VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 29.08.2013 - 18a K 2015/11.A - asyl.net: M21190
https://www.asyl.net/rsdb/M21190
Leitsatz:

Die irakische Zentralregierung verfügt über ein allenfalls in Ansätzen funktionierendes Justiz- und Sicherheitswesen; eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt. Die zentralirakischen Sicherheitsbehörden sind vielerorts nicht in der Lage und auch nicht willens, für Recht und Ordnung zu sorgen. Deshalb laufen insbesondere Angehörige von Minderheiten Gefahr, diskriminiert, vertrieben oder sogar ermordet zu werden.

Schlagwörter: Zentralirak, Ninive, Schutzbereitschaft, Schutzwillen, Minderheiten, religiöse Minderheit, Yeziden, Tamin, Kirkuk, Mosul, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

b) Beim Kläger sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt. Das Gericht kann nach Prüfung des individuellen Vorbringens des Klägers zu seinen Ausreisegründen im gerichtlichen Verfahren die Überzeugung gewinnen, dass er seinen Herkunftsstaat vorverfolgt verlassen und deshalb oder bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsschutzrelevante Maßnahmen zu erwarten hat.

aa) Zur Sicherheitssituation im Zentralirak und der Provinz Ninive, aus welcher der Kläger stammt, ist im Streitfall Folgendes relevant:

Die zentralirakischen Sicherheitsbehörden, und damit die zentralirakische Regierung, sind bzw. ist vielerorts nicht in der Lage und ggf. sogar nicht willens, allgemein für Recht und Ordnung zu sorgen. Deshalb laufen insbesondere Angehörige von (religiösen) Minderheiten sowie bestimmter gesellschaftlicher Gruppen oder Berufsträger - wozu auch frühere und aktuelle Beschäftigte der Sicherheitsbehörden (Polizei, Justiz, Armee und als sogen. Kollaborateure betrachtete Personen) zählen - Gefahr, diskriminiert, vertrieben oder sogar ermordet zu werden; entsprechende Täter sind meist nur schwer zu fassen und brauchen deshalb nur selten mit Strafe zu rechnen (vgl. AA, Lagebericht vom 28. November 2010, S. 22, II. sic. 2. und 2.1; Lagebericht vom 26. März 2012, Seite 21, II. sic. 2 und 2.1., und Lagebericht vom 17. Januar 2013, S. 15 ff., sic. II 2.1.1, 2.1.2 und 2.2).

Die irakische Zentralregierung verfügt über allenfalls ein in Ansätzen funktionierendes Justiz- wie auch Sicherheitswesen; eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt (vgl. AA, Lagebericht vom 28. November 2010, Seite 18, sic. II. 1.4; Lagebericht vom 26. März 2012, Seite 18, sic. II. 1.4. und Lagebericht vom 17. Januar 2013, Seite 12, sic. II.1.4.).

Die prekäre Menschenrechtslage sowie das massive Sicherheitsdefizit bestehen grundsätzlich in allen Teilen des Zentral- und Südiraks. Vgl. AA, Lagebericht vom 28. November 2010, Seite 28 (sic. II. 3.; Lagebericht vom 26. März 2012, Seite 25., sic. II. 3. und Lagebericht vom 17. Januar 2013, Seite 20, sic. II. 3.).

Die allgemein schlechte Sicherheitslage im Zentral-Irak ist besonders in den Provinzen Ninive mit der Hauptstadt Mossul, der Provinz Tamin mit der Hauptstadt Kirkuk sowie der Provinzen Anbar und Diyala prekär. Gleiches gilt für den Raum Bagdad. In der Region Kurdistan-Irak sowie im Süden des Irak ist die Sicherheitslage demgegenüber deutlich besser als in Bagdad und dem übrigen Irak; Anschläge sind dort viel seltener (vgl. AA, Lagebericht vom 28. November 2010, Seite 14 f., sic. L; Lagebericht vom 26. März 2012, Seite 15, sic. I. und Lagebericht vom 17. Januar 2013, Seite 10, sic. I. 3.).

Die Terroristen, die den Irak (sicherheits-)politisch zu destabilisieren versuchen, sind als verschiedene, im Einzelnen nicht jeweils genau auszumachende Gruppierungen - mit den Hauptströmungen eines islamistischen Hintergrunds, arabisch-nationalen Kräften, schiitischer Milizen und kurdischen Paschmerga - insbesondere im Raum Bagdad sowie den Provinzen Anbar, Ninive - und damit auch gerade in der Herkunftsprovinz des Klägers - und Diyala aktiv (vgl. AA, Lagebericht vom 28. November 2010, Seite 11 f., sic. II. 5.; Lagebericht vom 26. März 2012, Seite 10 f., sic. II. 6. und Lagebericht vom 17. Januar 2013, Seite 10 f., sic. I. 6.1. bis 6.4.), aus der der Kläger (Subdistrikt Sheikan in der Provinz Ninive) stammt. Nach der allgemein bekannten internationalen Presseberichterstattung haben gerade in den zuvor genannten Provinzen bzw. Ballungszentren im Jahr 2013 die Anschläge zugenommen, nicht aber in den davon zu unterscheidenden ländlicheren Gebieten. Ferner geht das Gericht davon aus, dass mit der gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung auch einzelne Privatleute Verfolgungsakteure im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG, gegen die der zentralirakische Staat landesweit keinen Schutz gewähren kann. Die Behörden sind vielerorts nicht in der Lage und zum Teil nicht willens, für Recht und Ordnung zu sorgen. Auch deshalb laufen Angehörige von (religiösen) Minderheiten sowie bestimmter gesellschaftlicher Gruppen oder Berufsgruppen Gefahr, diskriminiert, vertrieben oder gar ermordet zu werden; die Täter sind nur meist schwer zu fassen und müssen oftmals nicht mit Bestrafung rechnen (vgl. AA, Lagebericht vom 26. März 2012, Seite 21. sic. II. 2, und Lagebericht vom 17. Januar 2013, Seite 15, sic. II. 2).