VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 20.09.2013 - M 21 K 13.30514 - asyl.net: M21220
https://www.asyl.net/rsdb/M21220
Leitsatz:

In Somalia besteht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Es besteht in ganz Somalia ein derart hoher Gefahrengrad, dass jede dort anwesende Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung in diesem Sinne ausgesetzt ist. Dies gilt auch für die von der Zentralregierung überwiegend kontrollierte Hauptstadt Mogadischu.

Schlagwörter: innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Somalia, Ärzte ohne Grenzen, Mogadischu, Mogadishu, Al Shabaab, Al Shabab, Rückkehrgefährdung, Bürgerkrieg,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, RL 2011/95/EU Art. 15 Bst. c, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

a) In Somalia besteht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Typische Beispiele für die Annahme eines bewaffneten Konflikts in diesem Sinne sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe. Auch kann es bei einer Gesamtwürdigung der Umstände genügen, dass die Konfliktparteien in der Lage sind, anhaltende und koordinierte Kampfhandlungen von solcher Intensität und Dauerhaftigkeit durchzuführen, dass die Zivilbevölkerung davon typischerweise erheblich in Mitleidenschaft gezogen wird (BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360).

Somalia ist spätestens seit Beginn des Bürgerkriegs 1991 ohne effektive Staatsgewalt. Im Herbst 2012 wurde die auf der Grundlage der Übergangsverfassung von 2004 amtierende Übergangsregierung durch eine neue Regierung unter dem Akademiker Hassan Sheikh Mohamud als Präsidenten und dem Geschäftsmann Abdi Farah Shirdon als Premierminister abgelöst; eine neue Übergangsverfassung wurde ebenfalls verabschiedet. Auch der neuen Regierung ist es nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes bislang nicht gelungen, über weite Teile des Landes außerhalb der Hauptstadt Mogadischu effektive Kontrolle zu erlangen. Zwar hat die Mission der afrikanischen Union AMISOM einige größere Städte im Süden des Landes befreit. Dennoch herrschen in großen Teilen Süd- und Zentralsomalias auch weiterhin Zustände, die im Hinblick auf die Einhaltung der Menschenrechte und die humanitäre Lage desaströs sind. Von dem weiter andauernden Bürgerkrieg sind nur die westlichen etwa zwei Drittel von Somaliland und Teile von Puntland ausgenommen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12.6.2013, Ziffern I.1.1 und II. 3.1).

b) Weiter wäre der Kläger im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsland einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG und Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95/EU ausgesetzt.

Eine entsprechende Gefahr kann sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch aus einer allgemeinen Gefahr für eine Vielzahl von Zivilpersonen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ergeben, wenn sich die Gefahr in der Person des betreffenden Ausländers verdichtet. Eine solche Verdichtung bzw. Individualisierung kann sich zum einen aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann zum anderen ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (BVerwG, U.v. 14.7.2009 - 10 C 9.08 - BVerwGE 134, 188). Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist dabei der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr, in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird (BVerwG, Urteil v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - InfAuslR 2013, 241). Soweit sich eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr ausnahmsweise aus dem hohen Gefahrengrad für jede sich in dem betreffenden Gebiet aufhaltende Zivilperson ergibt, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich. Für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte bedarf es neben der quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos einer wertenden Gesamtbetrachtung, die auch die medizinische Versorgungslage würdigt. Der bei Bewertung der entsprechenden Gefahren anzulegende Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei der Prüfung der tatsächlichen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK (BVerwG, Urteil v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 - NVwZ 2012, 454).

Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass in ganz Somalia ein derart hoher Gefahrengrad besteht, dass jede dort anwesende Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung in diesem Sinne ausgesetzt ist. Dies gilt auch für die von der Zentralregierung überwiegend kontrollierte Hauptstadt Mogadischu.

Nach Angaben des Auswärtigen Amtes sind nach übereinstimmenden Schätzungen diverser VN-Organisationen und internationaler Nichtregierungsorganisationen im somalischen Bürgerkrieg 2007 bis 2011 über 20.000 Zivilisten zu Tode gekommen, davon der größte Teil in Süd- und Zentralsomalia. Im Jahr 2012 seien allein in Mogadischu mindestens 160 Zivilisten getötet worden. Außerdem habe es mindestens 6.700 Verletzte durch Kampfhandlungen gegeben (vgl. Lagebericht v. 12.6.2013, Ziffer I 1.1). Angesichts der für Mogadischu anzunehmenden Bevölkerung von rund 1,35 Millionen (vgl. Eintrag in "The World Factbook", Stand 2009, abzurufen über das Internet) handelt es sich dabei um eine beachtliche Wahrscheinlichkeit im Sinne von Art. 15 Buchst. c der Richtlinie 2011/95/EU und von Art. 3 EMRK. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die medizinische Versorgung im gesamten Land äußerst mangelhaft ist. Erhebliche Teile der Bevölkerung haben keinen Zugang zu trinkbarem Wasser oder zu hinreichenden sanitären Einrichtungen. Die öffentlichen Krankenhäuser sind mangelhaft ausgestattet und werden in ihrer Arbeit durch die unzureichende Sicherheitslage behindert (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12.6.2013, Ziffer IV. 1.2). Die medizinische Versorgung dürfte sich in letzter Zeit weiter verschlechtert haben, z.B. durch den Rückzug von "Ärzte ohne Grenzen" aus Sicherheitsgründen. Die Organisation hatte zuletzt mit etwa 1.500 Mitarbeitern Hunderttausende Kranke und Verletzte versorgt (vgl. Zeit Online vom 14.8.2013 - "Ärzte ohne Grenzen gibt Somalia auf"). Demnach kann nicht davon ausgegangen werden, dass schwerverletzte Personen in Somalia einschließlich Mogadischu eine ausreichende medizinische Versorgung erhalten können.

