VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 01.10.2013 - 5 A 147/12 MD - asyl.net: M21226
https://www.asyl.net/rsdb/M21226
Leitsatz:

In Afghanistan gehen bewaffnete regierungsfeindliche Gruppen systematisch und fortwährend gegen Zivilisten vor, welche die afghanische Regierung oder die internationale Gemeinschaft tatsächlich oder vermeintlich unterstützen.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Afghanistan, Taliban, politische Verfolgung, politische Überzeugung, Bedrohung, ausländische Streitkräfte, ISAF, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative, inländische Fluchtalternative, interner Schutz,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 7 Abs. 2, AsylVfG § 27 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Aufgrund der dem Gericht vorliegenden amtlichen Informationen ist der Einzelrichter auch davon überzeugt, dass das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Klägers wegen seiner Tätigkeit als Transportunternehmer durch die Taliban bedroht sind und diese Bedrohung auch an die politische Überzeugung des Klägers anknüpft.

Es gibt ein systematisches und fortwährendes Vorgehen bewaffneter regierungsfeindlicher Gruppen gegen Zivilisten, welche die afghanische Regierung oder die internationale Gemeinschaft tatsächlich oder vermeintlich unterstützen. Die Angriffe, die von Einschüchterungen, Attentaten, Entführungen und Punktzielangriffen bis zur Verwendung von selbst gebauten Sprengkörpern und Selbstmordattentaten reichen, zielen immer mehr auf Zivilisten (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender - Zusammenfassende Übersetzung - Stand: 24.03.2011, S. 3). So erschossen Taliban zuletzt am 18.07.2013 in der Provinz Logar acht afghanische Arbeiter, die für die ISAF tätig waren (Informationszentrum Asyl und Migration, Briefing Notes vom 22.07.2013). Die Zunahme zielgerichteter Angriffe auf Zivilisten kann als Teil von Bestrebungen regierungsfeindlicher Gruppen gesehen werden, Kontrolle über Gebiete und Bevölkerungsgruppen zu erlangen. Die Bevölkerung wird durch Drohungen oder auch durch Anwendung von Gewalt gezwungen, regierungsfeindliche Gruppen zu unterstützen. Diese Einschüchterungstaktik wird verstärkt durch das verminderte allgemeine Vertrauen in die Kapazitäten der afghanischen Regierung und der internationalen Kräfte, die Sicherheit aufrechtzuerhalten oder grundlegende Dienstleistungen anzubieten (UNHCR, a.a.O., S. 4). Laut Angaben der AIHRC (Afghan Independent Human Rights Commission) sind hierbei nicht nur Personen, die für die internationalen Streitkräfte arbeiten würden, ein Ziel der Taliban. Auch ihre Familienmitglieder würden eingeschüchtert (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan vom 07.03.2013: Vergeltungsmaßnahmen gegen Personen, die mit den US-Truppen zusammenarbeiten durch die Taliban; verfügbar auf ecoi.net). Amnesty International wurde der Fall eines älteren Ehepaars bekannt, das von den Taliban enthauptet wurde, da ihr Neffe für eine ausländische Organisation in Kabul arbeitete (vgl. Amnesty International, Auskunft an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 20.12.2010 betreffend die Provinz Logar, S. 3). Auch das Bundesamt geht davon aus, dass afghanische Staatsangehörige und ihre Familien, die für die Regierung oder für ausländische Sicherheitskräfte und Hilfsorganisationen arbeiten, dem Risiko gezielter Übergriffe ausgesetzt sind (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Informationszentrum Asyl und Migration - Afghanistan: Erkenntnisse und Ergebnisse eines Expertenhearings vom 29.04.2010, S. 15).

