LG Aschaffenburg

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Zitieren als:
LG Aschaffenburg, Urteil vom 08.08.2013 - 3 Ns 103 Js 5189/12 - asyl.net: M21061
https://www.asyl.net/rsdb/M21061
Leitsatz:

Falsche Angaben zur Erlangung einer EU-Aufenthaltskarte durch ein Familienmitglied eines EU-Bürgers sind nicht unter Strafe gestellt. Eine EU-Aufenthaltskarte stellt keinen Aufenthaltstitel und keine Duldung im Sinne von § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG dar. Eine gesetzliche Regelung, wonach EU-Aufenthaltskarten Aufenthaltstiteln gleichgestellt werden, existiert nicht.

Schlagwörter: Aufenthaltstitel, Duldung, EU-Aufenthaltskarte, Unionsbürger, Aufenthaltskarte, Falschangaben, falsche Angaben, Strafbarkeit, Erschleichen einer Aufenthaltserlaubnis,
Normen: StGB § 1, AufenthG § 95 Abs. 2 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Von diesem Vorwurf war der Angeklagte aus rechtlichen Gründen freizusprechen, da falsche Angaben zur Erlangung einer EU-Aufenthaltskarte durch ein Familienmitglied eines EU-Bürgers nicht unter Strafe gestellt sind, § 1 StGB.

§ 95 Abs. 2 Nr. 2 Aufenthaltsgesetz direkt ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da eine EU-Aufenthaltskarte keinen Aufenthaltstitel und keine Duldung im Sinne dieser Vorschrift darstellt. Die Vorschrift ist über § 11 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz EU auch nicht für diesen Fall entsprechend anwendbar, da diese Vorschrift lediglich eine Öffnungsklausel für den Täterkreis des § 95 Aufenthaltsgesetz darstellt, danach können sich nicht nur nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer, sondern auch Deutsche und Unionsbürger bzw. deren Angehörige, nach dieser Vorschrift strafbar machen. Eine Gleichsetzung der EU-Aufenthaltskarte mit einem Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz erfolgte aber nicht, so dass dieser Fall auch nicht durch § 11 Abs. 1 i.V.m. einer entsprechenden Anwendung des § 95 Abs. 2 Nr. 2 Aufenthaltsgesetz strafbar ist.

Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichtes fest, dass der Angeklagte tatsächlich am 18.03.2011 bei dem Ausländeramt der Stadt Aschaffenburg, Dalbergstraße 15 in Aschaffenburg, gegenüber der Mitarbeiterin und Zeugin ... vorsätzlich falsche Angaben zur Erlangung einer EU-Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers gemacht hat.

Die Zeugin hat angegeben, dass eine Verständigung mit dem Angeklagten bei Abgabe der Erklärung am 18.03.2011 problemlos über die englische Sprache mit einzelnen deutschen Wörtern möglich gewesen sei. Sie habe für die Niederschrift eine vorgegebene Maske verwendet, diese sei vom Wortlaut her zwar auf das Aufenthaltsgesetz ausgerichtet, es stünde aber keine andere Maske zur Verfügung und würde deshalb von der Behörde auch für die Erlangung von Aufenthaltskarten nach dem Freizügigkeitsgesetz EU verwendet. Der Angeklagte habe dann zusammen mit ..., nachdem er über die Bedeutung dieser Angaben belehrt worden sei, diese auch verstanden habe, angegeben, dass er seit 19.12.2009 mit ... eine eheliche Lebensgemeinschaft führe.

Diese Angaben sind nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung der Kammer falsch. Die Zeugin ... hat angegeben , dass es ihr bei mehreren Besuchen des Angeklagten und ... aufgefallen sei, dass diese sich nicht hätten verständigen können. ... sei auch nie da gewesen, der Angeklagte habe immer gesagt, er müsse diese für bestimmte Termine aus Rumänien holen. Deshalb sei er auch nicht damit einverstanden gewesen, dass die Behörde seinen Pass einziehe, da er dann nicht mehr nach Bulgarien würde fahren können, um ... für notwendige Termine zu holen.

Nach Angaben des Zeugen ..., der eine Wohnungsdurchsuchung am 08.06.2012 beim Angeklagten vorgenommen hat, war nach der angetroffenen Wohnungssituation die Wohnung auch dauerhaft nur von einem einzelnen Mann, nicht aber von einem Ehepaar oder gar von einem Ehepaar mit Kind bewohnt. Darüber hinaus habe der Zeuge in der Nachbarschaft Befragungen durchgeführt und dabei insbesondere von einer Mitarbeiterin der Druckerei ..., die auch gleichzeitig Mitglied der vermietenden Erbengemeinschaft der Wohnung ist, Frau ..., erfahren, dass diese den Angeklagten nur mit einer "deutschen" Frau gesehen habe, nie aber mit seiner bulgarischen Ehefrau. Der Zeuge ... hat weiter angegeben, dass er den Angeklagten wiederholt in der Stadt Aschaffenburg angetroffen habe bzw. ihm begegnet sei. Den Angeklagten hätte er aufgrund seines etwas auffälligen Erscheinungsbildes erkannt. Dabei sei der Angeklagte nie in Begleitung seiner bulgarischen Frau gewesen.

