Geltendmachung des Anspruchs auf Aufenthalt im Bundesgebiet durch einen Drittstaatsangehörigen, der in Spanien ein Daueraufenthaltsrecht-EG erworben hat.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
2. Der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO ist begründet, weil sich durch die Vorlage des spanischen Dokuments vom 26. September 2012 die für die Entscheidung maßgebliche Sachlage entscheidungserheblich verändert hat. Nachdem der Antragsteller belegt hat, dass ihm das Daueraufenthaltsrecht-EG in Spanien zuerkannt worden ist, ist ihm die Einreise in das Bundesgebiet und die Schaffung der weiteren Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG zu ermöglichen, die Gegenstand des (wie bei allen Aufenthaltsansprüchen auf der Grundlage der aktuellen Sach- und Rechtslage zu entscheidenden) Hauptsacheverfahrens ist. Die vor dem Nachweis dieses Daueraufenthaltsrechts erlassenen Beschlüsse im einstweiligen Rechtsschutzverfahren würden der Wiedereinreise des Antragstellers entgegenstehen und waren daher entsprechend dem Antrag des Antragstellers abzuändern.
a) Angesichts des vorgelegten Dokuments "Residente de larga duracion-UE" vom 26. September 2012 ist jedenfalls im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes von einem Daueraufenthaltsrecht-EG des Antragstellers auszugehen.
Die Antragsgegnerin hat die Echtheit des Dokuments, dessen Gültigkeit trotz der Verwendung der Abkürzung "UE" anstelle der eigentlich vorgesehenen Abkürzung "CE" (vgl. AVwVAufenthG Nr. 38a.1.1.1; die von der Antragstellerseite benutzte Bezeichnung "Autorizacion de Residencia…" ist nicht gemeinschaftsrechtlich notifiziert) sowie die Geltung der bescheinigten Rechtsstellung ab dem 28. August 2011 durch zwei Nachfragen beim spanischen Generalkonsulat in München verifiziert.
Auf die von der Antragsgegnerin gleichwohl erhobenen Bedenken gegen das Dokument kommt es für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht an. Die Gründe für die lange Dauer der Bearbeitung des Antrags des Antragstellers durch die spanischen Behörden und deren Einbeziehung von Aufenthaltszeiten des Antragstellers im Bundesgebiet in die Fünfjahresfrist des Art. 4 Abs. 1 RL 2003/109 – möglicherweise entgegen der Regelung des Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie – können als klärungsbedürftig angesehen werden, stellen jedoch die Wirksamkeit des spanischen Dokuments nicht in Frage. Eine solche Klärung kann die Antragsgegnerin auch nicht eigenständig vornehmen. Nachdem für den Entzug des Daueraufenthaltsrechts-EG (Verlustgründe im Sinne des Art. 9 Abs. 3 ff. RL 2003/109 liegen offensichtlich nicht vor) derjenige Mitgliedstaat zuständig ist, der diese Rechtsstellung in Anwendung der Art. 4 ff. RL 2003/109 zuerkannt hat (vgl. Art. 9 dieser Richtlinie), steht der Antragsgegnerin lediglich die Möglichkeit offen, unter Vortrag ihrer Bedenken eine entsprechende Entscheidung der spanischen Behörden anzuregen.
b) Der aufgrund der Ausweisungs- und Ablehnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 14. September 2012 und deren Bestätigung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ausgereiste Antragsteller ist nicht verpflichtet, bereits jetzt (vor seiner Wiedereinreise) die Voraussetzungen für einen Aufenthalt im Bundesgebiet zu erfüllen, die die Regelungen der Art. 14 ff. RL 2003/109 – zusätzlich zum Nachweis des zum Daueraufenthaltsrechts-EG – benennen.
