EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 08.05.2013 - C-529/11 - asyl.net: M20712
https://www.asyl.net/rsdb/M20712
Leitsatz:

1. Dem Elternteil eines volljährig gewordenen Kindes, das auf der Grundlage des Art. 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft in der durch die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 geänderten Fassung Zugang zu Bildung erhalten hat, kann weiterhin ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach diesem Artikel zustehen, wenn dieses Kind nach wie vor der Anwesenheit und der Fürsorge des Elternteils bedarf, um seine Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können; dies hat das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung aller Umstände der Rechtssache, mit der es befasst ist, zu beurteilen.

2. Aufenthaltszeiten in einem Aufnahmemitgliedstaat, die von Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, allein auf der Grundlage des Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 in der durch die Richtlinie 2004/38 geänderten Fassung zurückgelegt wurden, ohne dass die für die Geltendmachung eines Aufenthaltsrechts nach dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt wären, können für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt im Sinne der Richtlinie durch die betreffenden Familienangehörigen nicht berücksichtigt werden.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: familiäre Beistandsgemeinschaft, Kinder, Kind, Volljährigkeit, volljährige Kinder, volljähriges Kind, Unionsbürgerrichtlinie, Daueraufenthaltsberechtigte, Daueraufenthalt, Zugang zu Bildung, Bildung, Ausbildung, Aufenthaltszeit, Aufenthaltszeiten, Drittstaatsangehörige, drittstaatsangehörige Familienmitglieder, Familienangehörige eines Unionsbürgers,
Normen: VO 1612/68 Art. 12, RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

31 Daher ist auf die ersten vier Fragen zu antworten, dass dem Elternteil eines volljährig gewordenen Kindes, das auf der Grundlage des Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 Zugang zu Bildung erhalten hat, weiterhin ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach diesem Artikel zustehen kann, wenn dieses Kind weiterhin der Anwesenheit und der Fürsorge des Elternteils bedarf, um seine Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können; dies hat das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung aller Umstände der Rechtssache, mit der es befasst ist, zu beurteilen.

Zur fünften Frage

32 Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Aufenthaltszeiten in einem Aufnahmemitgliedstaat, die von Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, allein auf der Grundlage des Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zurückgelegt wurden, ohne dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines Aufenthaltsrechts nach der Richtlinie 2004/38 erfüllt wären, für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt im Sinne dieser Richtlinie durch die betreffenden Familienangehörigen berücksichtigt werden können.

33 Hierzu ist festzustellen, dass die Richtlinie 2004/38 zwei unterschiedliche Fälle betrifft, in denen Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, das Recht auf Daueraufenthalt im Sinne dieser Richtlinie erwerben können. Zum einen steht das Recht auf Daueraufenthalt nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie den genannten Familienangehörigen gemäß Art. 16 Abs. 2 auch dann zu, wenn sie sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben. Art. 17 der Richtlinie sieht für Personen, die im Aufnahmemitgliedstaat aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, und ihre Familienangehörigen unter bestimmten Voraussetzungen eine Ausnahmeregelung vor. Zum anderen erwerben nach Art. 18 der Richtlinie 2004/38 die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, auf die Art. 12 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 2 Anwendung finden und die die dort genannten Voraussetzungen erfüllen, das Recht auf Daueraufenthalt, wenn sie sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.

34 Für die Anwendung von Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 hängt der Erwerb des Rechts der Familienangehörigen des Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, auf Daueraufenthalt in jedem Fall davon ab, dass der Unionsbürger selbst die in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllt, und vom gemeinsamen Aufenthalt der Angehörigen mit ihm im betreffenden Zeitraum.

35 In Bezug auf die vom Unionsbürger zu erfüllenden Voraussetzungen hat der Gerichtshof zu Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nach Prüfung der Ziele sowie des globalen und besonderen Kontexts, in den sich diese Richtlinie einfügt, bereits entschieden, dass der Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts, den die Wendung "der sich rechtmäßig … aufgehalten hat" in dieser Bestimmung enthält, als ein im Einklang mit den in der Richtlinie vorgesehenen und insbesondere mit den in ihrem Art. 7 Abs. 1 aufgeführten Voraussetzungen stehender Aufenthalt zu verstehen ist; daher kann ein im Einklang mit dem Recht eines Mitgliedstaats stehender Aufenthalt, der jedoch nicht die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 erfüllt, nicht als "rechtmäßiger" Aufenthalt im Sinne von Art. 16 Abs. 1 angesehen werden (Urteil vom 21. Dezember 2011, Ziolkowski und Szeja, C-424/10 und C-425/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 46 und 47).

36 In Bezug auf den Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt durch Familienangehörige des Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, impliziert die in Randnr. 34 des vorliegenden Urteils erwähnte Verpflichtung, sich im betreffenden Zeitraum mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten, für sie zwangsläufig und zugleich ein Aufenthaltsrecht gemäß Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 als Familienangehörige, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen.

