Art. 19 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 [Dublin II-VO], ist dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat der Aufnahme eines Asylbewerbers nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung niedergelegten Kriteriums zugestimmt hat, d.h. als der Mitgliedstaat der ersten Einreise des Asylbewerbers in das Gebiet der Europäischen Union, der Asylbewerber der Heranziehung dieses Kriteriums nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden.
(Amtliche Leitsätze)
(zur Dublin-III-Verordnung siehe EuGH Urteile vom 7.6.2016 Ghezelbash gg. Niederlande, C-63/15 und Karim gg. Schweden, C-155/15, asyl.net: M23883 und M23884)
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47 Die Frage betrifft die Auslegung der Verordnung Nr. 343/2003 und die Rechte, die Asylbewerbern aus dieser Verordnung erwachsen, die einen der Bausteine des von der Europäischen Union errichteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems bildet.
48 Insoweit ist daran zu erinnern, dass gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV die Verordnung allgemeine Geltung hat, in allen ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt. Daher kann sie schon nach ihrer Rechtsnatur und ihrer Funktion im Rechtsquellensystem des Gemeinschaftsrechts Rechte der Einzelnen begründen, die die nationalen Gerichte schützen müssen (Urteile vom 10. Oktober 1973, Variola, 34/73, Slg. 1973, 981, Randnr. 8, vom 17. September 2002, Muñoz und Superior Fruiticola, C-253/00, Slg. 2002, I-7289, Randnr. 27, und vom 14. Juli 2011, Bureau National Interprofessionnel du Cognac, C-4/10 und C-27/10, Slg. 2011, I-6131, Randnr. 40).
49 Es ist zu klären, in welchem Umfang die Bestimmungen in Kapitel III der Verordnung Nr. 343/2003 tatsächlich Rechte der Asylbewerber begründen, die die nationalen Gerichte schützen müssen.
50 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 343/2003 nur einen Rechtsbehelf in ihrem Art. 19 Abs. 2 vorsieht. Nach dieser Bestimmung kann der Asylbewerber einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung einlegen, einen Antrag nicht zu prüfen und den Asylbewerber in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen. Im Übrigen wird im 29. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85, die insbesondere in ihrem Kapitel V die Rechtsbehelfe im Zusammenhang mit der Prüfung von Asylanträgen regelt, hervorgehoben, dass diese Richtlinie nicht die Verfahren im Rahmen der Verordnung Nr. 343/2003 betrifft.
51 Was die Reichweite des in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 vorgesehenen Rechtsbehelfs angeht, so sind bei der Auslegung dieser Verordnung nicht nur der Wortlaut ihrer Bestimmungen, sondern auch ihr allgemeiner Aufbau, ihre Ziele und ihr Kontext zu berücksichtigen. Dazu gehört insbesondere die Entwicklung, der sie im Zusammenhang mit dem System, in das sie sich einfügt, unterworfen war.
52 Unter diesem Aspekt ist zum einen zu beachten, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem in einem Kontext entworfen wurde, der die Annahme zulässt, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen (Urteil N. S. u.a., Randnr. 78).
53 Gerade aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens hat der Unionsgesetzgeber die Verordnung Nr. 343/2003 erlassen, um die Behandlung der Asylanträge zu rationalisieren und zu verhindern, dass das System dadurch stockt, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge desselben Antragstellers bearbeiten müssen, und um die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des für die Behandlung des Asylantrags zuständigen Staates zu erhöhen und damit dem "forum shopping" zuvorzukommen, wobei all dies hauptsächlich bezweckt, die Bearbeitung der Anträge im Interesse sowohl der Asylbewerber als auch der teilnehmenden Staaten zu beschleunigen (Urteil N. S. u. a., Randnr. 79).
54 Zum anderen wurden die für Asylanträge geltenden Regelungen in weitem Umfang auf Unionsebene harmonisiert, so insbesondere jüngst durch die Richtlinien 2011/95 und 2013/32.