Diese Einschätzung der Gefahrenlage in Somalia und insbesondere in Mogadischu entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. U.v. 28.6.2011 - 8319/07, Sufi u. Elmi - Vereinigtes Königreich - NVwZ 2012, 681). Danach herrscht in Mogadischu in einem Ausmaß Gewalt, dass grundsätzlich jedermann in der Stadt tatsächlich einer Gefahr im Sinne einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt ist. Die Gefahrenlage hat sich in Somalia im Allgemeinen und in Mogadischu im Besonderen seit dem Zeitpunkt der vorgenannten Gerichtsentscheidung, d.h. seit dem Sommer 2011 verschlechtert. So wurden von Armed Conflict Location and Event Dataset (ACLED) für das Jahr 2012 insgesamt 3323 Todesopfer der Konflikte in Somalia erfasst. Das International Institute for Strategic Studies, Armed Conflict Database (IISS ACD) hat für 2012 2151 Todesopfer ermittelt (gegenüber 1950 in 2011). Diese Quelle hat angemerkt, dass die wirkliche Zahl für 2012 wahrscheinlich deutlich höher liegen dürfte (vgl. UK Border Agency, Länderbericht zu Somalia vom 5.8.2013, Nr. 1.11, S. 12). Auch aus dem Länderbericht von ACLED zu Somalia vom April 2013 ergibt sich, dass sich die Zahl der seit Anfang 2011 für Somalia gemeldeten Vorfälle von einem Tiefpunkt im Januar 2011 monatlich von ca. unter 10 bis auf rund 200 im April 2013 erhöht hat. Die Zahl der berichteten Todesfälle ist in 2012 und im Frühjahr 2013 gegenüber der Lage in 2011 deutlich höher gewesen. Während sich die monatlichen Opferzahlen in 2011 überwiegend - mit Ausnahme des Oktober 2011 - unter 200 bewegten, lagen sie ab April 2012 deutlich über 200 bzw. teilweise auch über 300 Personen. Auch in Mogadischu und der Region Banaadir ist die Zahl der von ACLED erfassten Vorfälle und zivilen Opfer auf hohem Niveau geblieben, wenn auch eine Abnahme gegenüber den Zahlen für 2010 festzustellen ist. Allerdings geht das Gericht gerade auch für die Lage in Mogadischu von einer erheblichen Dunkelziffer von Vorfällen und verletzten und getöteten Zivilisten aus. In den vergangenen Jahren wurden vor allem die Opfer von Kampfhandlungen zwischen Regierungstruppen und Al Shabab bewertet. ACLED geht davon aus, dass die Zahl der Al Shabab zuzurechnenden Gewaltakte unterschätzt wird. Nach Einschätzung z.B. von ACLED bleibt zum einen Al Shabab zwar ein wichtiger Akteur im Hinblick auf Gewaltakte im Rahmen einer Guerillataktik in der Hauptstadt Mogadischu. Daneben hat sich aber ein sehr hohes Niveau von Gewalt entwickelt, das von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen ausgeht (vgl. Länderbericht vom April 2013, S. 4). Die diffuse Natur dieser Gewaltakte und die schwere Zuordnung militanter Gruppen zu Organisationen erschwert die Erfassung von Opferzahlen, die den bewaffneten Auseinandersetzungen zuzuordnen sind, erheblich.

