VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Beschluss vom 05.09.2013 - AN 11 E 13.30587 - asyl.net: M21155
https://www.asyl.net/rsdb/M21155
Leitsatz:

Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung trotz Versäumens der Wiederaufnahmefrist im Asylfolgeverfahren, da bei bekannt gewordenen homosexuellen Handlungen unmenschliche und erniedrigende Behandlung sowohl durch den afghanischen Staat als auch durch nichtstaatliche Akteure droht.

Schlagwörter: Afghanistan, homosexuell, Asylfolgeantrag, Wiederaufnahmegründe, Wiederaufgreifen, Wiederaufnahme des Verfahrens, Homosexualität,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, VwVfG § 51 Abs. 1-3
Auszüge:

[...]

Es liegen hier aber hinsichtlich des vorrangig zu prüfenden Abschiebungsverbots des § 60 Abs. 2 bzw. des nachrangig zu prüfenden Abschiebungsverbots des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen im weiteren Sinne vor. Auch in den von § 51 (Abs. 1 bis 3) VwVfG nicht erfassten Fällen ist ein Wiederaufgreifen zwar grundsätzlich zulässig, steht jedoch im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde (BVerwG, B.v. 22.10.1984 – 8 B 56/84 – juris). Dies folgt aus § 51 Abs. 5 VwVfG und gilt auch für das - hier begehrte - (isolierte) Wiederaufgreifen hinsichtlich einer früheren (negativen) Feststellung zu § 60 Abs. 2 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG (BVerwG a.a.O. zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG). Danach bleiben die Vorschriften des § 48 Abs. 1 Satz 1 und des § 49 Abs. 1 VwVfG unberührt. Die Rechte aus § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG und aus §§ 48 ff. VwVfG stehen daher selbstständig und unabhängig nebeneinander (Kopp/ Ramsauer § 51 VwVfG Rn. 6 und 50; König/Meins Art. 51 BayVwVfG Rn. 48). Das formell subjektiv-öffentliche Recht auf fehlerfreie Ermessensentscheidung hinsichtlich der Rücknahme oder des Widerrufs eines Verwaltungsakts unterliegt der Ermessenskontrolle nach § 40 VwVfG und soll nach § 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG begründet werden (Kopp/ Ramsauer § 48 VwVfG Rn. 53). Bei ihrer Ermessensentscheidung hat die Behörde die Gründe der Rechtssicherheit, die für die Aufrechterhaltung des bestandskräftigen Bescheids sprechen, gegen die Gründe der materiellen Einzelfallgerechtigkeit, die für seine Aufhebung streiten, wobei beide Prinzipien grundsätzlich gleichwertig sind, sofern sich aus dem materiellen Recht keine andere Wertung ergibt (BVerwG, U.v. 30.1.1974 – VIII C 20.72 – juris) gegeneinander und untereinander abzuwägen. Die Behörde hat dabei die maßgebenden Ermessenserwägungen hinreichend darzulegen, wobei sie die Besonderheiten des Einzelfalls sowie die Eigenarten gerade dieses Ausgangsverfahrens in Rechnung stellen muss (König/Meins Art. 51 BayVwVfG Rn. 49). Dabei kommt es vor allem auf die Schwere und Offensichtlichkeit des Rechtsverstoßes, die Zumutbarkeit der durch den Verwaltungsakt eingetretenen Situation und die Umstände an, warum keine Rechtsbehelfe gegen den Erstbescheid ergriffen wurden (Kopp/Ramsauer § 48 VwVfG Rn. 55). Es ist daher in der Regel nicht ermessensfehlerhaft, wenn die Behörde in den von § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG erfassten Fällen die Eröffnung eines Verfahrens nach §§ 48, 49 VwVfG von Amts wegen unter Hinweis auf die Möglichkeit der Antragstellung nach § 51 VwVfG bzw. die Rücknahme oder den Widerruf mit der Begründung ablehnt, dass der Betroffene von dieser Möglichkeit nicht rechtzeitig Gebrauch gemacht hat (Kopp/Ramsauer § 51 VwVfG Rn. 6 und 51). Dann kann sich das Gericht grundsätzlich auch nicht - etwa im Wege einer Durchentscheidung - an die Stelle der Behörde setzen und über den Ermessensanspruch sachlich entscheiden. Bei besonders gelagerten Sachverhalten kann sich aber das genannte Ermessen "auf Null" verengen, sodass es ausnahmsweise (so auch hier) zu einem Anspruch auf Wiederaufgreifen kommen kann. Dies ist dann anzunehmen, wenn die Aufrechterhaltung des Erstbescheids schlechthin unerträglich wäre, der Erstbescheid über seine Rechtswidrigkeit hinaus offensichtlich fehlerhaft wäre oder Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit des Erstbescheids als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (BVerwG a.a.O.; Kopp/Ramsauer §§ 48 VwVfG Rn. 56 und 51 VwVfG Rn. 7; König/Meins Art. 51 BayVwVfG Rn. 49). In diesem Zusammenhang kann ein derartiger Fall vor allem dann vorliegen, wenn die bei der Interpretation von Abschiebungsverboten zu beachtenden Ausstrahlungen des Grundrechts aus Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 2 GG (BVerfG, B.v. 3.4.1992 – 2 BvR 1837/91 – juris zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) dazu führen können, dass von einer Abschiebung in das Heimatland abgesehen wird. Bei einer derartigen extremen Gefahr liegt eine Ermessensreduzierung auf Null vor (BVerwG a.a.O.). In diesem Zusammenhang ist maßgeblich auf die einschlägige materielle Rechtslage abzustellen (Kopp/Ramsauer § 51 VwVfG Rn. 18 und 20 m.w.N.), hier auf § 60 Abs. 2 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Nach der erstgenannten Vorschrift in der durch Art. 1 Nr. 48 b) des Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19. August 2007 geänderten Fassung, der die Vorgaben von Art. 15 b der QRL aufnimmt (BT-Drs. 16/5065 S. 186; BVerwG a.a.O.), darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Da der Wortlaut dieser Vorschrift dem Art. 3 EMRK vollständig und dem früheren § 53 Abs. 1 AuslG teilweise entspricht, kann zur Auslegung grundsätzlich auf die diesbezügliche Rechtsprechung, insbesondere auch des EGMR (Hailbronner § 60 AufenthG Rn. 107, BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris) und auf die Literatur verwiesen werden. Für die Feststellung dieses Abschiebungsverbots gelten nach § 60 Abs. 11 AufenthG die Art. 4 Abs. 4, Art. 5 Abs. 1 und 2 und Art. 6 bis 8 QRL. Damit werden die dortigen Bestimmungen über den Vorverfolgungsmaßstab, Nachfluchtgründe, Verfolgungs- und Schutzakteure und internen Schutz auch auf dieses Abschiebungsverbot für anwendbar erklärt (BT-Drs. a.a.O.). Es müssen konkrete Anhaltspunkte oder stichhaltige Gründe dafür glaubhaft gemacht werden, dass der Ausländer im Fall seiner Abschiebung einem echten Risiko oder einer ernsthaften Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre (Hailbronner § 60 AufenthG Rn. 108). Auch sind unzureichende Lebensbedingungen, eine mangelhafte medizinische Versorgung oder eine allgemeine Gewaltsituation wie Bürgerkriegssituationen, innere Unruhen und bewaffnete Konflikte im Heimatland des Ausländers nur bei exzeptionellen Umständen relevant (Hailbronner § 60 AufenthG Rn. 119 ff., BVerwG a.a.O.).

