LSG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.12.2012 - L 15 AY 4/09 - asyl.net: M20548
https://www.asyl.net/rsdb/M20548
Leitsatz:

Zu den Voraussetzungen der Gewährung von Leistungen nach § 2 AsybLG.

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Einreise um Sozialhilfe zu erlangen, Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts, Aserbaidschan, Armenier, Analogleistungen, abgesenkte Leistungen, staatenlos,
Normen: AsylbLG § 2, AsylbLG § 1a, AsylbLG § 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Die Gewährung von Leistungen nach § 2 AsylbLG im somit verbleibenden Zeitraum wird des Weiteren nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein Tatbestand des § 1a AsylbLG erfüllt ist (s. auch dazu und zum folgenden BSG a.a.O.). Ob die Anwendbarkeit des § 1a AsylbLG durch die vom Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 u.a., NvWZ 2012, 1024) festgestellte Verfassungswidrigkeit der Höhe der Leistungen nach § 3 AsylbLG beeinflusst wird, kann deshalb offenbleiben.

Nach § 1a AsylbLG erhalten unter anderem Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG Leistungen nach dem AsylblG nur, soweit dies im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar geboten ist, wenn sie (1.) sich in den Geltungsbereich des AsylbLG Gesetzes begeben haben, um Leistungen nach diesem Gesetz zu erlangen, oder (2.) bei ihnen aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können.

Der erforderliche Nachweis, das heißt die mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, dass einer der beiden leistungsbegrenzenden Tatbestände vorliegt, ist nach dem Ergebnis der Ermittlungen nicht erbracht.

§ 1 Nr. 1 AsylbLG erfordert einen finalen Zusammenhang zwischen der Einreise und dem Bezug von Leistungen. Es muss mit anderen Worten der bestimmende oder gar einzige Zweck der Einreise gewesen sein, Leistungen nach dem AsylbLG zu erlangen. Ungeachtet des Umstandes, dass der Vortrag des Klägers oder jedenfalls seines Prozessbevollmächtigten zeitweilig ausdrücklich anders lautete, ergibt sich nach Anhörung der Zeugen und vor allem der nochmaligen ausführlichen Befragung des Klägers für den Senat, dass vieles dafür spricht, dass für den Kläger der Wunsch, in räumlicher Nähe zu seinen Söhnen - den Zeugen - zu leben und von diesen (auch materielle) Unterstützung zu erhalten, ein wesentlicher Grund für die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland war. Der Kläger hat dies bei seiner Befragung durch den Senat angegeben und damit der Sache nach das wiederholt, was er bereits bei seiner Befragung durch das Bundesamt im Februar 2002 mitgeteilt hat. Seine jetzigen Schilderungen waren detailreich und plastisch. Soweit er von früheren Ausführungen, im besonderen auch von denen, die er in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 16. Februar 2009 gemacht hat, abgewichen ist, ist dies kein Indiz dafür, dass seine jetzt gemachten Angaben zielgerichtet oder vorbereitet gewesen wären. Da der Kläger durch den Senat weitaus ausführlicher befragt worden ist, als es ausweislich des Sitzungsprotokolls des Sozialgerichts erstinstanzlich der Fall war, bieten die in der mündlichen Verhandlung vom 20. Dezember 2012 gemachten Ausführungen eine höhere Richtigkeitsgewähr. Nach dem persönlichen Eindruck, den der Senat anlässlich der Befragung vom Kläger gewinnen konnte, war dieser sich zu keinem Zeitpunkt bewusst, möglicherweise etwas zu sagen, was von dem abweicht, was er zu einem früheren Zeitpunkt aktenkundig mitgeteilt hatte, und damit seine eigene prozessuale Position zu schwächen. Er hatte zahlreiche Nachfragen seitens des Gerichts zu beantworten, die erst aufgrund seiner Aussagen entstanden und deshalb von ihm auch nur aus der Situation heraus beantwortet werden konnten. Bei Zahlenangaben bestätigte sich dabei das von seinem Prozessbevollmächtigten angegebene Unvermögen, ein gesprochenes Zahlwort auf Anhieb mit der richtigen geschriebenen Ziffernfolge zu verbinden.

Die Angaben der Zeugen sind für den Senat glaubhaft, an ihrer Glaubwürdigkeit ergaben sich ebenfalls keine Zweifel. Für zweckorientierte Aussagen, um die prozessuale Position ihres Vaters zu verbessern, ergab sich kein Anhaltspunkt. Im besonderen haben sie nichts vorgetragen, was hätte bestätigen können, dass der Kläger eingereist war, um in ihrer Nähe zu leben. Beide haben übereinstimmend angegeben, von seiner bevorstehenden Einreise nichts gewusst zu haben. Der Argumentation, es sei kein Versuch unternommen worden, die Familienmitglieder örtlich näher zusammenzuführen, sind sie mit der nachvollziehbaren Erklärung begegnet, dass dies bereits in ihrem eigenen Fall an der fehlenden Aufnahmebereitschaft der Gebietskörperschaften gescheitert sei, die dann auch etwaige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu erbringen gehabt hätten.

