VG Göttingen

Merkliste
Zitieren als:
VG Göttingen, Beschluss vom 05.03.2013 - 2 B 656/12 - asyl.net: M20624
https://www.asyl.net/rsdb/M20624
Leitsatz:

1. Einstweiliger Rechtsschutz gegen die Ablehnung der Verlängerung eines Schengen-Visums ist auch in den Fällen gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren, in denen der Visumsinhaber den für seinen wahren Aufenthaltszweck erforderlichen Aufenthaltstitel vor seiner Einreise in das Bundesgebiet nicht eingeholt hat.

2. In Fällen der vom Visumsinhaber allein steuerbaren Ursachen für seinen weiteren Verbleib im Bundesgebiet scheidet eine Verlängerung seines Schengen-Visums aus den in Artikel 33 Visakodex genannten Gründen regelmäßig aus.

3. Die Verlängerung eines Schengen-Visums kann daher nicht zu dem Zweck erfolgen, dem Visumsinhaber den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zur persönlichen Führung eines Verwaltungsrechtsstreits zu ermöglichen.

4. Die wiederholte Stellung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels mit demselben Aufenthaltszweck aufgrund desselben, den hiermit befassten (Ausländer-)Behörden unterbreiteten Lebenssachverhaltes löst die Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG nicht erneut aus, sofern über den vorangegangenen, verfahrensgegenständlichen Antrag bereits entschieden wurde und die Überprüfung dieser negativen Entscheidung noch rechtshängig ist.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Schengen-Visum, Visakodex, Kurzaufenthalt, kurzfristiger Aufenthalt, Fortgeltungsfiktion, Verlängerungsantrag, Verlängerung,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, VO 810/2009 Art. 33, AufenthG § 81 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

a) Die Antragsteller haben keinen Anspruch auf Verlängerung ihrer Schengen-Visa über deren Gültigkeit bis zum 16.12.2012 hinaus. Ein solcher Anspruch käme allenfalls nach § 6 Abs. 2 AufenthG, zuletzt geändert durch Art. 1 Nr. 5 a) des 2. Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 22.11.2011 (BGBl I., S. 2258) mit Wirkung vom 26.11.2011, in Betracht. Nach Satz 1 dieser Vorschrift können Schengen-Visa nach Maßgabe der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 bis zu einer Gesamtaufenthaltsdauer von drei Monaten innerhalb einer Frist von sechs Monaten von dem Tag der ersten Einreise an verlängert werden. Für weitere drei Monate innerhalb der betreffenden Sechsmonatsfrist kann ein Schengen-Visum nach Satz 2 der e.g. Vorschrift aus den in Artikel 33 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009/EG [Visakodex] genannten Gründen, zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder aus völkerrechtlichen Gründen als nationales Visum verlängert werden.

aa) Sofern es die Verlängerung der am 24.11.2011 ausgestellten und bis zum 16.12.2012 gültigen Schengen-Visa der Antragsteller betrifft, wäre gem. § 6 Abs. 2 Satz 1 AufenthG deren Verlängerung ausgehen von der ersten Einreise der Antragsteller innerhalb des ersten Sechs-Monats-Zeitraums am 18.12.2011 - unter Berücksichtigung einer maximalen Aufenthaltsdauer von 90 Tagen, gerechnet ab der zweiten Einreise der Antragsteller am 21.09.2012 - längstens bis zum 20.12.2012 möglich, sofern die - nachstehend unter bb) und cc) wiedergegebenen - materiellen Erteilungsvoraussetzungen vorlägen. Denn die Verlängerung nach Satz 1 dieser Vorschrift kann je Bezugszeitraum von 6 Monaten, gerechnet von dem Tag der ersten Einreise des Betroffenen in das Hoheitsgebiet der Schengen-Staaten, maximal bis zur Gesamtaufenthaltsdauer von 3 Monaten innerhalb eines 6-monatigen Bezugszeitraums erfolgen (Zeitler, HTK-AuslR, § 6 AufenthG, zu Abs. 1 und 2, Ziffer 5.1). Dies ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Nr. 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 810/2009/EG [Visakodex], wonach ein Schengen-Visum grundsätzlich nur zu geplanten Kurzaufenthalten von bis zu 3 Monaten berechtigen und danach zumindest eine formelle Ausreise aus dem Schengen-Gebiet erfolgen muss, auch wenn diese nur kurzfristig erfolgt (vgl. EuGH, Urteil vom 03.10.2006 - C-241/05 - Nicolae Bot gegen Préfet du Val-de-Marne, Slg. I-9627, zit. nach juris Rn. 33 und 38 f., zu Art. 20 SDÜ; Funke-Kaiser, a.a.O., § 6 AufenthG Rn. 42).