Diese Regelungen, die dem Zweck dienen, dem in einem Mitgliedstaat daueraufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen eine den Unionsbürgern angenäherte Freizügigkeit zu gewähren (vgl. Erwägungsgrund 2 der Richtlinie), gehen davon aus, dass sich der langfristig Aufenthaltsberechtigte in anderen Mitgliedstaaten ohne vorherige Erlaubnis für drei Monate aufhalten kann (vgl. Art. 14 Abs. 1, Art. 15 Abs. 1 RL 2003/109), um diese weiteren Voraussetzungen zu erfüllen, darunter die von der Antragsgegnerin hervorgehobene Unterhaltssicherung durch Erwerbstätigkeit. Art. 21 des Schengener Durchführungsübereinkommens ermöglicht (auch) diesem Personenkreis die visumfreie Einreise. Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 2 RL 2003/109 behandelt zwar den Fall, dass sich die zuständigen Behörden des zweiten Mitgliedstaats noch während des Aufenthalts im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats mit dem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels befassen. Allerdings ermöglicht diese Vorschrift den Mitgliedstaaten lediglich, ein solches Vorgehen des Antragstellers zu akzeptieren; sie ermöglicht es ihnen nicht, diese Verfahrensweise zu fordern.
Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller die in Art. 14 ff. RL 2003/109 aufgestellten weiteren Voraussetzungen nicht erfüllen wird, liegen nicht vor; daher kann offen bleiben, ob – und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen – der zweite Mitgliedstaat wegen einer solchen Annahme schon die Einreise untersagen oder den Aufenthalt vor dem Ablauf der Dreimonatsfrist beenden kann. Der Antragsteller hat bis zum Frühsommer 2012 seinen Unterhalt durch eine sozialversicherungspflichtige unselbständige Erwerbstätigkeit gesichert. Diese Erwerbstätigkeit hat im Zusammenhang mit der Ausreise geendet, zu der sich der Antragsteller aufgrund des Misserfolgs im einstweiligen Rechtsschutzverfahren entschlossen hat. Auf das (auch ansonsten nicht wesentlich neue) Vorbringen im Schriftsatz vom 16. Januar 2013, das frühere Beschäftigungsunternehmen des Antragstellers habe sich gegenüber dem Bevollmächtigten des Antragstellers hinsichtlich einer Wiedereinstellung positiv geäußert, kommt es bei dieser Sachlage nicht mehr an.
c) Der Senat geht für das hiesige Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO von der Richtigkeit der Auffassung des Antragstellers aus, Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung stünden der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG ebenfalls nicht entgegen (vgl. insoweit auch Abschnitt II.2 der Gründe des Senatsbeschlusses vom 22.5.2012 im Verfahren 19 CS 12.465).
Nach der Regelung des Art. 17 Abs. 1 RL 2003/109, mit der sich die Antragsgegnerin nur kursorisch befasst, kann dem langfristig Aufenthaltsberechtigten oder seinen Familienangehörigen der Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat versagt werden, wenn die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt (Unterabs. 1). Trifft ein Mitgliedstaat eine entsprechende Entscheidung, so berücksichtigt er die Schwere oder die Art des von dem langfristig Aufenthaltsberechtigten oder seinem bzw. seinen Familienangehörigen begangenen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit bzw. die von der betreffenden Person ausgehende Gefahr (Unterabs. 2).
Zum Verständnis dieser Vorschriften kann auf die Regelungen über die Zuerkennung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zurückgegriffen werden, die (vom Fünfjahreszeitraum abgesehen) im Wesentlichen die selben Anforderungen stellen wie die Regelungen über den Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem diese Rechtsstellung erworben wurde. Die Vorschrift des Art. 6 RL 2003/109 betreffend die Berücksichtigung der öffentlichen Ordnungs- und Sicherheitsinteressen bei der Zuerkennung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten fordert, auch der (im anderen Mitgliedstaat naturgemäß noch nicht vorhandenen) "Dauer des Aufenthalts und dem Bestehen von Bindungen im Aufenthaltsstaat angemessenen Rechnung" zu tragen, ist jedoch im übrigen wortgleich abgefasst. Für eine gleichartige Bedeutung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bei der (erstmaligen) Zuerkennung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten und der Gewährung des Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat spricht auch der Erwägungsgrund 8 der Richtlinie, wonach Drittstaatsangehörige, die die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten "erlangen und behalten" möchten, keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen sollten, sowie die Entstehungsgeschichte des Art. 17 RL 2003/109 (vgl. hierzu Hailbronner, AuslR, § 38a Rn. 20 ff.).
