VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 13.04.2013 - 7 K 1045/12.GI - asyl.net: M20550
https://www.asyl.net/rsdb/M20550
Leitsatz:

Die Funktionärstätigkeit in regionalen und lokalen Vereinigungen der Islamischen Gemeinschaft Milli Görus rechtfertigt keine Ausweisung nach § 54 Nr. 5 AufenthG.

Schlagwörter: Funktionär, Islamische Gemeinschaft, Milli Görüs, Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, Ausweisungsgrund, freiheitliche demokratische Grundordnung, Gefährdung, Gefahr, Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, Sicherheitsgefährdung, Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland , IGMG,
Normen: AufenthG § 54 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

Entscheidend bleibt daher die Frage, ob ein Ausweisungsgrund vorliegt. Gemäß § 5 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels (zwingend) zu versagen, wenn einer der Ausweisungsgründe nach § 54 Nr. 5 bis 5b AufenthG vorliegt. Im vorliegenden Verfahren kommt ersichtlich nur der Ausweisungsgrund des § 54 Nr. 5a AufenthG in Betracht. Danach wird in der Regel ausgewiesen, wenn der Ausländer die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet (die weitere Alternative der Gewaltbereitschaft greift ersichtlich nicht ein). Tatsächlich erfüllt der Kläger diese Ausweisungsvoraussetzungen nicht und liegt mithin ein Ausweisungsgrund nicht vor.

§ 54 Nr. 5a AufenthG verlangt die Feststellung einer Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Dafür reicht allein die bloße Zugehörigkeit zu einer Vereinigung, die ihrerseits wegen Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder der inneren Sicherheit verboten werden kann, nicht aus. Der Ausländer muss selbst eine Gefahr darstellen. Es muss eine auf Tatsachen gestützte, nicht lediglich entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts bestehen. Reine Vermutungen oder der Verdacht der Verwirklichung eines Gefährdungstatbestandes reichen für die Regelausweisung nach § 54 Nr. 5a AufenthG nicht aus. Ein anderer, weiterer Maßstab gilt im Einbürgerungsverfahren. Dort genügt die auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützte Annahme, dass der Ausländer Bestrebungen unterstützt oder unterstützt hat, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet sind (vgl. § 11 Staatsangehörigkeitsgesetz). Schließlich muss die Gefahr i.S.d. § 54 Nr. 5a AufenthG für die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig sein (zu Vorstehendem vgl. Discher in GK-AufenthG, Stand: August 2009, Rdnr. 587 ff. zu § 54; BVerwG, Urteile vom 15.03.2005 - 1 C 26.03 -, vom 13.01.2009 - 1 C 2.08 - und vom 02.12.2009 - 5 C 24.08 - [zu § 11 StAG]; Hess. VGH, Beschluss vom 10.01.2006 - 12 TG 1911/05 -; OVG Lüneburg, Urteil vom 15.09.2009 - 11 LB 487/07 -; jeweils nach juris).

Unter Berücksichtigung der vorstehend genannten Grundsätze finden sich nach dem Inhalt der vorliegenden Behördenakte, dem Protokoll der letzten Sicherheitsbefragung vom September 2012 und unter Berücksichtigung der Mitteilungen des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport sowie des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen keine ausreichenden Hinweise darauf, dass vom Kläger eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgeht.

Zwar mag davon ausgegangen werden können, dass die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG), bei der der Kläger Mitglied und für die er aktiv ist, als Organisation angesehen werden kann, die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtete Ziele verfolgt, auch wenn der Verein in jüngerer Zeit als nicht durchgehend homogener Verband beschrieben wird, bei dem davon ausgegangen werden könnte, dass sämtliche Mitglieder bzw. Anhänger islamistische Ziele verfolgen oder unterstützen (so Hessischer Verfassungsschutzbericht 2011, bekannt gegeben im August 2012, zur Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs, S. 41; OVG Lüneburg, a.a.O., m.w.N.).

Der Kläger ist Vorstandsmitglied und in besonderem Maße aktiv durch Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, wie er selbst einräumt. Aber die Mitgliedschaft oder das Aktivsein reichen für die Annahme einer Gefahr, wie schon oben dargestellt, nicht aus, und für eine individuell vom Kläger ausgehende konkrete und gegenwärtige Gefahr gibt es keine Erkenntnisse.

Nach dem Inhalt der Behördenakte, der Gerichtsakte und den eigenen Erklärungen des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor Gericht steht fest, dass er als Pressereferent über Veranstaltungen der IGMG berichtet, auf solche hinweist und sonstige Öffentlichkeitsarbeit verrichtet. Nirgends aber finden sich Hinweise, dass er verbal agieren würde gegen das demokratische Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland und für einen Vorrang der Scharia oder des Korans. Anlässlich seiner letzten Sicherheitsbefragung im September 2012 bekräftigt der Kläger wiederholt, dass er die Demokratie in der Bundesrepublik für gut erachte, die Scharia für ihn nur im religiösen Leben gelte und das demokratische System Vorrang genieße. Selbst wenn dies bloße Scheinbehauptungen sein sollten, dann fehlt gleichwohl andererseits jeglicher Hinweis darauf, dass der Kläger durch Handlungen oder Worte sich für eine islamische Gesellschaftsordnung engagiert, die für einen gesellschaftlichen Wandel und den Umbruch staatlicher Strukturen eintritt. Auf die gerichtliche Anfrage vom 6. August 2012 an das Hessische Ministerium des Innern und für Sport hinsichtlich der dem Kläger vorhaltbarer Erkenntnisse erfolgt eine Auskunft vom 17. August 2012, die ihrerseits inhaltsleer und ohne Aussagegehalt ist, indem u.a. auf die Verantwortung des Klägers für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in der IGMG und dessen Kontakte zur IGMG-Zentrale in Kerpen abgestellt wird. Warum und in welcher Form diese Kontakte und Verantwortlichkeiten eine Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellen sollen, wird nicht erklärt.

