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OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 23.09.2013 - 3 Bs 131/13 (= ASYLMAGAZIN 3/2014, S. 89 ff.) - asyl.net: M21252
https://www.asyl.net/rsdb/M21252
Leitsatz:

1. Die Visaerleichterung nach Art. 1 Abs. 2 der EG-Visa-VO für Staatsangehörige der in der Liste in Anhang II aufgeführten Drittländer befreit von der Visumpflicht nach Art. 1 Abs. 1 EG-Visa-VO nur für geplante Aufenthalte bis zu drei Monaten (sofern auch die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind).

2. Plant ein Drittstaatsangehöriger bei der Einreise in das Schengen-Gebiet einen nicht bloß kurzfristigen Aufenthalt und erwirkt er auf diese Weise die visafreie Einreise, so umgeht er die in der Sache gebotene Einreiseverweigerung (Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Schengener Grenzkodex) und nimmt er die Visaerleichterung nach EG-Visa-VO unerlaubt in Anspruch. Er ist dann auch kein "sichtvermerksfreier Drittausländer" im Sinne des Art. 20 Abs. 1 SDÜ, der sich frei im Hoheitsgebiet der Schengen-Staaten bewegen und dabei die Binnen-Staatsgrenzen überschreiten darf. Reist er unter solchen Umständen über einen anderen Schengen-Staat als die Bundesrepublik Deutschland in das Schengen-Gebiet ein und begibt er sich von dort aus in das Bundesgebiet, so ist diese Einreise nicht nach Art. 20 Abs. 1 SDÜ erlaubt.

3. Eine unter Ausnutzung der Visaerleichterungen für Kurzaufenthalte nach der EG-Visa-VO erfolgte Einreise (bzw. Weiterreise) in das Bundesgebiet bei einer von vornherein bestehenden Absicht des Daueraufenthalts ist unerlaubt im Sinne des § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG.

4. Erfüllt eine unerlaubte Einreise den Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG und ist damit ein Ausweisungsgrund i.S. des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG gegeben, liegen die allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht vor. Ob eine Ausnahme von dieser Regel gemacht werden könnte, ist nicht zu prüfen, soweit, wie im Falle des § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. AufenthG, ein strikter Rechtsanspruch vorliegen muss.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Visum, Visaerleichterung, Visumspflicht, Drittstaatsangehörige, visafreie Einreise, Visumsfreiheit, sichtvermerksfreier Drittausländer, unerlaubte Einreise, illegale Einreise, Ausweisungsgrund, nicht nur kurzfristiger Aufenthalt, strikter Rechtsanspruch, Rechtsanspruch, Kurzaufenthalt, EU-Visa-Verordnung, Aufenthalt bis zu drei Monaten,
Normen: VO 539/2001 Art. 1 Abs. 2, SDÜ Art. 20 Abs. 1, AufenthG § 14 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 3, AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 2, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1 1. Alt.,
Auszüge:

[...]

1. Der auf § 80 Abs. 5 VwGO gestützte Hauptantrag (vgl. den Schriftsatz vom 7.3.2013, S. 2) muss, soweit er sich auf die Ablehnung seines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bezieht, schon vom verfahrensrechtlichen Ansatz her ohne Erfolg bleiben. Gegenteiliges ergibt sich nicht aus dem Vortrag des Antragstellers, sein privates Interesse an einem Verbleib im Bundesgebiet "bis zur Klärung in der Hauptsache" überwiege gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer früheren Beendigung seines Aufenthalts. Das gilt schon deshalb, weil die Ablehnung dieses Antrags keine belastende Rechtsfolge ausgelöst hat, die im Sinne des § 80 Abs. 5 VwGO durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs suspendierbar wäre. Der Antragsteller ist nämlich nicht erst mit der Ablehnung seines Antrags auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vollziehbar ausreisepflichtig geworden; vielmehr ist er dies wegen unerlaubter Einreise schon mit seiner Einreise in das Bundesgebiet. Diese Einreise war mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur eine Einreise ohne das für den – nach den erkennbaren Umständen von vornherein beabsichtigten - Zweck des Ehegattennachzugs erforderliche Visum (§ 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Sie war zugleich eine unerlaubte Einreise im Sinne des § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Denn der Antragsteller war bei seiner Einreise nicht im Besitz des für den im Sinne des für beabsichtigten Aufenthaltszweck nach § 14 Abs. 1 Nr. 2, § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, § 6 Abs. 3 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitels in Gestalt eines nationalen Visums. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den unionsrechtlichen Bestimmungen über die visafreie Einreise zu kurzfristigen Besuchsaufenthalten für bestimmte (u. a. für mazedonische) Drittstaatsangehörige (a) oder aus sonstigen Bestimmungen des deutschen Aufenthaltsrechts (b).