Dem entspricht auch die Vorgabe der Europäischen Kommission gem. Teil V Ziffer 1.5. des sog. Visakodex-Handbuch, wonach im Allgemeinen die Visumsverlängerung nicht zu einer Gesamtaufenthaltsdauer von mehr als 90 Tagen innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen führen sollte. Gemäß Art. 51 i.V.m. Art. 52 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009/EG [Visakodex] ist die Europäische Kommission befugt, durch Beschluss Hinweise und Beispiele zur Rechtsanwendung des Visakodex zu geben. Von dieser Befugnis hat die Europäische Kommission mit Beschluss vom 19.03.2010 über ein Handbuch für die Bearbeitung von Visumsanträgen und die Änderung von bereits erteilten Visa, K (2010) 1620, abrufbar unter: ec.europa.eu/home-affairs/policies/borders/docs/c_2010_1620_de.pdf, Gebrauch gemacht. Gemäß Erwägungsgrund 6 des Visakodex-Handbuch sollen die Mitgliedsstaaten zur Gewährleistung einer einheitlichen Umsetzung der Unionsbestimmungen über die Bearbeitung von Visumsanträgen und die Änderung von bereits erteilten Visa ihre zuständigen Behörden anweisen, sich bei der Bearbeitung von Visumsanträgen und der Änderung erteilter Visa in erster Linie auf das Handbuch zu stützen.

Für die Zeit ab dem 21.12.2012 kann die Verlängerung der Schengen-Visa der Antragsteller gem. § 6 Abs. 2 Satz 2 AufenthG für eine Gesamtaufenthaltsdauer von weiteren 3 Monaten dagegen nur als nationales Visum erfolgen, sofern die materiellen Voraussetzungen hierfür gegeben sind (dazu nachstehend bb) und cc)); hier also längstens bis zum 20.03.2013. Denn der Regelungsbereich des Visakodex erfasst nur Schengen-Visa für den kurzfristigen Aufenthalt; Visa für einen längeren Aufenthalt werden dagegen aufgrund nationaler Bestimmungen erteilt (Zeitler, a.a.O., Ziffer 5.2).

Die materiellen Voraussetzungen für die Verlängerung der Schengen-Visa der Antragsteller als solches bis zum 20.12.2012 gem. § 6 Abs. 2 Satz 1 AufenthG und darüber hinaus als nationales Visum bis zum 20.03.2013 gem. § 6 Abs. 2 Satz 2 AufenthG liegen indes nicht vor.

bb) Art. 33 Abs. 1 der in § 6 Abs. 2 Sätze 1 und 2 AufenthG in Bezug genommenen Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 13.07.2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft [Visakodex] - kurz VK -, ABl. L 243 vom 15.09.2009, S. 1 ff., bestimmt, dass die Gültigkeitsdauer und/oder die Aufenthaltsdauer eines erteilten (Schengen-)Visums verlängert werden, wenn die zuständige Behörde eines Mitgliedsstaates der Ansicht ist, dass ein Visumsinhaber das Vorliegen höherer Gewalt oder humanitärer Gründe belegt hat, aufgrund derer er daran gehindert ist, das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des Visums bzw. vor Ablauf der zulässigen Aufenthaltsdauer zu verlassen. Diese Verlängerungen werden kostenlos vorgenommen. Nach Abs. 4 dieses Artikels ist für die Verlängerung eines (Schengen-)Visums die Behörde des Mitgliedsstaates zuständig, in dessen Hoheitsgebiet sich der Drittstaatsangehörige zum Zeitpunkt der Beantragung der Verlängerung befindet; danach hier der Antragsgegner, weil sich die Antragsteller zum Zeitpunkt der Antragstellung in H. aufgehalten haben und dort wohl nach wie vor wohnen.

Die Antragsteller waren weder durch höhere Gewalt noch durch das Vorliegen humanitärer Gründe daran gehindert, das Bundesgebiet rechtzeitig vor Ablauf ihrer Schengen-Visa zu verlassen. Als Beispiel für höhere Gewalt i.S.d. Art. 33 Abs. 1 VK nennt das Visakodex-Handbuch der Europäischen Kommission, an dem sich der Antragsgegner als zuständige Ausländerbehörde zu orientieren hat (vgl. oben Erwägungsgrund 6 des Visakodex-Handbuches, a.a.O.), die kurzfristige Änderung des Flugplans durch die Fluggesellschaft (z.B. wegen der Wetterverhältnisse, Streik). Als Beispiel für humanitäre Gründe i.S.d. Art. 33 Abs. 1 VK führt das Visakodex-Handbuch die plötzliche schwere Erkrankung des Visumsinhabers (d.h. der Visumsinhaber ist reiseunfähig) oder die plötzliche schwere Erkrankung oder den Tod eines engen Verwandten, der in einem (Schengen-) Mitgliedsstaat lebt, an (a.a.O., S. 116). Gemessen hieran sind die von den Antragstellern im vorliegenden Verfahren geltend gemachten Gründe für ihren weiteren Verbleib im Bundesgebiet zweifelsohne keinem der e.g. Beispiele zuzuordnen oder aber von ihrer Tragweite her als vergleichbar schwerwiegend einzustufen. Anders als in den e.g. Beispielen des Visakodex-Handbuches beruht nämlich der jetzige Verbleib der Antragsteller im Bundesgebiet allein auf deren freiem Willensentschluss und ist deshalb von ihnen - anders als in den e.g. Beispielen - steuerbar. Vom Visumsinhaber steuerbare Ursachen können nach Auffassung der Kammer keine Visumsverlängerung gem. Art. 33 Abs. 1 VK rechtfertigen. [...]