VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 30.07.2013 - 2 A 611/12 - asyl.net: M21146
https://www.asyl.net/rsdb/M21146
Leitsatz:

Dem Erlass einer (erneuten) Ausweisungsverfügung steht nicht entgegen, wenn der Betroffene bereits mit bestandskräftiger Ausweisungsverfügung aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen wurde, da die frühere Ausweisung nicht berührt wird.

Ein öffentliches Interesse an einer Zweitausweisung besteht dann, wenn zu befürchten ist, die Sperrwirkung der ersten Ausweisung werden ohne Rücksicht auf den neuen Ausweisungsgrund und das dadurch ausgelöste Schutzbedürfnis entfallen.

Schlagwörter: Ausweisung, erneute Ausweisungsverfügung, Sperrwirkung, Zweitausweisung, Schutz der Allgemeinheit, öffentliches Interesse, Sperrwirkung, Rechtsverstoß, Straftat, Straftatbestand, Beschäftigungsverordnung, Bundesagentur für Arbeit,
Normen: AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 2, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 95 Abs. 2 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Gemäß § 55 Abs. 1 AufenthG kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt. Nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG kann ein Ausländer nach Absatz 1 insbesondere ausgewiesen werden, wenn er einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtlicher oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen hat. Diese Voraussetzungen liegen beim Kläger vor.

Zunächst steht dem Erlass einer (erneuten) Ausweisungsverfügung nicht entgegen, dass der Werra-Meißner Kreis den Kläger mit bestandskräftigem Ausweisungsbescheid vom 20. September 2002, dem eine Befristung ebenfalls nicht beigefügt war, bereits aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen hat.

Zwar wirkt damit das durch § 11 Abs. 1 S. 1 AufenthG als Folge einer Ausweisung geregelte Einreise- und Aufenthaltsverbot gegenüber dem Kläger auch im Zeitpunkt des Erlasses des hier angefochtenen Bescheides fort; jedoch war der Beklagte rechtlich nicht gehindert, eine erneute Ausweisungsverfügung gegen den Kläger - nunmehr aufgrund der neu eingetretenen Tatsachen - auszusprechen. Wird ein ausgewiesener Ausländer aufgrund eines neuen Sachverhalts erneut ausgewiesen, so wird dadurch die frühere Ausweisung nicht berührt. Die neue Ausweisung läuft der alten nicht zuwider, sie wirkt vielmehr in dieselbe Richtung. Insbesondere greift die für die neue Ausweisung verantwortliche Behörde, hier der Beklagte, nicht in die Befristungskompetenz der für die frühere Ausweisung verantwortlichen Ausländerbehörde - hier des Werra-Meißner Kreises - ein. Dieser wird in seiner Befugnis, die Wirkungen der von ihm verfügten Ausweisung gem. § 11 Abs. 1 S. 3 AufenthG zu befristen, nicht beeinträchtigt, wenn eine andere Behörde aufgrund eines anderen, ihre Zuständigkeit begründenden Sachverhalts ebenfalls eine Ausweisungsverfügung gegen den Ausländer erlässt.

Es fehlt auch nicht das öffentliche Interesse daran, den Ausländer wegen eines neuen Ausweisungsgrundes nochmals auszuweisen. Zwar kann der Ausländer ohne weiteres aufgrund der wirksamen Erstausweisung abgeschoben und solange vom Bundesgebiet ferngehalten werden, als die Sperrwirkung der Erstausweisung anhält. Ein öffentliches Interesse an einer Zweitausweisung besteht aber zumindest dann, wenn zu befürchten ist, die Sperrwirkung der ersten Ausweisung werde ohne Rücksicht auf den neuen Ausweisungsgrund und das dadurch ausgelöste Schutzbedürfnis der Allgemeinheit entfallen. So verhält es sich etwa, wenn gegen die erste Ausweisungsverfügung Anfechtungsklage erhoben oder wenn zu besorgen ist, dass die Erstausweisung trotz Bestandskraft wegen ursprünglicher Rechtswidrigkeit von der Behörde zurückgenommen wird. Es entspräche nicht dem öffentlichen Interesse, die für die Zweitausweisung zuständige Behörde in derartigen Fällen dazu zu zwingen, ihre Entscheidung zurückzustellen, bis das rechtliche Schicksal der ersten Ausweisung feststeht (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 05.11.1985 - 1 C 40/82 -; Urteil vom 31.03.1989 - 1 C 28/97 -, jeweils zitiert nach juris).