Für die Erlangung einer EU Aufenthaltskarte für Familienmitglieder von Unionsbürgern nach § 3 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz EU ist es erforderlich, dass die Familienmitglieder einen Unionsbürger nach Deutschland begleiten oder ihm nachziehen. Dies wollte der Angeklagte durch seine Angaben am 18.03.2011 mit der Aussage: "Wir haben am 19.12.2009 die Ehe geschlossen und führen seit dieser Zeit eine eheliche Lebensgemeinschaft" bestätigen. Tatsächlich war es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme aber so, dass ... als Unionsbürgerin nur "pro Forma" nach Deutschland kam, für notwendige Termine bei Behörden und tatsächlich der Angeklagte als "Nichtunionsbürger" nach Deutschland gezogen ist. Damit hat der Angeklagte zur Erlangung einer EU Aufenthaltskarte nach dem Freizügigkeitsgesetz EU, die ihm nach Angaben der Zeugin ... auch bis zum 14.09.2011 aufgrund dieser Angaben verlängert wurde, falsche Angaben gemacht.

Diese falschen Angaben sind aber nicht unter Strafe gestellt.

Gemäß § 95 Abs. 2 Ziff. 2 Aufenthaltsgesetz sind unrichtige oder unvollständige Angaben, die gemacht oder benutzt werden, um für sich oder einen anderen einen Aufenthaltstitel oder eine Duldung zu beschaffen, oder eine so beschaffte Urkunde wissentlich zur Täuschung im Rechtsverkehr zu gebrauchen, mit Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren oder mit Geldstrafe bedroht. Tatobjekt im Sinne dieser Vorschrift sind Aufenthaltstitel nach § 4 Aufenthaltsgesetz und Duldungen nach § 60a Aufenthaltsgesetz.

Andere Urkunden oder Erlaubnisse, z.B. Passersatzpapiere gemäß § 4 Aufenthaltsgesetz, die Betretenserlaubnis gemäß § 11 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz, die Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz oder die Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung gemäß § 63 Asylverfahrensgesetz, die Bescheinigung des gemeinschaftsrechtlichen Aufenthaltsrechts oder die Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern fallen nicht darunter (vgl. Huber, Aufenthaltsgesetz, 1. Auflage 2010, Randnummer 301; Renner, Ausländerrecht, 9. Auflage 2011, Randnr. 63, Kretschmer, Ausländerstrafrecht, 1. Auflage 2012, § 4 Randnr. 142).

Zwar lautet § 11 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz EU, u.a.: auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die nach § 2 Abs. 1 das Recht auf Einreise und Aufenthalt haben, findet § 95 Abs. 2 Nr. 2 Aufenthaltsgesetz entsprechende Anwendung. Dies stellt aber lediglich eine Öffnungsklausel dergestalt dar, dass auch Unionsbürger und ihre Familienangehörigen zum Täterkreis des § 95 Aufenthaltsgesetz gerechnet werden können. Es stellt allerdings keine entsprechende Anwendungsmöglichkeit dergestalt dar, dass EU Aufenthaltskarten Aufenthaltstiteln im Sinne des § 95 Aufenthaltsgesetz oder Duldungen gleichgestellt würden. In einem solchen Fall hätte vom Wortlaut her geregelt werden müssen, dass auf EU Aufenthaltskarten eine entsprechende Anwendung des § 95 Abs. 2 Nr. 2 Aufenthaltsgesetz stattfindet. Falsche Angaben zur Erlangung einer EU Aufenthaltskarte ist damit nach dem Wortlaut des zum Tatzeitpunkt im März 2011 geltenden § 11 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz EU i.V.m. § 95 Abs. 2 Ziffer 2 Aufenthaltsgesetz nicht strafbar (vgl. Renner, 9. Auflage 2011, Aufenthaltsgesetz, § 95 Randnr. 63, Kretschmer, Ausländerstrafrecht, 1. Auflage 2012, Randnr. 142, Huber, Aufenthaltsgesetz, 1. Auflage 2010, § 95 Aufenthaltsgesetz, Randnr. 301).

Es liegt eine Gesetzeslücke vor, die nur durch den Gesetzgeber geschlossen werden kann. Es wäre hier eine Analogie vorzunehmen, die im materiellen Strafrecht zur Ausfüllung von Gesetzeslücken unzulässig ist, soweit sie sich um eine Strafbegründung wie im vorliegenden Fall handelt (vgl. Lutz Meyer-Goßner, 56. Auflage Strafprozessordnung, Einleitung Randnr. 198). Zwar ist hier vom Gesetz in § 11 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz EU eine entsprechende Anwendung vorgesehen, ihre Grenze findet diese aber, wo Sinn und Zweck des Verfahrens der Heranziehung der anderen Bestimmung entgegensteht (vgl. BGH NJW 59, 347). Die entsprechende Anwendung ist hier aber nach dem Wortlaut des Gesetzes und dem Sinn und Zweck der entsprechenden Anwendung auf die bereits aufgeführte Öffnung des Täterkreises nach § 95 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz begrenzt. Der Sinn und Zweck dieser entsprechenden Anwendung ist nach dem Gesetzgeber hierfür gewollt und nicht eine Gleichstellung der EU-Aufenthaltskarte, die nur deklaratorisch ist, zu einem konstitutiven Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz. [...]