Einer solchen erniedrigenden Behandlung durch den afghanischen Staat, traditionsbewusste Mitbürger oder auch seine eigene Familie kann der Antragsteller im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan entsprechend der Auskunftslage wegen seiner glaubhaft gemachten Homosexualität mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sein, wenn diese jenen bekannt wird.

Der Kläger müsste nach der Auskunftslage wegen seiner glaubhaft gemachten homosexuellen Handlungen bei einer Rückkehr nach Afghanistan im Fall ihres Bekanntwerdens mit Verfolgung rechnen, ohne dass er Schutz vom afghanischen Staat erhalten könnte oder ohne dass ihm eine interne Fluchtmöglichkeit zur Verfügung stünde. Homosexuelle stellen in Afghanistan auch eine bestimmte soziale Gruppe dar, weil sie als solche ausgegrenzt, von Staat und Gesellschaft geächtet und im Rechtssinn verfolgt werden. Über die staatliche bzw. nichtstaatliche Behandlung Homosexueller berichten die Auskunftsstellen weitgehend übereinstimmend. Nach der ständigen Lageberichterstattung des AA, zuletzt vom 4. Juni 2013, werden Formen homosexuellen Lebens von der Gesellschaft abgelehnt. Sexualpraktiken, die üblicherweise mit Homosexualität in Verbindung gebracht werden, seien mit langjähriger Haftstrafe sanktioniert. Neben der sozialen Ächtung verstärkten Bestimmungen und die Auslegung der Scharia mit Androhungen von Strafen bis hin zur Todesstrafe den Druck auf die Betroffenen. Eine systematische Verfolgung durch staatliche Organe sei nicht festzustellen, was auch an der vollkommenen Tabuisierung des Themas liegen könne. Über die Durchführung von Strafverfahren wegen homosexueller Handlungen lägen keine Erkenntnisse vor. Nach der SFH, Update vom 3 September 2012 müssten Homosexuelle mit Verfolgung durch die eigene Familie, Gemeindemitglieder und regierungsfeindliche Gruppierungen rechnen. Nach den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 14. März 2011 verstießen Homosexuelle gegen die Scharia und seien daher der Gefahr ausgesetzt, Opfer von sozialer Ausgrenzung und Gewalt durch Familien- und Gemeinschaftsangehörige sowie durch die Taliban zu werden. Bei Auswertung und Würdigung dieser Auskunftslage kann wegen der weitgehenden Tabuisierung des Themas eine relevante staatliche und nichtstaatliche Verfolgungsgefahr allenfalls dann nicht angenommen werden, wenn die behauptete Homosexualität im staatlichen und gesellschaftlichen Bereich nicht bekannt geworden ist, insbesondere nicht zu entsprechenden Maßnahmen geführt hat. Eine Verfolgungsgefahr besteht jedenfalls bei einem beachtlich wahrscheinlichen Bekanntwerden der Homosexualität (VG Meiningen, U.v. 7.1.2013 – 8 K 20272/11 Me). Derartiges kann hier bei der im Eilverfahren gebotenen Prüfung nicht ausgeschlossen werden.

