OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 25.06.2013 - 8 PA 98/13 - asyl.net: M20937
https://www.asyl.net/rsdb/M20937
Leitsatz:

Gesondert bemessene Fristen der Wirkungen einer Ausweisung und einer Abschiebung laufen nebeneinander und nicht nacheinander; sie sind nicht zusammenzurechnen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Befristung, Ausweisung, Abschiebung, Ausweisungsgrund, Auweisungszweck, Frist, unerlaubte Einreise, unerlaubte Wiedereinreise, Wiedereinreise, Fristlauf, Fristbeginn,
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 6, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 5, AuslG § 45, AuslG § 46 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Die Beklagte nimmt zunächst zu Unrecht an, ihr stünde bei der Bemessung der Frist ein Ermessen zu (Bescheid v. 4.9.2012, S. 3). Ein solches Ermessen besteht nicht; es handelt sich vielmehr um eine gebundene Entscheidung der Ausländerbehörde (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.2.2012 - 1 C 7.11 -, BVerwGE 142, 29, 45 f.).

Die Beklagte nimmt weiter zu Unrecht an, die für die Wirkungen der Ausweisung und der Abschiebung bemessenen Fristen von hier sechs Jahren und eineinhalb Jahren könnten addiert werden (Bescheid v. 4.9.2012, S. 7 und Schriftsatz v. 18.2.2013, S. 2). § 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG sieht hingegen ausdrücklich vor, dass der Fristlauf stets mit der Ausreise beginnt, wobei hierunter sowohl die freiwillige als auch die erzwungene Ausreise fallen (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.1.2012 - 1 C 1.11 -, BVerwGE 141, 325, 326). Durch die von der Beklagten vorgenommene Addition der für die Wirkungen der Ausweisung und der Abschiebung bemessenen Fristen würde die hinzuaddierte Frist entgegen der ausdrücklichen Anordnung in § 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG nicht mit der Ausreise zu laufen beginnen, sondern erst nach Ablauf der anderen Frist. Eine Rechtfertigung hierfür ist nicht ersichtlich. Entgegen der Annahme der Beklagten besteht für eine solche Addition auch keine praktische Notwendigkeit, um eine etwa ungerechtfertigte Gleichbehandlung von freiwilliger und erzwungener Ausreise zu vermeiden. Denn eine nicht rechtzeitige oder nicht freiwillige Ausreise kann nach § 11 Abs. 1 Satz 5 AufenthG schon bei der Bemessung der Länge der Frist für die Wirkungen der Ausweisung berücksichtigt werden (vgl. auch Erwägungsgrund 14 Satz 3 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. EU L 348 v. 24.12.2008, S. 98).

Die Beklagte nimmt voraussichtlich auch zu Unrecht an, der Fristablauf sei durch die unerlaubte Wiedereinreise unterbrochen worden (Bescheid v. 4.9.2012, S.1 und 7). § 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG knüpft den Beginn des Fristlaufs allein an die Ausreise an. Der weitere Fristlauf bleibt von einer (unerlaubten) Wieder - einreise unberührt. Es obliegt vielmehr der Ausländerbehörde, auf die unerlaubte Wiedereinreise durch einen zeitnahen Vollzug der Ausreisepflicht und/oder eine nachträgliche Änderung der Befristungsentscheidung zu reagieren (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 6.11.2012 - 11 S 2307/11 -, juris Rn. 73 m.w.N.).

Schließlich ist die von der Beklagten bemessene Befristung der Wirkungen der Ausweisung auf einen Zeitraum von sechs Jahren, beginnend mit der Ausreise, voraussichtlich rechtswidrig. Der Senat erachtet zur Erreichung des Ausweisungszwecks - unter Berücksichtigung des Gewichts des Ausweisungsgrundes, des Verhaltens des Klägers nach der Ausweisung, des Ausmaßes der von dem Ausländer konkret ausgehenden Gefahr und der Vorhersehbarkeit der zukünftigen Entwicklung dieser Gefahr - eine Fernhaltung des Klägers vom Bundesgebiet für die Dauer von allenfalls fünf Jahren, beginnend mit der erzwungenen Ausreise am 19. Januar 2006, für erforderlich.