37 Folglich können für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nach Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 nur Aufenthaltszeiten dieser Angehörigen berücksichtigt werden, die die in ihrem Art. 7 Abs. 2 vorgesehene Voraussetzung erfüllen.

38 Darüber hinaus begrenzt Art. 18 der Richtlinie 2004/38 das dort geregelte Recht auf Daueraufenthalt durch die Bezugnahme auf die Art. 12 Abs. 2 und 13 Abs. 2 der Richtlinie in der Weise, dass zum einen ein solches Aufenthaltsrecht nur Familienangehörigen eines Unionsbürgers zusteht, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und deren Aufenthaltsrecht beim Tod des Unionsbürgers, bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder bei Beendigung der eingetragenen Partnerschaft fortbesteht, und dass zum anderen dieses Aufenthaltsrecht an die Bedingung geknüpft ist, dass die Betroffenen vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt selbst die Erfüllung der in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a, b oder d der Richtlinie genannten Voraussetzungen nachweisen können.

39 Infolgedessen können nur Aufenthaltszeiten, die die in der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllen, für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt im Sinne dieser Richtlinie durch Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, berücksichtigt werden.

40 Der Umstand, dass sich der Familienangehörige eines Unionsbürgers, der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, allein auf der Grundlage des Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat, kann sich daher auf den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt im Sinne der Richtlinie 2004/38 nicht auswirken.

41 Diese Schlussfolgerung kann nicht durch die im Urteil vom 7. Oktober 2010, Lassal (C-162/09, Slg. 2010, I-9217), getroffene Feststellung in Frage gestellt werden, dass ununterbrochene Aufenthaltszeiten von fünf Jahren, die vor dem Umsetzungsdatum der Richtlinie 2004/38 im betreffenden Mitgliedstaat in Einklang mit vor diesem Datum geltenden Rechtsvorschriften der Union zurückgelegt wurden, für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie zu berücksichtigen sind.

42 Erstens können nämlich, wie sich aus den Randnrn. 33 bis 39 des vorliegenden Urteils ergibt, nur Aufenthaltszeiten, die die in der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllen, für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt im Sinne dieser Richtlinie durch Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, berücksichtigt werden.

43 Zweitens war in der Rechtssache, in der das Urteil Lassal ergangen ist, die Eigenschaft der Betroffenen als "Arbeitnehmerin" im Sinne des Unionsrechts und somit die Tatsache, dass sie die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Voraussetzung erfüllte, nicht Gegenstand einer streitigen Erörterung.

44 Da der überwiegende Teil der Aufenthaltszeiten der Betroffenen im fraglichen Mitgliedstaat der Richtlinie 2004/38 vorausging, konnten diese Zeiten zwar nur "in Einklang mit [zuvor] geltenden Rechtsvorschriften der Union" zurückgelegt worden sein. Diese Formulierung im Urteil Lassal geht jedoch auf die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen zurück, die nicht die materiellen Voraussetzungen des rechtmäßigen Aufenthalts im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 betrafen, sondern die Behandlung der Aufenthaltszeiten, die diese Voraussetzungen erfüllten und vor dem Umsetzungsdatum der Richtlinie in dem fraglichen Mitgliedstaat zurückgelegt worden waren.

45 Auf den Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts, den die Wendung "der sich rechtmäßig … aufgehalten hat" in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 enthält, wurde hingegen erstmals im Urteil Ziolkowski und Szeja eingegangen.

46 Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2004/38 zum einen die bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts überwunden werden sollen, um die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern, indem ein einziger Rechtsakt geschaffen wird, mit dem die vor Erlass dieser Richtlinie bestehenden Instrumente des Unionsrechts kodifiziert und überarbeitet werden, und dass die Richtlinie zum anderen hinsichtlich des Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat ein abgestuftes System vorgesehen hat, das unter Übernahme im Wesentlichen der Stufen und Bedingungen, die in den vor ihrem Erlass bestehenden verschiedenen Instrumenten des Unionsrechts vorgesehen waren, sowie der zuvor ergangenen Rechtsprechung im Recht auf Daueraufenthalt mündet (vgl. Urteil Ziolkowski und Szeja, Randnrn. 37 und 38).

47 Daher ist die Wendung "vor [der Richtlinie 2004/38] geltende Rechtsvorschriften der Union" in Randnr. 40 des Urteils Lassal so zu verstehen, dass sie sich auf die Rechtsvorschriften bezieht, die mit dieser Richtlinie kodifiziert, überarbeitet und aufgehoben wurden, und nicht auf diejenigen, die wie Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 von ihr nicht berührt wurden.

48 Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Aufenthaltszeiten in einem Aufnahmemitgliedstaat, die von Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, allein auf der Grundlage des Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zurückgelegt wurden, ohne dass die für die Inanspruchnahme eines Aufenthaltsrechts nach der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt wären, für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt im Sinne der Richtlinie durch die betreffenden Familienangehörigen nicht berücksichtigt werden können. [...]