Die von Art. 6 RL 2003/109 (und somit auch von Art. 17 dieser Richtlinie) errichtete Schwelle liegt – entgegen der Auffassung des Antragstellers – niedriger als die (im Richtlinien-Erlassverfahren heftig umstrittene - vgl. Hailbronner, AuslR, § 9a Rn. 34 - und möglicherweise deshalb abweichend von der für den Entzug des Freizügigkeitsrechts festgelegten) Gefahrenschwelle für die Ausweisung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten (Art. 12 der Richtlinie - und diese ihrerseits unter der für Unionsbürger geltenden Ausweisungsschwelle, vgl. EuGH vom 8.12.2011 <Ziebell> C-371/08, insbesondere Rn. 74). Dies ergibt sich daraus, dass Art. 12 Abs. 1 RL 2003/109 nicht nur von einer Gefahr, sondern von einer "gegenwärtigen, hinreichend schweren" Gefahr spricht, und dass – worauf Hailbronner (AuslR, § 9a Rn. 35 ff.) hinweist – Art. 9 Abs. 3 RL 2003/109 den Mitgliedstaaten Bestimmungen erlaubt, wonach der Drittstaatsangehörige seine Rechtsstellung verliert, wenn er in Anbetracht der Schwere der von ihm begangenen Straftaten eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung darstellt, ohne dass diese Bedrohung eine Ausweisung im Sinne von Art. 12 der Richtlinie rechtfertigt.
Infolge der Abwägungsabhängigkeit des in den Art. 6 und 17 RL 2003/109 genannten Versagungsgrundes und der Einbeziehung sowohl der Schwere und Art des Verstoßes als auch des Grades der Wiederholungsgefahr lässt sich eine feste Strafbarkeitsgrenze nicht benennen. Soweit jedoch besondere Umstände (beispielsweise eine besonders hohe Wiederholungsgefahr) nicht vorliegen, kann die anlässlich der Umsetzung der Richtlinie zunächst vom Bundesrat vorgeschlagene Strafbarkeitsgrenze (Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Jugend- oder Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten oder einer Geldstrafe von mindestens 90 Tagessätzen) als Anhaltspunkt herangezogen werden, die im Übrigen auch bei Einbürgerungen anzuwenden ist (vgl. § 12a Abs. 1 StAG; im gleichen Sinn Hailbronner, AuslR, § 9a Rn. 42, sowie AVwVAufenthG Nr. 9a.2.1.5.2.1; zur Parallelvorschrift des § 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AufenthG vgl. VGH Baden-Württemberg, U.v. 22.7.2009, InfAuslR 2010,59, Abschnitt I.3.a,dd der Entscheidungsgründe).
Vorliegend spricht viel dafür, dass der Versagungsgrund des Art. 17 RL 2003/109 (Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit) im Falle des Antragstellers nicht vorliegt. Die Antragsgegnerin verweist insoweit auf den rechtskräftigen Strafbefehl vom 10. Mai 2011, durch den der Antragsteller wegen unrichtiger Angaben (betreffend insbesondere den Zeitpunkt der Trennung von seiner Ehefrau) zur Beschaffung eines Aufenthaltstitels verurteilt worden ist. Dieser Strafbefehl liegt jedoch unterhalb der als Anhaltspunkt heranziehbaren Strafbarkeitsgrenze von 90 Tagessätzen (Geldstrafe in Höhe von 70 Tagessätzen). Bei der im Rahmen des Art. 6 RL 2003/109 gebotenen, an die strafrichterliche Würdigung nicht gebundenen Abwägung ist darüber hinaus zu berücksichtigen, dass die Erfüllung der Voraussetzungen des Daueraufenthaltsrechts-EG in Spanien durch den Antragsteller einen für die Strafzumessung bedeutsamen Gesichtspunkt darstellen dürfte, dem Strafrichter jedoch nicht bekannt gewesen ist. Nicht zuletzt aufgrund dieses Daueraufenthaltsrechts ist schließlich auch die Gefahr einer Wiederholung der begangenen Straftat weitgehend auszuschließen.
