuträfe.

Das GIGA Institute of African Affairs hat in seiner Stellungnahme an das Verwaltungsgericht Braunschweig vom 30. Juli 2012 ausgeführt, dass das gesellschaftliche Klima in Ruanda eine offene Opposition zur gegenwärtigen Regierung nicht zulässt. Insbesondere wenn eine Nähe zur gewaltbereiten Exil-Opposition hergestellt würde, könne - unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Vorwürfe - von einer reaktiven Bedrohung durch die Stigmatisierung als Sympathisant von Genozid-Verbrechen ausgegangen werden. Dies könne zu sozialer Herabsetzung unter Häftlingen, zu unangemessener Behandlung durch staatliches Personal, aber auch in Freiheit zu nicht-staatlichen Übergriffen führen.

Darüber hinaus führt das GIGA Institute for African Affairs in seiner Stellungnahme vom 25. Juli 2013 an das Verwaltungsgericht Hannover aus, dass es für möglich gehalten werden müsse, dass die Klägerin in dem dortigen Verfahren allein durch die Tatsache ihres mehrjährigen Aufenthaltes in Europa und ihrer Mitgliedschaft im RNC - unabhängig von Überprüfbarkeit und Wahrheitsgehalt - Kontakte zur radikalisierten Opposition unterstellt würden. Derartige Unterstellungen würden das Gefährdungspotential der Klägerin erhöhen, da sie eine staatliche Strafverfolgung auslösen könnten, in deren Zusammenhang Misshandlungen nicht ausgeschlossen werden können.

Danach ist davon auszugehen, dass der Kläger unter diesen besonderen individuellen Umständen im Fall seiner Rückkehr nach Ruanda von den ruandischen Sicherheitsbehörden als Regimegegner behandelt würde. Seine exilpolitischen Aktivitäten dürften den Sicherheitsbehörden bei seiner Rückkehr auch bekannt werden, denn er würde bei einer Einreise von den ruandischen Geheimdiensten zu seinen Fluchtgründen befragt werden. Der Umstand, dass er ein Schengen-Visum unter falschen Angaben erlangt hat, würde bei einer Wiedereinreise offenbar und wäre Anhaltspunkt für weitere Befragungen durch ruandische Sicherheitsbehörden und/oder Geheimdienste. Zudem ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ihm eine Freiheitsstrafe droht, die politisch motiviert ist. [...]