55 Der von einem Asylbewerber gestellte Antrag wird daher weitgehend nach den gleichen Regelungen geprüft werden, welcher Mitgliedstaat auch immer für seine Prüfung nach der Verordnung Nr. 343/2003 zuständig ist.
56 Im Übrigen bezeugen verschiedene Bestimmungen der Verordnungen Nr. 343/2003 und 1560/2003 die Absicht des Unionsgesetzgebers, für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats organisatorische Vorschriften festzulegen, die die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, so wie dies im Dubliner Übereinkommen geschehen war (vgl. entsprechend Urteile vom 13. Juni 2013, Unanimes u. a., C-671/11 bis C-676/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 28, und Syndicat OP 84, C-3/12, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 29).
57 So sollen Art. 3 Abs. 2 (sogenannte Souveränitätsklausel) und Art. 15 Abs. 1 (humanitäre Klausel) der Verordnung Nr. 343/2003 die Prärogativen der Mitgliedstaaten wahren, das Recht auf Asylgewährung unabhängig von dem Mitgliedstaat auszuüben, der nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien für die Prüfung eines Antrags zuständig ist. Da es sich dabei um fakultative Bestimmungen handelt, räumen sie den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen ein (vgl. in diesem Sinne Urteile N. S. u. a., Randnr. 65, und vom 6. November 2012, K, C-245/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 27).
58 Im gleichen Sinne gestattet es Art. 23 der Verordnung Nr. 343/2003 den Mitgliedstaaten, untereinander bilaterale Verwaltungsvereinbarungen bezüglich der praktischen Modalitäten der Durchführung der Verordnung zu treffen, die insbesondere die Vereinfachung der Verfahren und die Verkürzung der Fristen für die Übermittlung und Prüfung von Gesuchen zur Aufnahme bzw. Wiederaufnahme von Asylbewerbern zum Gegenstand haben können. Weiter sieht Art. 14 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1560/2003 – jetzt Art. 37 der Verordnung Nr. 604/2013 – vor, dass die Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen, in denen sie über die Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 nicht einig sind, ein Schlichtungsverfahren in Anspruch nehmen können, an dem Mitglieder eines Ausschusses, die drei nicht an der Angelegenheit beteiligte Mitgliedstaaten vertreten, beteiligt sind, aber in dessen Rahmen eine Anhörung des Asylbewerbers nicht vorgesehen ist.
59 Schließlich besteht einer der Hauptzwecke der Verordnung Nr. 343/2003, wie aus ihren Erwägungsgründen 3 und 4 hervorgeht, in der Schaffung einer klaren und praktikablen Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden.
60 Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der angefochtenen Entscheidung um die von dem Mitgliedstaat, in dem die Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens ihren Asylantrag gestellt hat, getroffene Entscheidung, diesen Antrag nicht zu prüfen und die Betroffene in einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen. Dieser zweite Mitgliedstaat hat der Aufnahme der Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 festgelegten Kriteriums zugestimmt, d. h. als der Mitgliedstaat der ersten Einreise der Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens in das Unionsgebiet. In einer solchen Situation, in der der Mitgliedstaat der Aufnahme zustimmt, kann unter Berücksichtigung der oben in den Randnrn. 52 und 53 wiedergegebenen Erwägungen der Asylbewerber der Heranziehung dieses Kriteriums nur damit entgegentreten, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteile N. S. u. a., Randnrn. 94 und 106, und vom 14. November 2013, Puid, C-4/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 30).
61 Wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, erlaubt indessen kein Anhaltspunkt die Annahme, dass dies im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits der Fall ist.
62 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 dahin auszulegen ist, dass in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat der Aufnahme eines Asylbewerbers nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung niedergelegten Kriteriums zugestimmt hat, d. h. als der Mitgliedstaat der ersten Einreise des Asylbewerbers in das Unionsgebiet, der Asylbewerber der Heranziehung dieses Kriteriums nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden. [...]