Liegt der Versagungsgrund des Art. 17 RL 2003/109 (und demzufolge erst recht ein Ausweisungsgrund im Sinne des Art. 12 derselben Richtlinie) nicht vor, ist die behördliche Ausübung des Ausweisungsermessens nach § 55 AufenthG (Nr. 1 des Bescheides vom 14. September 2011) wegen Verstoßes gegen vorrangige Vorschriften des Gemeinschaftsrechts rechtsfehlerhaft mit der Folge, das im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 AufenthG nicht zugrunde gelegt werden kann (vgl. Discher in GK AufenthG, RdNrn. 1653.1 ff. vor §§ 53 ff.; zur Unzulässigkeit einer Beeinträchtigung der praktischen Wirksamkeit der RL 2003/109 vgl. EuGH, U.v. 24.4.2012 <Servet Kamberaj> Rs. C-571/10 Rn. 66 ff.).
d) Der Antragsteller setzt im vorliegenden Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO seine Angriffe gegen die Annahme der Antragsgegnerin fort, ihm seien die durch den Strafbefehl vom 10. Mai 2011 geahndeten unrichtigen Angaben gegenüber der Ausländerbehörde zur Last zu legen. Auf diese Thematik (ebenso wie auf die Frage der Befristung der Ausweisung) ist es im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht angekommen, weil – wie dem Senatsbeschluss vom 22. Mai 2012 zu entnehmen ist – weder die Voraussetzungen des § 31 AufenthG noch die Voraussetzungen des § 38a AufenthG dargetan waren, und kommt es auch im vorliegenden Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO nicht an, weil die Voraussetzungen des § 31 AufenthG nach wie vor nicht dargetan sind und weil dem Anspruch des Antragstellers auf Aufenthalt im Bundesgebiet aufgrund des Daueraufenthaltsrechts-EG der Strafbefehl vom 10. Mai 2011 aller Voraussicht nach nicht entgegengehalten werden kann. Im Übrigen ist hinsichtlich dieser Thematik weder eine Veränderung der maßgeblichen Sach- oder Rechtslage, wie sie von § 80 Abs. 7 VwGO vorausgesetzt wird, erkennbar noch ein Vorbringen, das geeignet ist, die diesbezügliche Einschätzung des Senats im Beschluss vom 22. Mai 2012 (vgl. Abschnitt II.1. der Gründe dieses Beschlusses) in Frage zu stellen; die Einwendungen des Antragstellers (auch im Schriftsatz vom 16.1.2013) gegen die Ausführungen der Antragsgegnerin in Abschnitt 1 der Antragserwiderung sind im Wesentlichen nicht überzeugend. Einer Folgenbeseitigung im Sinne des § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO bedarf es nicht; der Aufenthaltsanspruch des Antragstellers hat erst seit dem Nachweis des Daueraufenthaltsrechts-EG im Oktober 2012 Aussicht auf Erfolg. Diesem Umstand trägt der Senat durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage Rechnung; er beseitigt auf diese Weise das einzige Hindernis (die von den Nrn. III und IV des streitgegenständlichen Bescheides vorausgesetzte Vollziehbarkeit), das der visumfreien Einreise des Antragstellers in das Bundesgebiet sowie der – Inhabern des Daueraufenthaltsrechts-EG ebenfalls zustehenden – Möglichkeit entgegengestanden hat, im zweiten Mitgliedstaats die in Art. 14 ff. RL 2003/109 genannten weiteren Voraussetzungen innerhalb des Dreimonatszeitraums zu erfüllen. [...]