a) Die Einreise des Antragstellers im November 2011 ist nicht kraft Anwendungsvorrangs des Unionsrechts doch als erlaubt anzusehen, weil diese Einreise unter Ausnutzung für mazedonische Staatsangehörige geltenden Visaerleichterungen für Kurzaufenthalte im Gebiet der sog. Schengen-Staaten nach Maßgabe der EG-Visa-VO erfolgt ist und der Antragsteller deshalb nach Art. 20 SDÜ die Bundesgrenze ohne Visum hätte passieren dürfen. Denn die Visaerleichterungen nach der EG-Visa-VO gelten (sofern auch die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind), nur für solche Aufenthalte, die die Drittstaatsangehörigen bei ihrer Einreise in das Schengen-Gebiet als derartige (höchstens dreimonatige) Kurzaufenthalte planen. Dementsprechend haben sie auch nur in diesen Fällen das Recht, sich gemäß Art. 20 SDÜ im gesamten Hoheitsgebiet der Schengen-Staaten frei zu bewegen, also auch die jeweiligen Binnen-Staatsgrenzen sichtvermerksfrei zu überschreiten:

Nach Art. 1 Abs. 2 der EG-Visa-VO sind Staatsangehörige der in der Liste in Anhang II aufgeführten Drittländer von der Visumspflicht nach Absatz 1 für einen Aufenthalt, der insgesamt drei Monate nicht überschreitet, befreit. Inhalt und Reichweite dieses Befreiungstatbestands werden nicht allein durch den Wortlaut, sondern vor allem durch den Kontext der Regelung, insbesondere die der Verordnung zugrunde liegende Normierungskompetenz bestimmt. Die Verordnung beruht auf Art. 62 Nr. 2 Bst. b) Ziffer i) des zum 1. Dezember 2009 außer Kraft getretenen Vertrags von Amsterdam zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (vgl. auch den Erwägungsgrund Nr. 1 der EG-Visa-VO). Nach dieser - für die hier vorzunehmende Auslegung nach wie vor maßgeblichen - Ermächtigungsgrundlage kann der Rat die Vorschriften für Visa "für geplante Aufenthalte von bis zu drei Monaten" beschließen. Das Visum ist in Art. 2 EG-Visa-VO als Genehmigung für die Einreise zum Zwecke eines Aufenthalts, der drei Monate nicht überschreitet, definiert. Dieser Wortlaut folgt aus der Begrenztheit der dem Rat hier (früher) zukommenden Regelungskompetenz, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er nur den Einreisevorgang und diesen nur für einen zeitlich begrenzten Aufenthaltszweck umfasst (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 14.9.2011, InfAuslR 2011, 443, juris Rn. 8; VGH Kassel, Beschl. v. 29.9.2003, EzAR 011 Nr. 19, juris Rn. 15).

Dieser begrenzten Reichweite der Visafreiheit entsprechen die Regelungen des Schengener Grenzkodexes (VO (EG) Nr. 562/2006 vom 15.3.2006, ABl. Nr. L 105 S. 1) zum Überschreiten der Außengrenzen und der Einreisevoraussetzungen. Nach Art. 5 Abs. 1 Bst. c) muss der Drittstaatsangehörige den Zweck und die Umstände des beabsichtigten Aufenthalts belegen, und nach Art. 5 Abs. 2 enthält der Anhang I eine nicht abschließende Liste von Belegen, die sich der Grenzschutzbeamte von dem Drittstaatsangehörigen vorlegen lassen kann, um zu prüfen, ob die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe c) erfüllt sind. Zu diesen Belegen gehören bei touristischen oder privaten Reisen etwa Belege betreffend den Reiseverlauf und betreffend die Rückreise (Anhang I, Bst. c) ii) und iii)). Diese Belegpflicht einerseits und diese Prüfungsbefugnis andererseits hinsichtlich des "beabsichtigten" Aufenthalts würden leerlaufen und wären zwecklos, wenn es für die Geltung der Visaerleichterung nicht darauf ankäme, welche Art und Dauer der Aufenthalt nach den Plänen des Drittstaatsangehörigen bei der Einreise in das Gebiet der Schengen-Staaten haben soll.