Zwar besteht hier nicht die Besorgnis, dass die bestandskräftig gewordene Ausweisungsverfügung des Werra-Meißner Kreises vom 20. September 2002 aufgehoben oder zurückgenommen wird. Indes ist insoweit von Bedeutung, dass der Kläger hinsichtlich dieses Bescheides am 10. Januar 2013 ebenfalls - wie hier mit dem Hilfsantrag - einen Antrag auf Befristung der Wirkungen dieser Ausweisung gestellt hat, über den nach Aktenlage bisher nicht befunden worden ist. Sollte der Werra-Meißner Kreis die Wirkungen seiner Ausweisung antragsgemäß befristen, so begänne die Frist gem. § 11 Abs. 1 S. 6 AufenthG mit der Ausreise. Damit ist die Ausreise gemeint, die auf diese Ausweisung hin erfolgt ist. Ohne genaue Kenntnis von diesem Ausreisedatum zu haben, kann davon ausgegangen werden, dass der Kläger irgendwann im Laufe des Jahres 2010 aus der Bundesrepublik Deutschland ausgereist ist. Wäre es rechtswidrig, aufgrund neuer Tatsachen eine weitere Ausweisungsverfügung zu erlassen, solange eine vorangegangene noch Rechtswirkungen entfaltet, würde dies zu einer ungerechtfertigten Begünstigung des auszuweisenden Ausländers führen. Ggf. könnte ein Ausländer trotz der Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 AufenthG unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland wieder einreisen und weitere Ausweisungsgründe erfüllen, ohne dass dies (durch eine weitere Ausweisung mit entsprechend verlängerter Befristung) sanktioniert werden könnte. Dies ist nicht im öffentlichen Interesse.

Der Kläger hat den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG erfüllt. Denn er hat einen nicht geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen.

Es spricht, wovon der Beklagte ausgeht, schon viel dafür, dass der Kläger den Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfüllt hat. Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ist er ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 1 S. 1 AufenthG nach Deutschland eingereist und hat sich hier aufgehalten. Eine vorsätzlich verübte Straftat ist regelmäßig nicht als geringfügiger Rechtsverstoß zu bewerten (BVerwG, Urteil vom 24.09.1996 - 1 C 9/94, zitiert nach juris).

Die italienische Aufenthaltsbefugnis des Klägers berechtigte diesen nicht zu einem Erwerbsaufenthalt. Für einen solchen Aufenthalt hätte der Kläger gem. § 18 AufenthG i.V.m. Artikel 5 Abs. 1 b der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (ABl. Nr. L105, S. 1) i.V.m. Artikel 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumspflicht befreit sind (ABl. Nr. L 81, S. 1) i.V.m. Artikel 21 Abs. 1 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen –SDÜ- (ABl. 2000 Nr. L 239, S. 19) eines Visums bedurft, das gem. § 31 Abs. 1 Nr. 1 AufenthVO und § 1 der Verordnung über das Verfahren und die Zulassung von im Inland lebenden Ausländern zur Ausübung einer Beschäftigung (BeschäftigungsverfahrensVO) der vorherigen Zustimmung der zuständigen Ausländerbehörde und der Bundesagentur für Arbeit bedurft hätte. Über ein derartiges Visum verfügte der Kläger nicht. Sein Vorbringen, er sei nicht erwerbstätig gewesen, sondern habe lediglich einem Verwandten ausgeholfen, dürfte eine unglaubhafte Schutzbehauptung sein.