Der UNHCR hat bereits im Jahr 2010 in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender festgestellt, dass der geistige Taliban-Anführer Mullah Omar in einer abgefangenen Nachricht den Befehl erteilt habe, jegliche Personen, die die Koalitionstruppen oder die afghanische Regierung unterstützen würden, zu töten. In seinen am 06.08.2013 aktualisierten Richtlinien führt der UNHCR aus, dass sich die Natur des Konfliktes seit Beginn des Jahres 2013 aufgrund des voranschreitenden Abzuges der internationalen Truppen verändert habe. Regierungsfeindliche Elemente attackierten in erster Linie afghanische Ziele, statt sich wie bisher auf die internationalen Truppen zu konzentrieren. Zudem seien ein signifikanter Anstieg gezielter Tötungen von Stammesführern sowie eine generelle Einschüchterungskampagne durch regierungsfeindliche Gruppen festzustellen. Die Einschüchterungskampagne ziele darauf ab, die Kontrolle über die Zivilbevölkerung in ländlichen Gegenden zu erlangen. Der innerstaatliche Konflikt betreffe nunmehr fast das ganze Land, einschließlich des Nordens und solcher Provinzen, die bisher als die stabilsten des Landes galten. Zu den gefährdeten Risikogruppen zählten hierbei u.a. auch Geschäftsleute und andere wohlhabende Personen.

In einem Bericht von ACCORD vom 07.03.2013 heißt es gleichlautend, dass die Aufständischen ihre Taktik hin zur absichtlichen gezielten Tötung von Zivilisten verlagert hätten, von denen angenommen werde, dass sie die Regierung oder die internationalen Streitkräfte unterstützen würden (Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Vergeltungsmaßnahmen gegen Personen, die mit den US-Truppen zusammenarbeiten durch die Taliban [a-8290-1], 07.03.2013, verfügbar auf ecoi.net). Der Bericht verweist hierbei auf zahlreiche weitere Quellen, u.a. auf einen im Mai 2012 veröffentlichten Bericht zu einer Fact-Finding-Mission der dänischen Einwanderungsbehörde (Danish Immigration Service, DIS). Danach seien Personen, die Verbindungen zum US-Militär haben oder für dieses arbeiten, gefährdet, zu einem Ziel (der Taliban) zu werden. Es sei nicht von Belang, welche Art der Arbeit ausgeführt werde oder in welcher Position sich die Person befinde. Auch Auftragnehmer sowie Servicepersonal und Fahrer könnten zum Ziel werden. Personen, die für die internationalen Streitkräfte arbeiten würden, würden jedenfalls in ländlichen Gebieten definitiv ein Ziel darstellen. Laut UNHCR seien Personen, von denen angenommen werde, dass sie die NATO unterstützen oder für diese arbeiten, gefährdet, zu einem Ziel der Taliban zu werden. Auch lokale Fahrer, die für Unternehmen arbeiten, die die Stützpunkte beliefern, seien gefährdet.

Die vorstehend beschriebene Bedrohungslage genügt dem Gericht, um von einer Verfolgung des Klägers aufgrund seiner Tätigkeit als Transportunternehmer auszugehen, welcher - jedenfalls in den Augen der regierungsfeindlichen Truppen - seiner politischen Überzeugung zuzurechnen ist. Bei derartigen Unterstützungshandlungen afghanischer Staatsangehöriger für ausländische Streitkräfte handelt es sich aus Sicht der aufständischen Taliban um Angelegenheiten, die gegen ihre eigenen politischen Interessen gerichtet sind. Dass der Kläger nicht selbst Vertragspartner der ausländischen Streitkräfte gewesen ist, sondern lediglich als Subunternehmer tätig wurde, veranlasst keine andere Bewertung. Das Gericht geht davon aus, dass dieser Unterschied für die regierungsfeindlichen Truppen unerheblich ist. Entscheidend ist, dass der Kläger die ausländischen Streitkräfte durch sein Verhalten über mehrere Jahre unterstützt hat. Gestützt wird diese Einschätzung durch die in der mündlichen Verhandlung vernommene Zeugin, die mit Blick auf die Tätigkeit des Klägers ebenfalls von einer akuten Bedrohungslage für den Kläger und dessen Familie ausging.