Plant ein Drittstaatsangehöriger bei der Einreise in das Schengen-Gebiet somit entgegen seinen Angaben gegenüber dem Grenzschutzbeamten einen nicht bloß kurzfristigen Aufenthalt und erwirkt er auf diese Weise die visafreie Einreise, so umgeht er die in der Sache gebotene Einreiseverweigerung (Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Schengener Grenzkodex) und nimmt er die Visaerleichterung nach EG-Visa-VO unerlaubt in Anspruch. Er ist dann auch kein "sichtvermerksfreier Drittausländer" im Sinne des Art. 20 Abs. 1 SDÜ, der sich frei im Hoheitsgebiet der Schengen-Staaten bewegen und dabei die Binnen-Staatsgrenzen überschreiten darf. Reist er unter solchen Umständen über einen anderen Schengen-Staat als die Bundesrepublik Deutschland in das Schengen-Gebiet ein und begibt er sich von dort aus in das Bundesgebiet, so ist diese Einreise nicht nach Art. 20 Abs. 1 SDÜ erlaubt. So liegt es im Fall des Antragstellers, sollte er über einen anderen Schengen-Staat in das Bundesgebiet eingereist sein.

b) Der Unerlaubtheit der Einreise stehen auch keine sonstigen Bestimmungen des deutschen Aufenthaltsrechts entgegen.

aa) Die Aufenthaltsverordnung (AufenthV) nimmt hinsichtlich der Visafreiheit für Kurzaufenthalte in § 15 Bezug auf das Recht der Europäischen Union, insbesondere das SDÜ und die EG-Visa-VO, und kann insoweit auch deshalb nicht zu anderen Ergebnissen führen. Soweit die Aufenthaltsverordnung in § 41 Vergünstigungen für Angehörige bestimmter Staaten (außerhalb der Europäischen Union) normiert, die es deren Angehörigen erlauben, auch für andere Aufenthalte als Kurzaufenthalte visumfrei in das Bundesgebiet einzureisen und einen erforderlichen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einzuholen, wird der Antragsteller dadurch nicht begünstigt, weil Mazedonien nicht zu diesen Staaten gehört. Diese Ausnahmevergünstigungen bestätigen allerdings die ansonsten geltende Regel, dass für die Einreise in das Bundesgebiet zum Zweck eines nicht bloß kurzfristigen Aufenthalts ein Visum erforderlich ist.

bb) Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht aus der Begrifflichkeit und Systematik der Regelungen über die Zurückweisung an der Grenze in § 15 AufenthG. Soweit in § 15 Abs. 1 AufenthG die zwingende Zurückweisung eines Ausländers vorgesehen ist, der unerlaubt einreisen will, und in § 15 Abs. 2 AufenthG mehrere lediglich fakultative Zurückweisungsgründe normiert sind, die teilweise Berührungspunkte zur unerlaubten Einreise aufweisen, ändert dies nichts an der unerlaubten Einreise von Drittstaatsangehörigen, die deshalb missbräuchlich die Visaerleichterung nach der EG-Visa-VO in Anspruch nehmen, weil sie bei der Einreise einen nicht bloß kurzfristigen Aufenthalt beabsichtigen.

Soweit nach § 15 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG der Ausländer an der Grenze zurückgewiesen werden kann, wenn der begründete Verdacht besteht, dass der Aufenthalt nicht dem angegebenen Zweck dient, hat diese Bestimmung gegenüber der in § 15 Abs. 1 AufenthG geregelten zwingenden Zurückweisung bei gewollter unerlaubter Einreise einen eigenen Anwendungsbereich, wenn der beabsichtigte zweckwidrige Aufenthalt nicht feststeht, sondern hierfür lediglich begründete Verdachtsmomente vorliegen (zur entsprechenden Vorgängerbestimmung in § 60 Abs. 2 Nr. 2 AuslG 1990 vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 22.3.1993, Bs VII 18/93, juris Rn. 11).