Besteht somit wenigstens eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Erlangung von Leistungen nach dem AsylbLG nicht der bestimmende Einreisegrund für den Kläger war, so wirkt sich die daraus folgende Nichterweislichkeit der Voraussetzungen des § 1a Nr. 1 AsylbLG nach den allgemeinen Grundsätzen der Beweislast zum Nachteil des Beteiligten aus, der aus der Rechtsnorm eine für sich günstige Rechtsfolge herleiten will, hier also des Beklagten.

Nicht erfüllt sind auch die Voraussetzungen des § 1 Nr. 2 AsylbLG. Der Kläger hatte keinen Grund zu vertreten, aufgrund dessen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden konnten. Der Senat hat keine Bedenken, der Auffassung des Verwaltungsgerichts Berlin in den dort anhängig gewesenen Verfahren zu folgen. Danach ist der Kläger staatenlos, so dass eine aufenthaltsbeendende Maßnahme allenfalls in Betracht gekommen wäre, wenn eine Ausreisepflicht in einen aufnahmebereiten Staat statuiert werden könnte.

Schließlich ist der Anspruch auf Leistungen in entsprechender Anwendung des § 2 AsylbLG auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger die Dauer des Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hätte.

In objektiver Hinsicht setzt der Rechtsmissbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Der Ausländer soll von der in § 2 AsylbLG vorgesehenen Vergünstigung ausgeschlossen sein, wenn er sie auf gesetzwidrige oder sittenwidrige Weise erworben hat. Angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG und der schwerwiegenden Folgen reicht nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Der Pflichtverletzung muss ein erhebliches Gewicht zukommen. Es muss sich um ein Verhalten handeln, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit). Die Gesetzesmaterialien nennen beispielhaft die Vernichtung des Passes und die Angabe einer falschen Identität (BT-Dr. 15/420, 121), es sei denn, diese Handlungen wären ihrerseits eine Reaktion auf oder eine vorbeugende Maßnahme gegen objektiv zu erwartendes Fehlverhalten des Staates, bei dem um Asyl nachgesucht wird - wie etwa eine rechtswidrige Zurückweisung bei der Einreise oder eine rechtswidrige Verweigerung der Einreise. Auf Rechtsmissbrauch kann sich der Staat somit dann nicht berufen, wenn er sich selbst rechtswidrig oder rechtsmissbräuchlich verhält.

Ausgehend von diesem Maßstab stellt sich nicht schon die zur Aufenthaltsverlängerung führende Nutzung der Rechtsposition als rechtsmissbräuchlich dar, die der Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung erlangt hat, wenn es ihm möglich und zumutbar wäre, auszureisen. Ein Rechtsmissbrauch liegt nicht in dem Nichtausreisen des Ausländers trotz (formaler) Ausreisepflicht (Duldung), sondern kann allenfalls auf den Gründen beruhen, die hierzu geführt haben. Der Tatbestand des § 1a Nr. 1 AsylbLG wird von § 2 AsylbLG von vornherein nicht erfasst. Das rechtlich missbilligte Verhalten muss außerdem mit der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes kausal verknüpft sein. Ein Rechtsmissbrauch kann deshalb nur vorliegen, wenn der Ausländer sowohl bezüglich der tatsächlichen Umstände als auch der Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts Vorsatz besitzt.

Betreffend das Tatbestandsmerkmal "Beeinflussung der Dauer des Aufenthalts" ist auf den gesamten Zeitraum des Leistungsberechtigten in Deutschland abzustellen. Ob der Rechtsmissbrauch selbst in diesen Zeitraum fällt, ist ebenso ohne Belang, wie, ob er aktuell andauert.

Ob eine kausale Verknüpfung zwischen dem Verhalten des Ausländers und der Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes besteht, beurteilt sich anhand einer typisierenden, generell-abstrakten Betrachtungsweise. Eine Ausnahme muss jedoch dann gemacht werden, wenn eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können, etwa weil die Erlasslage des zuständigen Innenministeriums eine Abschiebung ohnehin nicht zugelassen hätte.

Ausgehend hiervon ist dem Kläger kein rechtsmissbräuchliches Verhalten vorzuwerfen. An einem vorsätzlichen Verhalten fehlt es bereits deshalb, weil sich kein Beleg dafür findet, dass er gewusst haben könnte, dass sich ein dauerhaftes Abschiebungshindernis aus seiner Staatenlosigkeit ergeben würde. Ob dem Kläger - wie von ihm vorgetragen - der dem Schlepper ausgehändigte sogenannte "Inlandspass" entgegen seiner Erwartung nicht wieder ausgehändigt worden ist oder ob er auf andere Weise abhandengekommen oder vernichtet worden sein könnte, kann offenbleiben. Die Existenz dieses Dokuments hätte sich nicht auf die Dauer des Aufenthaltes auswirken können, da der Kläger unstreitig nicht die Staatsangehörigkeit der Russischen Föderation erworben hat und ebenso außer Frage steht, dass die Republik Aserbaidschan eine Staatszugehörigkeit nicht bestätigt hat. [...]