Gemäß § 2 Abs. 2 AufenthG ist Erwerbstätigkeit die selbständige Tätigkeit und die Beschäftigung im Sinne von § 7 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch – SGB IV -. Gemäß § 7 SGB IV ist Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisung und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Nach Abs. 2 dieser Bestimmung gilt als Beschäftigung auch der Erwerb beruflicher Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen im Rahmen betrieblicher Berufsbildung. Bei der konkreten Abgrenzung derartiger Beschäftigungsverhältnisse von der familiären Mithilfe mag es insbesondere hinsichtlich des Entgeltkriteriums Probleme geben (vgl. Heilbronner, Aufenthaltsgesetz, § 55 Rn. 50 a.E.). Ein wesentliches Kriterium, ob die dem mitarbeitenden Verwandten gewährten Leistungen Entgelt - d.h. einen Gegenwert - für die geleistete Arbeit darstellen, ist insbesondere die Höhe der gewährten Leistungen sowie ihr Verhältnis zu Umfang und Art der im Betrieb verrichteten Tätigkeit (vgl. Heilbronner, Aufenthaltsgesetz, § 2 Rn. 20). Zwar fehlen konkrete Anhaltspunkte zur Höhe des Entgeltes und behauptet der Kläger ein solches gar nicht erhalten zu haben; in Anbetracht der in der Vergangenheit liegenden mehrfachen Verstöße gegen das Beschäftigungsverbot durch den Kläger, kann dies jedoch nur als Schutzbehauptung bezeichnet werden. Der Kläger dürfte ein Entgelt in üblicher Höhe erhalten haben. Zudem ist völlig unklar geblieben, ob und ggf. in welchem Verwandtschaftsverhältnis der Kläger zum Inhaber der Gaststätte H. stand. Allein die Namensgleichheit sagt hierzu nichts aus. Der Name B. wird, wie gerichtsbekannt ist, von allen männlichen Sikhs getragen, wovon es in Indien schätzungsweise 10 Millionen gibt.

Die verbleibenden Restzweifel daran, ob der Kläger den Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfüllt hat, kann das Gericht offen lassen. Denn auf jeden Fall hat der Kläger den Straftatbestand des § 95 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG erfüllt, danach wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer entgegen § 11 Abs. 1 S. 1 in das Bundesgebiet einreist oder sich darin aufhält. Dies hat der Kläger, gegenüber dem die bestandskräftige Ausweisungsverfügung des Werra-Meißner Kreises vom 20. September 2002 im Zeitpunkt seiner Einreise noch wirkte, getan. Allein dadurch hat der Kläger einen nicht geringfügigen Rechtsverstoß in der Form einer vorsätzlichen Straftat begangen.

Der Beklagte hat das ihm durch § 55 Abs. 1 AufenthG eröffnete Ermessen rechtmäßig ausgeübt. Er hat weder die Grenzen des Ermessens überschritten noch hat er von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (§ 114 S. 1 VwGO). Die vom Beklagten in dem angegriffenen Bescheid angestellten Ermessenserwägungen sind zutreffend, willkürfrei und am Zweck des § 55 Abs. 1 AufenthG orientiert. Das Gericht nimmt auf diese Ausführungen deshalb gemäß § 117 Abs. 5 VwGO Bezug und stellt fest, dass es ihnen folgt. Ergänzend bleibt hinzuzufügen, dass zu Lasten des Klägers insbesondere dessen permanente Missachtung der Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland während seiner Aufenthaltszeit hier spricht. Zum einen hat er über einen Zeitraum von mindestens acht Jahren über seine Identität getäuscht und hat, obwohl er, wie sich aus seinem neuen Reisepass ergibt, über ein Personaldokument verfügte, falsche Personalien angegeben, um sich ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik zu erschleichen. Zudem ist er durch unerlaubtes Nachgehen einer Beschäftigung sowie Urkundenfälschung mehrfach straffällig geworden. [...]