Soweit nach § 15 Abs. 2 Nr. 2 a AufenthG der Ausländer an der Grenze zurückgewiesen werden kann, wenn er nur über ein Schengen-Visum verfügt oder für einen kurzfristigen Aufenthalt von der Visumpflicht befreit ist und beabsichtigt, entgegen § 4 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eine Erwerbstätigkeit auszuüben, sollte diese mit dem Richtlinien-Umsetzungsgesetz 2007 eingeführte Bestimmung nach der Begründung des betreffenden Gesetzentwurfs im Hinblick auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs (Urt. v. 27.4.2005, BGHSt 50, 105) "klarstellen", dass ein Ausländer auch unter den genannten Voraussetzungen zurückgewiesen werden kann (BT-Drs. 16/5065 vom 23.4.2007, S. 164). Die Regelung betrifft aber ohnehin nicht die hier interessierenden Fälle, in denen sich die Missbräuchlichkeit der Inanspruchnahme der Visaerleichterungen nach EG-Visa-VO gerade aus der von vornherein bestehenden Absicht eines Daueraufenthalts ergibt.

Soweit nach § 15 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG der Ausländer an der Grenze zurückgewiesen werden kann, wenn er die Voraussetzungen für eine Einreise in das Hoheitsgebiet der Schengen-Staaten nach Art. 5 des Schengener Grenzkodexes nicht erfüllt, hat diese Vorschrift jedenfalls in den Fällen, in denen der Drittstaatsangehörige erkennbar über den tatsächlichen Einreisezweck des Daueraufenthalts zu täuschen versucht, keine eigenständige Bedeutung, da dann die Einreise ohnehin zwingend nach der anwendungsvorrangigen Regelung in Art. 13 Abs. 1 des Schengener Grenzkodexes zu verweigern ist (vgl. Funke-Kaiser in: GKAufenthG, Stand: Dezember 2012, § 15 Rn. 54 ff., 91).

cc) Angesichts dessen ist davon auszugehen, dass eine unter Ausnutzung der Visaerleichterungen für Kurzaufenthalte nach der EG-Visa-VO erfolgte Einreise (bzw. Weiterreise) in das Bundesgebiet bei einer von vornherein bestehenden Absicht des Daueraufenthalts unerlaubt im Sinne des §§ 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist (so auch: VGH Mannheim, Beschl. v. 14.9.2011, a. a. O., sowie: VGH Kassel, Beschl. v. 29.9.2003, a.a.O., OVG Hamburg, Beschl. v. 22.3.1993, a. a. O., und Beschl. v. 12.6.1992, EzAR 045 Nr. 3, jeweils zu den entsprechenden Vorgängerregelungen im AuslG 1990 und der DVAuslG 1990; Funke-Kaiser in: GKAufenthG, Stand: Dezember 2012, § 14 Rn. 17; Dienelt in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 14 AufenthG Rn. 14; Westphal/Stoppa, Ausländerrecht für die Polizei, 3. Aufl. 2007, S. 224; Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum AufenthG, Abschn. 14.1.2.1.1.7.1).

Soweit es in der Begründung zum Entwurf des Aufenthaltsgesetzes 2004 zu § 14 Abs. 1 (BT-Drs. 15/420, S. 73) geheißen hat, durch den Verweis in Nummer auf die Erforderlichkeit des Aufenthaltstitels nach § 4 solle klargestellt werden, dass sich die Erforderlichkeit des Aufenthaltstitels nach objektiven Kriterien und nicht nach dem beabsichtigten Aufenthaltszweck bemesse, führt dies hier zu keinem anderen Ergebnis. Diese Begründungspassage ist nicht nachvollziehbar. Der Verweis auf "den" nach § 4 AufenthG "erforderlichen" Aufenthaltstitel spricht gerade für die Maßgeblichkeit des beabsichtigten Aufenthaltszwecks, weil hiervon abhängt, welche Art von Aufenthaltstitel ggf. erforderlich ist (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., § 14 AufenthG Rn. 15). [...]