Die Sicherheitslage in Mogadischu und der umliegenden Region hat sich auch seit Anfang 2013 nach den vorliegenden Informationen gegenüber 2012 verschlechtert. Die Zahl der von ACLED gemeldeten Vorfälle in Mogadischu und in der Region Banaadir seit Dezember 2012 ist auf einem Niveau von 10 bis 15 Vorfällen pro Monat geblieben; die Zahl der Opfer weist seit Jahresanfang wieder eine deutlich steigende Tendenz auf. Der Bericht von Landinfo Norwegen und der dänischen Immigrationsbehörde vom Mai 2013 zur Sicherheit und zum Schutz in Mogadischu und Süd-/Zentralsomalia spricht davon, dass die Situation in Mogadischu nicht stabil ist und dass von Januar bis April 2013 die Zahl der von Al Shabab vorgenommenen Tötungen und Angriffe in Mogadischu zugenommen hat (vgl. S. 20 unten im vorgenannten Bericht). Hinzu kommt, dass die in dem Berichtszeitraum vom 16. April bis 7. Mai 2013 durchgeführten Interviews ersichtlich noch keine genauere Bewertung z.B. der am 14. April und 5. Mai 2013 in Mogadischu von Al Shabab durchgeführten, schweren Anschläge beinhalten konnten. Die dortigen Angaben über diese Anschläge sind lediglich als Annex zu den grundsätzlichen Ausführungen zu angeblichen Verbesserungen der Sicherheitssituation in Mogadischu seit Oktober 2012 (vgl. Ziffer 1.6 des Berichts, S. 18 bis 22) ergänzt worden. Bei dem Anschlag vom 14. April 2013 sind 34 Zivilisten und ein halbes Dutzend Angreifer ums Leben gekommen (vgl. NZZ vom 17.4.2013 - "Somalias Terroristen schlüpfen aus ihren Löchern"). Es handelte sich um den Vorfall mit den meisten Todesopfern in Mogadischu im Jahr 2013 und den schwersten Terroranschlag seit Vertreibung der Al Shabab aus Mogadischu. Bei dem Selbstmordanschlag am 5. Mai 2013 wurden über 10 Personen getötet (vgl. Bericht des Generalsekretärs der VN an den Sicherheitsrat vom 31.5.2013, Nr. 11). Bei einem weiteren schweren Selbstmordattentat von Al Shabab am 19. Juni 2013 auf ein Gebäude des VN-Entwicklungsprogramms in Mogadischu wurden mindestens 18 Menschen getötet (Meldung von DW vom 19.6.2013 - "Keine Stabilität für Somalia"). Insgesamt hat die Zahl von Bombenanschlägen in 2013 gegenüber 2012 zugenommen (vgl. Bericht des Generalsekretärs der VN an den Sicherheitsrat vom 31.5.2013). Dass Al Shabab relativ leicht prominente und theoretisch gut bewachte Ziele in der Hauptstadt angreifen kann stellt nach Einschätzung von Beobachtern eine schwerwiegende Besorgnis für die Regierung dar und schwächt ihre Hoffnungen für eine schnelle Rückkehr zu "Normalität" in Somalia (vgl. Länderbericht der UK Border Agency zu Somalia vom 5.8.2013, dort Ziffer 1.28, S. 23).

Weiter ist der Kläger auch aufgrund gefahrerhöhender Umstände in seiner Person einer individuellen Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ausgesetzt.

Zwar hat in jüngster Zeit, insbesondere nach der Vertreibung der radikal-islamistischen Opposition aus Mogadischu und anderen Städten in Südsomalia, die Zahl der Rückkehrer zugenommen. Die Mehrzahl der Somalier, die aus der Diaspora nach Mogadischu zurückkehren, dürfte allerdings vermögend sein und für sich die Möglichkeiten für Geschäfte, politischen Einfluss sowie Posten sehen. Es wird berichtet, dass es extrem schwierig sei, nach Mogadischu zurückzukehren, wenn man bei der Rückkehr niemanden habe, von dem man Unterstützung erhalten kann. Die zurückkehrenden Personen werden als Konkurrenten im Hinblick auf Arbeitsmöglichkeiten und den durch Rückkehrer bedingten Anstieg der Waren- und Grundstückspreise angesehen. Die Sicherheitslage ist in Mogadischu für Flüchtlinge schlechter als für bessergestellte Teile der Bevölkerung. Es kommt offensichtlich u.a. zu Übergriffen auf Rückkehrer durch Angehörige der ortsansässigen Bevölkerung. Rückkehrer sind auch insoweit nicht willkommen, als einige jugendliche Rückkehrer früher an Al Shabab-Attacken in Mogadischu teilgenommen haben (Bericht von Landinfo und dänischer Immigrationsbehörde vom Mai 2013, Ziffern 7.2 und 7.3, S. 51 ff.). Die Lebensbedingungen für Rückkehrer, die nicht über familiäre oder andere soziale Bindungen verfügen, sind nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes extrem schwierig (vgl. Lagebericht vom 12.6.2013, Ziffer IV.1.1., S. 18).

Nach Angaben des Auswärtigen Amtes besteht die größte Gefahr für Rückkehrer in lokalen, clanbezogenen Rivalitäten, gegebenenfalls auch in Übergriffen radikal-islamistischer Gruppen. Rückkehrer seien, u.a. in Abhängigkeit von ihrer Clanzugehörigkeit, einer im Einzelfall schwer einzuschätzenden, möglicherweise sogar lebensbedrohlichen Gefahr ausgesetzt (vgl. Lagebericht vom 12.6.2013, Ziffer IV. 1.). [...]