Bei einer Person, die nicht in der lateinischen Schriftsprache alphabetisiert worden ist und es mit erheblichen Mühen verbunden ist, einfache Kenntnisse der deutschen Schriftsprache zu erwerben, ist der Alphabetisierungs- und Spracherwerb zum Ehegattennachzug in Frankreich in angemessener Zeit nicht möglich.
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2. Auch die Voraussetzung, dass sich der nachzugswillige Ehegatte zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 5 AufenthG) ist bei der im Falle des Nachzugs zu einem deutschen Staatsangehörigen gebotenen verfassungskonformen Auslegung der Vorschrift erfüllt.
Zwar hat der Kläger nicht bereits im Ausland einfache deutsche Sprachkenntnisse erworben. Nach § 2 Abs. 8 AufenthG entsprechen einfache deutsche Sprachkenntnisse dem Niveau A 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER). Dieses beinhaltet als unterstes Sprachniveau folgende sprachliche Fähigkeiten (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. März 2010 – 1 C 8.09 -, BVerwGE 136, 231 <234>): "Kann vertraute, alltägliche Ausdrücke und ganz einfache Sätze verstehen und verwenden, die auf die Befriedigung konkreter Bedürfnisse zielen. Kann sich und andere vorstellen und anderen Leuten Fragen zu ihrer Person stellen - z.B. wo sie wohnen, was für Leute sie kennen oder was für Dinge sie haben - und kann auf Fragen dieser Art Antwort geben. Kann sich auf einfache Art verständigen, wenn die Gesprächspartnerinnen oder Gesprächspartner langsam und deutlich sprechen und bereit sind zu helfen." Dabei sind auch Grundkenntnisse der deutschen Schriftsprache erforderlich (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. März 2010, a.a.O.). Der Nachweis, dass einfache deutsche Sprachkenntnisse vorliegen, kann durch das Bestehen einer Sprachprüfung auf dem Niveau A 1 GER erbracht werden. Der Kläger erfüllt die genannten Voraussetzungen nicht. Er hat die Prüfungen auf dem Niveau A 1 des Goethe-Instituts Paris nicht bestanden und ist nicht in der Lage, auf Deutsch zu schreiben.
Der Kläger erfüllt auch nicht die Voraussetzungen, unter denen § 30 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 5 AufenthG von dem Spracherfordernis ausnahmsweise abgesehen wird. Nach § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AufenthG ist die Voraussetzung, dass der nachziehende Ehegatte sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann, unbeachtlich, wenn dieser wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist, entsprechende Sprachkenntnisse nachzuweisen Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger wegen einer Krankheit daran gehindert ist, die deutsche Sprache zu erlernen. Seine Behauptung, er sei infolge einer Traumatisierung nicht in der Lage, Deutsch zu lernen, ist nicht belegt worden. Die vorgelegte Stellungnahme der Psychologin ... vom 13. November 2012 trifft keine Aussage dazu, dass eine seelische Erkrankung ursächlich dafür ist, dass der Kläger Schwierigkeiten hat, die deutsche Sprache zu erlernen. Vielmehr werden darin die Probleme des Klägers beim Erlernen der deutschen Sprache als eines von mehreren traumatischen Ereignissen bezeichnet, die zu Depressionen und Angstzuständen beim Kläger geführt haben. Der Umstand, dass der Kläger in der lateinischen Schriftsprache nicht alphabetisiert worden ist und es für ihn mit erheblichen Mühen verbunden sein dürfte, einfache Kenntnisse insbesondere der deutschen Schriftsprache nachzuweisen, genügt nicht für die Annahme eines Ausnahmefalls nach § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AufenthG (vgl. zur Erstalphabetisierung im Erwachsenenalter: BVerwG, Urteil vom 30. März 2010, a.a.O., S. 236).
Im vorliegenden Einzelfall überschreitet aber das Spracherfordernis als Nachzugsvoraussetzung im Visumverfahren das zumutbare Ausmaß der Beeinträchtigung der durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange des Klägers und der Beigeladenen zu 2. Es ist deshalb im Rahmen der nach § 28 Abs. 1 Satz 5 AufenthG bei einem Nachzug zu einem deutschen Ehegatten nur angeordneten entsprechenden Anwendung des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG von dem Erfordernis des Spracherwerbs vor der Einreise des Klägers abzusehen. [...]