Der Kläger ist mit Verfügung der Beklagten vom 30. Januar 2002 auf der Grundlage der §§ 45, 46 Nr. 2 AuslG a.F. aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden. Den Anlass hierfür gaben verschiedene strafrechtliche Verfehlungen des Klägers. So wurde er im Jahre 1997 wegen Diebstahls zu einer Woche Jugendarrest, im Jahre 2000 wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit fahrlässigen Vergehen gegen das Pflichtversicherungsgesetz sowie Urkundenfälschung zur Erbringung von Arbeitsleistungen und im Jahre 2001 wegen Diebstahls zur Erbringung von Arbeitsleistungen, wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen in Tatmehrheit mit Diebstahl sowie wegen gemeinschaftlichen Diebstahls zu einem vierwöchigen Jugendarrest und wegen gemeinschaftlichen schweren Diebstahls und wegen versuchten gemeinschaftlichen schweren Diebstahls unter Einbeziehung der vorausgegangenen Verurteilungen zu einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe von einem Jahr verurteilt. Unter Berücksichtigung der verletzten Rechtsgüter und des Umfangs der Verletzung, der Tatumstände, des jugendlichen Alters des Klägers bei Tatbegehung und der mit der Strafaussetzung zur Bewährung verbundenen positiven Sozialprognose ist insoweit zur Erreichung des Ausweisungszwecks allenfalls eine Fernhaltung des Klägers vom Bundesgebiet für die Dauer von zwei Jahren erforderlich gewesen.

Das Verhalten des Klägers nach Erlass der Ausweisungsverfügung am 30. Januar 2002 war indes durch weitere strafrechtliche Verfehlungen gekennzeichnet. So ist er im Oktober 2002 wegen gemeinschaftlichen Diebstahls im schweren Fall, wegen Diebstahls, wegen Diebstahls geringwertiger Sachen, wegen Leistungserschleichung in zwei Fällen, wegen Bedrohung und wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis unter Einbeziehung der vorausgegangenen Verurteilung aus dem Jahre 2001 zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten und im August 2005 wegen gemeinschaftlichen Diebstahls im besonders schweren Fall unter Einbeziehung der vorausgegangenen Verurteilung aus dem Jahre 2002 zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt worden, die bis zur Abschiebung des Klägers im Januar 2006 vollstreckt worden ist. Diese strafrechtlichen Verfehlungen nach Erlass der Ausweisungsverfügung rechtfertigen im vorliegenden Fall durchaus eine Verdopplung der bis dahin für erforderlich erachteten Dauer der Fernhaltung des Klägers vom Bundesgebiet auf dann vier Jahre.

Das weitere Verhalten des Klägers, insbesondere die mangelnde freiwillige Ausreise, der Verstoß gegen das Wiedereinreiseverbot und der Aufenthalt im Bundesgebiet unter falscher Identität, rechtfertigen durchaus eine noch weitere Erhöhung der Dauer der Fernhaltung vom Bundesgebiet. In Relation zu den die Dauer maßgeblich bestimmenden strafrechtlichen Verfehlungen ist insoweit aber allenfalls eine Erhöhung um ein weiteres Jahr auf dann fünf Jahre gerechtfertigt. Soweit die Beklagte bei der Fristbemessung auch auf die mangelnde Integrationsperspektive des Klägers nach einer (erlaubten) Wiedereinreise und die mangelnde Lebensunterhaltssicherung abstellt (Bescheid v. 4.9.2012, S. 6), geht sie voraussichtlich fehl. Es dürfte sich um Aspekte handeln, die nicht schon bei der Befristungsentscheidung, sondern erst in einem etwaigen Verfahren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu berücksichtigen sind.

Dass die so bestimmte, zur Erreichung des Ausweisungszwecks erforderliche (Höchst-)Frist von fünf Jahren unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen (etwa mit Blick auf Art. 2, 6 GG) oder unions- und völkervertragsrechtlicher Vorgaben (etwa Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK) im vorliegenden Fall abgekürzt werden müsste, vermag der Senat nicht zu erkennen.

Die daneben zur Erreichung des mit der Abschiebung verfolgten Zwecks erforderliche Frist der Fernhaltung des Klägers aus dem Bundesgebiet ist - auch unter Berücksichtigung der bisher nicht bezahlten Abschiebungskosten (vgl. hierzu etwa: Hamburgisches OVG, Beschl. v. 29.11.2010 - 5 So 160/10 -, InfAuslR 2011, 63, 64 f.) - jedenfalls nicht länger zu bemessen als die zur Erreichung des mit der Ausweisung verfolgten Zwecks. [...]