Die Islamische Republik Afghanistan ist auch erwiesenermaßen nicht in der Lage, Schutz vor der Verfolgung der nichtstaatlichen Akteure zu bieten. Dies wäre dann der Fall, wenn der Staat geeignete Schritte eingeleitet hätte, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung der Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Kläger Zugang zu diesem Schutz hätte (vgl. Art. 7 Abs. 2 QRL). Nach der Auskunftslage sind diese Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt. Eine Schutzfähigkeit des Staates vor Übergriffen Dritter ist im Hinblick auf die Verhältnisse im Herkunftsland des Klägers nicht gegeben. Die größte Bedrohung der Menschenrechte geht von lokalen Machthabern und Kommandeuren aus. Es handelt sich hierbei meist um Anführer von Milizen, die nicht mit staatlichen Befugnissen, aber mit faktischer Macht ausgestattet sind. Die Zentralregierung hat auf viele dieser Menschenrechtsverletzer praktisch keinen Einfluss und kann sie weder kontrollieren noch ihre Taten untersuchen oder verurteilen. Wegen des desolaten Zustands des Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben Menschenrechtsverletzungen daher häufig ohne Sanktionen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan - Lagebericht -, Stand: 04.06.2013, S. 14; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Fähigkeit der Taliban, Personen in Afghanistan aufzuspüren; Schutzfähigkeit des Staates [a-8498-2 (8499)], 14.08.2013, verfügbar auf ecoi.net).

Dem Kläger steht auch keine zumutbare inländische Fluchtalternative zur Verfügung, um bei seiner Rückkehr nach Afghanistan einer Verfolgung durch regierungsfeindlichen Gruppierungen bzw. die Taliban auszuweichen. Auch in Kabul wäre der Kläger, wohin eine Abschiebung des Klägers erfolgen würde, nicht hinreichend vor einer Verfolgung durch die Taliban sicher.

Nach der Berichterstattung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (vgl. Themenpapier "Afghanistan: Schutzfähigkeit der Afghan National Police und Sicherheitssituation in Kabul" vom 20.10.2011, S. 8 f.) zeige eine von Angehörigen regierungsfeindlicher Gruppierungen durchgeführte Reihe spektakulärer Anschläge in Kabul, dass die afghanischen Sicherheitskräfte die Sicherheit nicht alleine gewährleisten könnten und die Lage äußerst prekär sei. Die Taliban hätten demonstriert, dass sie selbst in der Hauptstadt trotz zahlreicher Sicherheitsvorkehrungen bis in das Herz der Kabuler Regierung sowie westlicher Einrichtungen vorzudringen im Stande seien. Daran werde zudem offenbar, dass die afghanischen Sicherheitskräfte stark von Angehörigen der Taliban oder anderer regierungsfeindlicher Gruppierungen unterwandert sind. Für von regierungsfeindlichen Gruppierungen verfolgte Personen bestehe aufgrund der weit verbreiteten Tätigkeitsfelder dieser Gruppierungen keine innerstaatliche Fluchtalternative. Zudem unterhielten zahlreiche mächtige nichtstaatliche Akteure Kontakte zu Beamten lokaler Regierungen oder der Zentralregierung, was de facto dazu führe, dass diese straffrei handeln könnten und ihre Macht auch über ihr eigentliches Einflussgebiet hinausreiche. Die Taliban seien inzwischen auch in der Lage, Personen praktisch überall ausfindig zu machen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Die aktuelle Sicherheitslage, Update vom 03.09.2012, S. 21; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Fähigkeit der Taliban, Personen in Afghanistan aufzuspüren; Schutzfähigkeit des Staates [a-8498-2 (8499)], 14.08.2013, verfügbar auf ecoi.net). Sogar in einer Stadt wie Kabul, die in Viertel eingeteilt sei, wo sich die Menschen zumeist untereinander kennen würden, bleibe eine Verfolgungsgefahr bestehen, da Neuigkeiten über eine Person, die aus einem anderen Landesteil oder dem Ausland zuzieht, potentielle Akteure einer Verfolgung erreichen könne. Gerade für Menschen, die in der Öffentlichkeit stünden, oder bei denen das Risiko vorhanden sei, Ziel von Angriffen Aufständischer zu werden, könne sich die Bedrohung auf das ganze Land beziehen. In Fällen, in denen ein Vergeltungsmoment oder ein Schuldspruch, z.B. durch die Taliban, hinter der Bedrohung stehe, sei es wahrscheinlich, dass die Bedrohung ebenfalls weit verbreitet sei (vgl. UNHCR, Stellungnahme vom 30.11.2009, S. 11). ACCORD gelangt in seinem "ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan & Chronologie für Kabul, letzte Aktualisierung 03.09.2013" zu der Feststellung, dass die Taliban-Zellen mit Sicherheit in Kabul agieren und ihre Netzwerke anscheinend immer stärker werden.