Bei Berücksichtigung der individuellen Lernvoraussetzungen und der Lebensumstände des Klägers gab es für ihn weder in Frankreich noch in Deutschland Lernangebote, mit welchen er sich einfache Kenntnisse der deutschen Sprache einschließlich der deutschen Schriftsprache in angemessener Zeit hätte aneignen können. Aufgrund des Gutachtens des Goethe-Instituts vom 23. November 2007 und den eigenen – glaubhaften – Bekundungen des Klägers in seinem Schreiben gegenüber der Botschaft vom 27. November 2007 steht fest, dass der Kläger in seiner Muttersprache nur geringe Lese- und Schreibkenntnisse und im lateinischen Alphabet geringe Lese- und keinerlei Schreibkenntnisse hat. Grund hierfür ist, dass er lediglich die Grundschule in Sri Lanka besucht und dort keine Fremdsprache erlernt hat, die das lateinische Alphabet verwendet. Seine fehlenden Schreibkenntnisse im lateinischen Alphabet werden auch durch die von ihm vorgelegten Prüfungsergebnisse belegt. Er hat in den am 3. November 2011 und am 26. Juni 2012 abgelegten Prüfungen für das Goethe-Zertifikat A 1 im Bereich "Schreiben" jeweils 0 Punkte erzielt. Ausgehend von der Einteilung, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in seinen Studien betreffend Alphabetisierungskurse vornimmt, gehört er damit zu der Personengruppe der "funktionalen Analphabeten nicht-lateinischer Schrift" (vgl. Working Paper 42, Das Integrationspanel, Entwicklung der Deutschkenntnisse und Fortschritte der Integration bei Teilnehmenden an Alphabetisierungskursen, Erscheinungsjahr: 2012, S. 7).
Aufgrund dieser Form des Analphabetismus kann der Kläger einfache Deutschkenntnisse, die wie dargelegt auch Grundkenntnisse der Schriftsprache beinhalten, nur erwerben, wenn er das Lesen und Schreiben des lateinischen Alphabets erlernt. Dies ist in einem Deutsch-Sprachkurs möglich, der zugleich das Erlernen des lateinischen Alphabets beinhaltet. Derartige Sprachkurse werden in Deutschland auf Grundlage der Integrationskursverordnung als Integrationskurse für Personen, die nicht oder nicht ausreichend lesen oder schreiben können, unter der Bezeichnung "Alphabetisierungskurs" durchgeführt (vgl. § 13 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 IntV). Dem Kläger war es allerdings nicht möglich, an einem Alphabetisierungskurs in Deutschland teilzunehmen. Er hätte wenigstens an dem Basis-Alpha-Kurs, der 300 Unterrichtseinheiten umfasst, teilnehmen müssen, um eine "Grundalphabetisierung" zu erlangen (vgl. Hrsg.: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Konzept für einen bundesweiten Alphabetisierungskurs, Stand: Oktober 2009, S. 48), die ihn dazu befähigt hätte, an einem "normalen" Sprachkurs für Deutsch in Frankreich mit Aussicht auf Erfolg teilzunehmen. Da für Alphabetisierungskurse eine Wochenstundenzahl von 12 bis 16 Unterrichtseinheiten pro Woche vorgesehen ist (vgl. Konzept für einen bundesweiten Alphabetisierungskurs, a.a.O., S. 140), hätte der Kläger wenigstens 18 Wochen benötigt, um einen Basis-Alpha-Kurs in Deutschland zu besuchen. Nach den Rechten, die dem Kläger nach Art. 21 Abs. 1 SDÜ zustehen, darf er sich allerdings nur bis zu drei Monate innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Im Übrigen wäre dem Kläger die Teilnahme an einem Basis-Alpha-Kurs nur unter Aufgabe seiner Berufstätigkeit möglich gewesen. Dies war ihm nicht zumutbar.
Der Kläger hatte auch keine Möglichkeit, in Frankreich an einem Sprachkurs für Deutsch, der zugleich eine Alphabetisierung vermittelt, teilzunehmen. In Frankreich werden weder vom Goethe-Institut noch von anderen Institutionen derartige Kurse angeboten. Für den Kläger hätte nach der erfolglosen Teilnahme an einem Intensivkurs und der Sprachprüfung "Start Deutsch 1" beim Goethe-Institut eine Möglichkeit des Spracherwerbs auch nicht darin gelegen, über einen längeren Zeitraum an einer Sprachschule in Frankreich Deutsch zu lernen. Dies wäre – ohne eine zuvor oder jedenfalls gleichzeitig durchgeführte Alphabetisierung – nicht zielführend gewesen. Nach den Erkenntnissen, die auf der Grundlage von in Deutschland speziell für Migranten durchgeführten Sprachkursen gewonnen worden sind, ist bei "lernungewohnten" funktionalen Analphabeten wie dem Kläger auch bei einer längeren Teilnahme an einem Deutschkurs nicht davon auszugehen, dass sie den wachsenden sprachlichen und schriftlichen Anforderungen eines solchen Kurses gerecht werden, weil sie mit den schriftsprachlichen Anforderungen des Deutschunterrichts und den verschiedenen Arbeitsweisen des heutigen Zweitsprachenunterrichts nicht zurechtkommen (vgl. Konzept für einen bundesweiten Alphabetisierungskurs, a.a.O., S. 39). [...]