AG Nienburg

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Zitieren als:
AG Nienburg, Urteil vom 16.05.2013 - 4 Cs 519 Js 24060/12 (319/12) - asyl.net: M20812
https://www.asyl.net/rsdb/M20812
Leitsatz:

Wer aus unmittelbarer Lebensgefahr (hier: Afghanistan) nach Deutschland flieht und dabei eine Urkundenfälschung begeht, handelt aufgrund einer Notstandslage gem. § 35 StGB und somit schuldlos.

Schlagwörter: persönlicher Strafaufhebungsgrund, Strafaufhebungsgrund, Strafbarkeit, Notstand, Notstandslage, Notlage, Afghanistan, extreme Gefahrenlage, Flüchtling, Verwendung gefälschter Papiere, Urkundenfälschung, falsche Papiere, falscher Pass, Pass, gefälschter Pass,
Normen: StGB § 267 Abs. 1, StGB § 35, GFK Art. 31,
Auszüge:

[...]

Die Angeklagte ist aus tatsächlichen Gründen freizusprechen. Denn der Angeklagten ist anhand der zur Verfügung stehenden Beweismittel kein strafbares Verhalten nachzuweisen.

1. Das Verhalten der Angeklagten erfüllt den Tatbestand der Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 Variante 3 StGB und ist rechtswidrig. Ein rechtfertigender Notstand liegt nicht vor. Die Tat ist in Anbetracht der widerstreitenden Interessen jedenfalls kein angemessenes Mittel im Sinne des § 34 Satz 2 StGB. Denn im Falle der Rechtfertigung würde auch die Strafbarkeit etwaiger Teilnehmer entfallen. Dies würde der Urkundenfälschung insgesamt Tür und Tor öffnen und so die allgemeine Sicherheit und Zuverlässigkeit des Rechtsverkehrs schwer erschüttern.

2. Ob und inwieweit ein persönlicher Strafaufhebungsgrund nach Art. 31 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention vorliegt, kann dahinstehen. Denn die Angeklagte trifft aufgrund der außergewöhnlichen Umstände gemäß § 35 StGB keine Schuld.

Die Angeklagte handelte aufgrund einer Notstandslage. Die Angeklagte und ihre Angehörigen befanden sich in Afghanistan in unmittelbarer Lebensgefahr. Diese Gefahr war auch gegenwärtig. Denn der drohende Racheakt hätte jederzeit und ohne erkennbare Zwischenschritte durchgeführt werden können.

Eine Notstandshandlung im Sinne des § 35 StGB liegt ebenfalls vor. Die Lebensgefahr konnte nur durch die Flucht zuverlässig abgewendet werden. Hierbei war es erforderlich, bei der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland die Urkundenfälschung zu begehen. Denn eine Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ist unter menschenwürdigen Umständen nur mit Ausweispapieren möglich. Kann sich der Täter - wie hier gegeben - keine echten Papiere beschaffen, so verbleibt ihm nur die Einreise mit falschen Papieren.

Mildere, gleich geeignete Mittel standen der Angeklagten nicht zur Verfügung. Insbesondere eine Zuflucht in einem der durchquerten Drittstaaten Iran, Türkei und Griechenland wäre zur Abwehr der Gefahr nicht gleich geeignet gewesen, Denn ein Flüchtling muss sich nicht damit begnügen, dass in dem bereits erreichten Drittstaat die unmittelbar drohende Lebensgefahr gebannt ist; er darf vielmehr eine Flucht in den Staat anstreben, in dem er am sichersten Zuflucht findet und seine Zukunft unter Berücksichtigung der dortigen Lebensumstände am besten abgesichert ist.

Der Angeklagten ist insoweit nicht vorzuwerfen, dass sie nicht im Iran, der Türkei oder Griechenland, sondern in der Bundesrepublik Deutschland Zuflucht suchte. Denn jeder vernünftige Mensch in der Situation der Angeklagten hätte aufgrund der unsicheren Lebensumstände in diesen Drittstaaten genauso gehandelt.

Darüber hinaus wäre es der Angeklagten auch nicht zuzumuten gewesen, kurz vor der Einreise in die Bundesrepublik durch die Anzeige der echten Personalien den Fluchterfolg zu riskieren. Denn auch insoweit würde jeder vernünftige Dritte in der Position der Angeklagten zunächst versuchen, vollendete Tatsachen zu schaffen. Es kann nicht erwartet werden, dass sich der landesunkundige Flüchtling nach Einsatz seiner gesamten finanziellen Mittel kurz vor Erreichen der angestrebten Sicherheit auf Gedeih und Verderb einem unüberschaubaren bürokratischen Verfahren am anderen Ende der Welt ausliefert und so seine Zuflucht schwer gefährdet. Das würde kein vernünftiger Mensch in der Position der Angeklagten ernsthaft erwägen. Die Anzeige der echten Personalien kann vielmehr noch immer unverzüglich - gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes - erfolgen und das Asylverfahren in geordneten Bahnen geführt werden (vgl. Art. 31 GFK).

Da die Angeklagte auch mit dem notwendigen Rettungswillen handelte, ist ihr im Ergebnis kein persönlicher Vorwurf zu machen. [...]