Diese Auskünfte zugrunde gelegt, ist im Hinblick auf den Kläger ein überörtliches Interesse der Taliban, seiner habhaft zu werden, nachvollziehbar und glaubhaft. Allein aufgrund der Tätigkeit des Klägers als selbständiger und finanziell erfolgreicher Transportunternehmer besteht ein nicht nur lokal begrenztes Interesse der Taliban, seiner habhaft zu werden. Dass die Taliban im Jahr 2009 bereits einige seiner Tankfahrzeuge zerstört haben, spricht für eine gesteigerte Aufmerksamkeit der Taliban an der Tätigkeit des Klägers. Das Gericht geht weiter davon aus, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan im geschäftlichen Verkehr - auch in anderen Landesteilen - seine Herkunft und seine Familienzugehörigkeit offenlegen muss. Damit bestünde die Gefahr, dass die Taliban den Aufenthaltsort des Klägers auch in Kabul ausfindig machen könnten. Zudem müsste der Kläger selbst bei einem versteckten Aufenthalt in Kabul nach außen in Erscheinung treten, um dort seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Hierbei würde er irgendwann ebenfalls nach seiner familiären Herkunft befragt, was ebenfalls die Gefahr erhöht, dass die Taliban von seiner früheren Tätigkeit als Transportunternehmer Kenntnis erlangen. Dies hätte zur Überzeugung des Gerichts die konkrete Gefahr von Leib und Leben des Klägers zur Folge.

Ob es dem Kläger als Familienvater einer fünfköpfigen Familie unabhängig von der oben geschilderten Bedrohungslage überhaupt möglich wäre, in Kabul eine ausreichende Lebensgrundlage für sich und seine Familie zu finden (zur aus Art. 6 GG folgenden verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.06.2013 - 2 BvR 586/13 - juris), kann damit dahinstehen.

Schließlich scheitert die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch nicht an der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes. Soweit das Bundesamt im angegriffenen Bescheid davon auszugehen scheint, dass der Kläger jedenfalls mit Blick auf sein Dauervisum im Emirat Dubai hätte Zuflucht finden können, so vermag dieser Einwand den Anspruch des Klägers auf Zuerkennung seiner Flüchtlingseigenschaft nicht zu Fall zu bringen. Die Flüchtlingsanerkennung scheitert weder an § 27 Abs. 1 AsylVfG noch an § 29 Abs. 1 AsylVfG.

Nach § 27 Abs. 1 AsylVfG wird ein Ausländer, der bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung sicher war, nicht als Asylberechtigter anerkannt. Diese Vorschrift betrifft allerdings nach ihrem eindeutigen Wortlaut nur die Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG, nicht aber die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 und 4 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.09.2012 -10 C 13.11 - juris Rn. 14).

Daneben ist ein Asylantrag - und damit auch ein Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 13 Abs. 1 und 2 AsylVfG) - nach § 29 Abs. 1 AsylVfG unbeachtlich, wenn offensichtlich ist, dass der Ausländer bereits in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung sicher war und die Rückführung in diesen Staat oder in einen anderen Staat, in dem er vor politischer Verfolgung sicher ist, möglich ist. Das Asylverfahrensgesetz knüpft dabei an die Offensichtlichkeit, dass der Ausländer in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung sicher war und die Rückführung in diesen oder einen anderen sicheren Drittstaat möglich ist, ausschließlich die Unbeachtlichkeit des Asylantrags mit der verfahrensrechtlichen Folge, dass eine Abschiebungsandrohung in einen sicheren Drittstaat ohne umfassende Sachprüfung des Asylbegehrens ergehen kann. Macht das Bundesamt davon keinen Gebrauch, sondern entscheidet es - wie hier - über das Asylbegehren in der Sache, bleibt für eine materiellrechtlich verstandene Subsidiarität des Flüchtlingsschutzes mit Blick auf die unionsrechtlichen Vorgaben schon deshalb kein Raum (zum Ganzen vgl. BVerwG, Urteil vom 04.09.2012 -10 C 13.11 - juris Rn. 15 und 16). [...]