VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 19.11.2013 - 4 A 127/11 - asyl.net: M21323
https://www.asyl.net/rsdb/M21323
Leitsatz:

In der Region Herat schränkt ein ausgeprägter traditioneller Verhaltenskodex Frauen und Mädchen in ihrer Bewegungs- und Handlungsfreiheit besonders stark ein.

Eine Zwangsheirat liegt vor, wenn eine Frau gegen ihren Willen verheiratet und durch Druck oder Drohungen dazu gezwungen werden soll. Dabei ist allein der Wille der Frau maßgeblich. Ob die Ehe dem Willen der Eltern entspricht, ist nicht entscheidend.

Schlagwörter: geschlechtsspezifische Verfolgung, Afghanistan, Herat, häusliche Gewalt, familiäre Gewalt, Zwangsehe, Zwangsverheiratung, minderjährig, Entführung, Entführung der Braut, Willen der Eltern, Kinderheirat,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

b. Ausgehend von diesen Grundsätzen steht der Klägerin zu 4) ein Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG aufgrund einer Verfolgung wegen des Geschlechts zu. Das Gericht ist überzeugt, dass die Klägerin zu 4) ihre Heimat aufgrund begründeter Furcht vor einer Zwangsheirat verlassen hat und dass sie im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit hiervon weiterhin bedroht ist bzw. Repressionen seitens ... ausgesetzt sein wird.

aa. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist allgemein anerkannt, dass in Afghanistan die Gefahr einer Zwangsverheiratung, die dort als solche - zumal bei minderjährigen Mädchen - weit verbreitet ist, für eine Frau den Flüchtlingsstatus begründen kann (vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 18. Juli 2013 - 5a K 4418/11 A -, juris, RdNrn. 39 f. mit umfangreichen Nachweisen). Dies wird auch von der erkennenden Kammer in ständiger Rechtsprechung vertreten (vgl. z.B. VG Göttingen, Urteil vom 08. Juli 2013 - 4 A 82/11 -, n.v.; VG Göttingen, Urteil vom 12. Juni 2012 - 4 A 15/10 -, n.v.).

Zwar stärken inzwischen Verfassung und Gesetzgebung Afghanistans zunehmend die Rechte der Frauen. Allerdings wird nahezu einhellig berichtet, dass dies für die meisten Betroffenen kaum Auswirkungen auf ihre Lebenswirklichkeit hat. Frauen werden nach wie vor in vielfältiger Hinsicht diskriminiert. Im gesellschaftlichen Bereich bestimmen nach wie vor eine orthodoxe Auslegung der Scharia und archaisch-patriarchalische Ehrenkodizes die Situation von Frauen und Mädchen. Der Verhaltenskodex der afghanischen Gesellschaft verlangt von ihnen grundsätzlich den Verzicht auf Eigenständigkeit. Innerhalb der Familie haben sie sich dem Willen der männlichen Familienmitglieder zu unterwerfen. Falls sie sich den gesellschaftlichen Normen verweigern, besteht die Gefahr der sozialen Ächtung. Die Entwicklung einer eigenständigen Lebensperspektive ist ihnen ohne familiäre Unterstützung nicht möglich (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte Afghanistan vom 10. Januar 2012, S. 20 ff., und 4. Juni 2013, S. 12 f.; Amnesty International, Jahresbericht Afghanistan 2012, 24. Mai 2012, sowie Jahresbericht Afghanistan 2013, 23. Mai 2013; Schweizerische Flüchtlingshilfe, "Afghanistan: Update: Die aktuelle Sicherheitslage", 3. September 2012, S. 14 f., und "Afghanistan: Situation geschiedener Frauen", 1. November 2011, S. 1 f.; s. auch UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - zusammenfassende Übersetzung, 24. März 2011, S. 7; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 25 ff.).

Vor allem in der Region Herat, aus der auch die Klägerin zu 4) stammt, schränkt ein ausgeprägter traditioneller Verhaltenskodex Frauen und Mädchen in ihrer Bewegungs- und Handlungsfreiheit besonders stark ein. Entsprechend der untergeordneten Stellung der Frauen in Afghanistan ist häusliche Gewalt in Form von Schlägen und Misshandlungen weit verbreitet. Bei etwa 60 % der in Afghanistan geschlossenen Ehen soll es sich um Kinderehen handeln. Unter Zwang sollen bis zu 80 % aller Ehen eingegangen werden. Die Flucht vor einer Zwangsverheiratung kann Auslöser für einen Ehrenmord sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan vom 10. Januar 2012, S. 22; BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 29 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, "Afghanistan: Situation von Waisenmädchen", 24. November 2011, S. 1 f., und "Iran: Zwangsheirat einer afghanischen Minderjährigen", 7. Februar 2013, S. 4). Zufluchtsmöglichkeiten für Frauen, die vor geschlechtsspezifischer Verfolgung wie häuslicher Gewalt oder drohender Zwangs- bzw. Kinderverheiratung fliehen, sind nur beschränkt verfügbar. Überhaupt begrenzt die prekäre Sicherheitslage in Afghanistan vor allem für Frauen und Kinder den Zugang zu sozialen Einrichtungen. Die Mehrheit der Frauen hat zudem kaum Zugang zu Gerichten und juristischer Unterstützung. Frauen, die sich gegen Verletzungen ihrer Rechte wehren, sehen sich Vertretern des Staates gegenüber, die häufig nicht in der Lage oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt sind, diese Rechte zu schützen (vgl. BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 25 ff.).

bb. Entgegen der Auffassung der Beklagten scheitert die Annahme einer drohenden Zwangsverheiratung der Klägerin zu 4) auch nicht daran, dass ihre Eltern mit der beabsichtigten Eheschließung nicht einverstanden waren und die entsprechenden Anwerbungsbemühungen von ... stets zurückgewiesen hatten. Denn für die Frage, ob eine Zwangsheirat vorliegt, ist allein auf den Willen der Frau bzw. des Mädchens abzustellen. So liegt eine Zwangsheirat vor, wenn eine Frau gegen ihren Willen verheiratet und sie mit Druck oder Drohungen dazu gezwungen werden soll (vgl. VG Göttingen, Urteil vom 12. Juni 2012 - 4 A 15/10 -, UA S. 8). Entscheidend ist also allein, dass sich ... die Klägerin zu 4) gegen eine Heirat mit dem Sohn des ... ausgesprochen hatte und durch eine Entführung hierzu gezwungen werden sollte. Ob die Heirat dem Willen ihrer Eltern entsprochen hatte, ist hingegen ohne Belang.

cc. Dies vorausgeschickt und unter Beachtung der dargelegten Erkenntnislage, bestehen seitens der Einzelrichterin keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit des die Klägerin zu 4) betreffenden Vortrags durch ihre Eltern. [...]