Nichts anderes ergibt sich aus der Tätigkeit des Klägers (Herausgeber und Chefredakteur) für die in türkischer Sprache erscheinende Zeitung Hayat. Diesbezüglich nimmt das Hessische Ministerium des Innern und für Sport in der Auskunft vom 17. August 2012 exemplarisch Bezug auf eine Online-Ausgabe der Hayat vom Januar 2011 und Berichte über Veranstaltungen der IGMG. Das Gericht hat "online" diese Ausgabe der Hayat, wie auch viele andere Ausgaben, in Übersetzung angesehen. Bemerkenswerte Artikel des Klägers in der Hinsicht, dass sie sich kritisch mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland auseinandersetzen oder für eine religiöse, an Koran und Sunna orientierte, Gesellschaftsordnung einsetzen würden, hat das Gericht dabei nicht gefunden. Auch das Hessische Ministerium des Innern und für Sport erklärt in der genannten Auskunft und auch sonst nicht, welche Publikationen der Hayat konkret sicherheitsrelevant sein sollen.

Schließlich wird dem Kläger durch das Hessische Ministerium des Innern und für Sport vorgehalten, dass er als Redakteur für die türkische Tageszeitung Milli Gazete arbeite. Zum einen wird auch hier nicht näher ausgeführt, warum sich daraus konkret eine Sicherheitsgefahr ableiten lassen soll. Zum anderen kann nach dem Inhalt der Behörden- und Gerichtsakte nicht bestätigt werden, dass der Kläger tatsächlich als Redakteur für diese Tageszeitung arbeitet. Feststellbar ist allein, und dies bestätigt der Kläger, dass er Artikel über Veranstaltungen der IGMG verfasst und diese an verschiedene Nachrichtenmedien versendet. Dabei werden offenbar gelegentlich solche Artikel auch von der Milli Gazete veröffentlicht. Eine beständige, gegenwärtige und aktive Betätigung für die Milli Gazete lässt sich daraus nicht herleiten.

Die Mitgliedschaft des Klägers in der Islamischen Föderation Hessen (IFH) und der DITIP-Moschee belegt ebenfalls keine Gefahr im Sinne des § 54 Nr. 5a AufenthG. Bei der IFH handelt es sich um die hessische Dachorganisation von der IGMG nahestehenden Vereinen (vgl. Gutachten Deutsches Orient-Institut: Die islamische Religionsgemeinschaft Hessen und ihr Antrag zur Erteilung und Betreuung von islamischem Religionsunterricht im Lande Hessen, S. 93; Hess. VGH, Urteil vom 14.09.2005 - 7 UE 2223/04 -, juris). Sie mag unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehen. Vorhaltbare Erkenntnisse hinsichtlich einer Sicherheitsgefahr finden sich im letzten Verfassungsschutzbericht 2011 nicht. Eine Mitgliedschaft in der DITIP wird kaum als sicherheitsrelevant bezeichnet werden können, nachdem diese Religionsgemeinschaft neben der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Hessen eingebunden wird in den islamischen Religionsunterricht an den Schulen (vgl. Gießener Allgemeine, 08.03.2013 "Großer Schritt zum Fach Islamische Religion").

Abgesehen davon bleibt unverständlich, warum das Hessische Ministerium des Innern und für Sport sich am 26. Januar 2012 gegenüber der Ausländerbehörde des Beklagten die Zustimmung zur Erteilung des Aufenthaltstitels vorbehält, dann aber in den nächsten Monaten auch im gerichtlichen Verfahren keine konkreten Erkenntnisse hinsichtlich einer Sicherheitsgefährdung durch den Kläger vorlegt. Am 12. Dezember 2008 hat das Ministerium noch gegenüber der Ausländerbehörde erklärt, dass keine gerichtsverwertbaren Erkenntnisse der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegenstehen. Es wird nicht erläutert, inwiefern sich die Situation seitdem verändert haben soll. Gerichtsverwertbare Erkenntnisse wurden bis heute nicht vorgelegt. Die vom Ministerium geforderte Sicherheitsbefragung des Klägers im September 2012 hat solche Erkenntnisse nicht erbracht. Eine anderslautende Stellungnahme zu dieser Sicherheitsbefragung geben weder der Beklagte noch das Hessische Ministerium des Innern und für Sport ab. Auch die Auskünfte des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen (in der Behördenakte) bleiben in Bezug auf eine konkret und individuell vom Kläger ausgehende Gefahr vage. [...]