Nichts anderes ergäbe sich, wenn auf das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgestellt würde. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll - also im Sinne intendierten Ermessens - von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Insoweit kann auf die Rechtsprechung zum bisherigen § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zurückgegriffen werden, da in dieser Vorschrift wie bisher Gefahren umfasst sind, die nicht bereits in den Regelungsbereich der vorhergehenden Absätze dieser Vorschrift fallen, wie beispielsweise allgemeine Notlagen im Zielstaat (BT/Drs. a.a.O. S. 187). Nach Satz 3 sind aber Gefahren nach dem Satz 1, also außerhalb bewaffneter Konflikte, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, aber (nur) bei Anordnungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen, wozu insbesondere auch Gefahren durch eine unzureichende Versorgungslage oder eine schwierige Existenzlage bei Rückkehr zählen (BVerwG, U.v. 29.6.2010 a.a.O.). Danach kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von sonstigen Ausländergruppen allgemein oder in einzelne Zielländer für längstens sechs Monate ausgesetzt wird. Mit dieser Regelung soll nach dem Willen des Gesetzgebers erreicht werden, dass dann, wenn eine bestimmte Gefahr der ganzen Bevölkerung oder einer im Abschiebezielstaat lebenden Bevölkerungsgruppe gleichermaßen droht, über deren Aufnahme oder Nichtaufnahme nicht im Einzelfall durch das Bundesamt und eine Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde, sondern für die ganze Gruppe der potentiell Betroffenen einheitlich durch eine politische Leitentscheidung des Innenministeriums befunden wird. Diese Rechtslage ist in diesem Zusammenhang heranzuziehen (BVerwG a.a.O.), da § 60 Abs. 11 AufenthG eben nicht auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verweist und gemeinschaftsrechtlich hierauf auch nicht verweisen muss, so dass auch die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 15 c QRL sowie zu Art. 4 Abs. 4 QRL nicht anwendbar ist. Schutz vor Abschiebung darf aber bundesrechtlich in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise dann (nur) gewährt werden, wenn der Ausländer in seinem Heimatstaat einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Fall seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwerster Verletzungen ausgeliefert wäre (BVerwG, U.v. 8.12.1998 – 9 C 4/98 – juris und U.v. 12.7.2001 – 1 C 2/01 – juris). Eine solche extreme allgemeine Gefahrenlage wird dahin umschrieben, dass eine Abschiebung in diesem Fall bedeute, den Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen auszuliefern. Damit sind nicht nur Art und Intensität der drohenden Rechtsgutverletzungen, sondern auch die Unmittelbarkeit der Gefahr und ihr hoher Wahrscheinlichkeitsgrad angesprochen. Diese Gefahren müssen alsbald nach Rückkehr in die Heimat drohen, wenn auch nicht schon am Tag der Ankunft dort (BVerwG a.a.O.). Die Rückkehr in den Heimatstaat muss für den Ausländer verfassungsrechtlich unzumutbar sein (BVerwG, U.v. 29.6.2010 a.a.O.). Die so beschriebene Gefahr muss auch landesweit drohen (BVerwG, U.v. 15.4.1997 a.a.O.). Sichere Landesteile müssen ohne extreme Gefahren erreichbar sein (BVerwG, U.v. 2.9.1997 a.a.O.). Weiter bezieht sich § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wie schon die Vorgängervorschrift und die Regelung in § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG insgesamt auf zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse und nicht auf inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse. Erstere ergeben sich der Sache nach nämlich aus der Unzumutbarkeit des Aufenthalts des Ausländers im Zielland und sind damit in Gefahren begründet, die im Zielstaat der Abschiebung drohen.

Nach diesen Grundsätzen können bei Auswertung und Würdigung der vorgenannten Auskunftslage zum Umgang mit Homosexuellen in Afghanistan nach Überzeugung des Gerichts aber auch diese Voraussetzungen mit der hier erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit vorliegen. [...]